Im Jahr 2015 legte die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland als erste Landeskirche unter diesem Titel ein Förderprogramm für andere Gemeindeformen auf. Inzwischen gibt es 59 Erprobungsräume und ähnliche Prozesse in anderen Landeskirchen. Thomas Schlegel denkt als Projektleiter über einen Leitbegriff gegenwärtiger Kirchenentwicklung nach.
Bei manchen klingelt es, wenn ich Erprobungsräume mit den „Fresh Expressions of Church“ vergleiche. „Ach so!“, Schublade auf – Erprobungsräume rein. Aber halt! Ich finde, man sollte sie noch ein bisschen draußen lassen: Einmal drehen und wenden – dann bitte gerne das Schubfach schließen. Also einmal drehen und wenden gefällig?
die Erfahrung im Hintergrund: das Ende der selbstverständlichen Kirchlichkeit
Natürlich sind sich Fresh Expressions und Erprobungsräume sehr ähnlich. Beide wollen Neuland erkunden. Wollen ausloten, wie Kirche anders geht. Wie Menschen heute zu erreichen sind. Es braucht dafür Energie, Kreativität und eine große Portion Wagnis. Und beide teilen eine Erfahrung im Hintergrund: Das Ende der selbstverständlichen Kirchlichkeit – mit ihren Folgen. Dass unsere westliche Kultur nicht automatisch eine christliche ist, hat vor Jahren noch Debatten ausgelöst. Heute ist es die Basis kirchlichen Handels.
Man könnte also sagen: Erprobungsräume gehören nicht in die Schublade „Fresh Expressions“; Denn „Fresh Expressions“ sind keine Gattung, sondern ihrerseits ein Exemplar. Eine Form sozialer Innovationen in der Kirche – oder einfach Kircheninnovationen. Und dort gehören auch andere regionale Ausprägungen hinein; wie z.B. die Pioