Im zweiten Teil unserer Februar-Reihe zum Thema Inklusion nimmt Lara Hielscher Cochlea-Implantate in den Blick: Welche Heilsversprechen werden mit dieser Technik verbunden und wie sind Cochlea-Implantate ethisch einzustufen?
Cochlea-Implantate, kurz CI genannt, gelten als Wunder der Medizin. Dank einer Operation können ertaubte Erwachsene und gehörlos geborenen Kinder (wieder) hören. Auf den ersten Blick scheint der Gedanke naheliegend, dass sich alle gehörlosen Menschen mit diesen Implantaten versorgen lassen sollten. Ich persönlich stehe dieser Haltung jedoch eher skeptisch gegenüber.
Aus medizinischer Perspektive kann ich das Wunderbare an der Technik der CIs durchaus verstehen. Bei einer minimal-invasiven Operation wird ein Silikonfaden mit Elektroden in die Gehörschnecke, die Cochlea, eingeführt. Ein Mikrofon, das wie ein Hörgerät hinter dem Ohr getragen wird, nimmt die Schallwellen auf und leitet sie zum Sprachprozessor weiter. Dort wird der Schall dank moderner Computertechnik in elektrische Impulse umgewandelt. Diese werden durch die Haut an das Implantat geleitet, wo die Elektroden in der Cochlea den Hörnerv elektrisch reizen. Ein Höreindruck entsteht. Dass es medizinisch möglich ist, den gesamten Schallleitungsvorgang des Ohres zu ersetzen, ist beeindruckend.
Mit Cochlea-Implantaten kann man keineswegs „normal“ hören.
Wo ist also das Problem? Entgegen der gängigen Vorstellung kann man mit CIs keineswegs normal hören. Die Vorstellung, ein gehörloser Mensch bekomme CIs, kann dadurch normal hören und alles ist gut, ist schlichtweg falsch. Das zeigt ein einfacher Zahlenvergleich: Während im Ohr circa 25.000 sogenannte Haarzellen die Schallwellen zu präzisen Geräuschen verarbeiten, muss diese Aufgabe bei CIs von 12 bis 120 verschiedenen Stimulationsorten übernommen werden. Die Höreindrücke, die ein CI ermöglicht, sind also entscheidend gröber als beim natürlichen Gehör. Dass Menschen mit CIs trotzdem Geräusche identifizieren und Lautsprache verstehen können, liegt an der enormen Leistungsfähigkeit des menschlichen Gehirns.[1]
Wenn ein erwachsener Mensch durch einen Unfall oder eine Erkrankung sein Gehör verliert, kann das Gehirn nach der CI-Versorgung auf sein akustisches Erinnerungsvermögen zurückgreifen. Er hat somit gute Chancen, den Anschluss an die Welt der Hörenden zurückzugewinnen.
Für Kinder, die gehörlos geboren sind, ist das Hören-Lernen mit Cochlea-Implantaten ein mühsamer Prozess.
Ganz anders sieht es bei gehörlos geborenen Kindern aus. Sie haben keinerlei akustische Vorerfahrung. Deshalb gibt es auch bei optimaler Förderung keine Garantie dafür, dass die CI-Versorgung den erhofften Erfolg bringt. Das Hören-Lernen mit CIs ist ein mühsamer Prozess, der sich über einige Jahre mit Hör- und Sprachtraining zieht.
Während die Hälfte der Kinder, die in den ersten Lebensjahren CIs erhalten, altersgemäß sprechen lernen, kann die andere Hälfte kurz vor ihrer Einschulung nur einzelne Wörter oder Zwei-Wort-Sätze sprechen.[2] Das kann kaum als gelungene Kommunikation bezeichnet werden.
Kommunikation ist aber eine wichtige Grundvoraussetzung für ein gelingendes Leben. Der Mensch ist von Gott als soziales Wesen geschaffen und für das soziale Miteinander ist Kommunikation eine notwendige Bedingung. Kommunikation aber braucht eine Sprache.
Was sagt die Aussage „Gehörlosigkeit muss man nicht hinnehmen“ über die gesellschaftliche Sicht auf Behinderung?
Die Diagnose, dass ihr Kind nicht hören und daher auch nicht ohne weiteres sprechen kann, ist für Eltern oft ein großer Schock. Wenn sie in dieser Situation von der Möglichkeit einer CI-Versorgung hören, klammern sie sich gerne an die Hoffnung, durch die CIs die Gehörlosigkeit ihres Kindes beheben zu können. Ein kaputtes Hüftgelenk oder ein fehlender Unterschenkel wird ja auch durch eine Prothese ersetzt. Um diese verzweifelte Hoffnung der Eltern wissen auch die CI-Hersteller und implantierende Kliniken, die ihre Produkte mit Sätzen wie „Gehörlosigkeit muss man nicht hinnehmen“[3] bewerben.
Dieser Satz ist falsch. Eltern, bei deren Kind eine Gehörlosigkeit festgestellt wurde, müssen diese grundsätzlich akzeptieren. CIs können die Gehörlosigkeit nicht heilen. Selbst wenn bei ihrem Kind der Lautspracherwerb optimal verläuft, ist es mit CIs immer noch ein hörgeschädigtes und kein normal hörendes Kind. In vielen Situationen wird es mit den CIs an seine Grenzen stoßen. Vor allem bei lauten Nebengeräuschen wie im Straßenverkehr oder auf einem Kindergeburtstag ist es schwierig, mit CIs ein Gespräch zu führen. Auch in Situationen, in denen das CI nicht getragen werden kann – nachts, unter der Dusche oder wenn es einmal kaputt ist –, werden sich CI-Träger*innen sehr deutlich ihrer Gehörlosigkeit bewusst.
Eine CI-Versorgung kann also eine Gehörlosigkeit nicht beheben. Trotzdem gibt es rund um das Thema eine große ideologische Diskussion. Eltern, die sich gegen eine Versorgung ihres Kindes entscheiden, werden mit dem Vorwurf konfrontiert, ihrem Kind viele Möglichkeiten im Leben zu verwehren. Angeheizt wird diese Diskussion dadurch, dass die hörende Majorität glaubt, Hören sei besser als Nicht-Hören, weshalb die CI-Versorgung der einzig richtige Umgang mit einer Gehörlosigkeit sei. Diese Vorstellung geht sogar so weit, dass einige CI-Befürworter*innen eine Verpflichtung zur Implantation gehörloser Kinder anstreben, zur Not auch gegen den Willen der Eltern.[4] Man spricht dabei vom CI-Zwang.
Um sozial dazuzugehören, brauchen wir Kommunikationsmittel. Die Lautsprache ist nur eines unter vielen.
Bezüglich der Frage, ob Eltern eine ethische Verpflichtung haben, ihr Kind mit CIs versorgen zu lassen, habe ich mich mit der „Liste der zentralen Fähigkeiten“ der Ethikerin Martha Nussbaum auseinandergesetzt. Für sie sind diese Fähigkeiten die notwendigen Grundlagen eines guten Lebens. Eine zentrale Fähigkeit ist soziale Zugehörigkeit. Für diese Zugehörigkeit braucht der Mensch ein Kommunikationsmittel, eine Sprache. Das muss aber nicht zwingend die Lautsprache sein. Entgegen der Vorstellung der meisten Menschen ist also nicht nur eine CI-Versorgung und der angestrebte Lautspracherwerb, sondern auch die Entscheidung gegen diesen Eingriff und für die Gebärdensprache als Alternative für Lautsprache Grundlage eines guten Lebens. Auch gehörlose Menschen können ein glückliches Leben führen. Es gibt also keinen ethischen Zwang, seinem Kind CIs implantieren zu lassen.
Es gibt sogar gute Gründe, sich gegen den Eingriff zu entscheiden. Wenig erforscht ist zum Beispiel, welche psychischen Auswirkungen es auf ein Kind hat, wenn es trotz größter Anstrengungen nach einer CI-Versorgung keine ausreichende Lautsprache entwickelt. Dies ist vor allem dann hochproblematisch, wenn Eltern ausschließlich auf die CIs gesetzt haben.
Dass eine fehlende Sprachentwicklung die kindliche Entwicklung bedroht, haben auch die Kliniken und CI-Zentren erkannt, die mittlerweile bei einer CI-Versorgung eine bilinguale Erziehung aus Lautsprache und Gebärdensprache als optimale Förderung empfehlen.
Es muss in unserer Gesellschaft auch akzeptiert sein, wenn Eltern sich gegen ein Cochlea-Implantat entscheiden.
Bei der Frage nach dem richtigen Umgang mit der Gehörlosigkeit müssen viele verschiedene Gesichtspunkte beachtet werden. Das A und O ist dabei, dass die Eltern lernen, die Gehörlosigkeit ihres Kindes zu akzeptieren, anstatt sie mit allen Mitteln bekämpfen zu wollen. Deshalb halte ich selbst die bilinguale Förderung für einen fraglichen Kompromiss. Denn auch hierbei wird die CI-Versorgung als zwingend notwendig angesehen. Man befindet sich weiterhin im Modus, die Gehörlosigkeit heilen zu wollen.
Nicht viele Eltern entscheiden sich gegen ein CI, nicht zuletzt deshalb, weil es eine Entscheidung gegen den Mainstream ist. Aber in einer Gesellschaft, die auf christlichen Werten beruht und die Inklusion als Leitbild ihrer Politik ausgerufen hat, muss es möglich sein, dass Eltern sich gegen den Normalisierungsdruck und stattdessen für die Akzeptanz der Gehörlosigkeit ihres Kindes entscheiden können, ohne dass sie von Ärzt*innen oder Mitarbeiter*innen des Jugendamtes wegen Kindeswohlgefährdung angezeigt werden.
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Zur Autorin: Lara Hielscher hat Förderschullehramt mit dem Unterrichtsfach Katholische Religion an der Goethe-Universität Frankfurt am Main studiert. In ihrer Abschlussarbeit „Cochlea-Implantate in ethischer und inklusionstheoretischer Sicht“ beschäftigte sie sich mit der Frage, ob Eltern eine ethische Verpflichtung haben, ihre gehörlos geborenen Kinder mit Cochlea-Implantaten versorgen zu lassen. Die Arbeit wurde im November 2019 eingereicht.
Bild: Zoe Graham auf unsplash.com
[1] Deutsches HörZentrum Hannover (Hrsg.), So hört man mit einem CI, verfügbar unter: https://www.hoerzentrum-hannover.de/hoersystem-und-CIe/das-CI/so-hoert-man-mit-einem-ci/ (Abruf am 14.01.2020).
[2] Szagun, Gisela, Wege zur Sprache. Ein Ratgeber zum Spracherwerb bei Kin-dern mit Cochlea-Implantat, Lengerich 2012. S. 30.
[3] Hoth, Sebastian und Markus Landwehr (Hrsg.), Das Cochlea-Implantat. Information für unsere Patienten, verfügbar unter: https://www.klinikum.uni-heidelberg.de/fileadmin/hno/hoerzentrum_RN/Cochlear_Implantat/150212HNO_BR_SS_CochlearImplantat_ID19549.pdf (Abruf am 14.01.2020).
[4] Müller, Sabine und Ariana Zaracko, Haben gehörlose Kleinkinder ein Recht auf ein Cochleaimplantat? In: Nervenheilkunde 29 (2010) 4. S. 244-248.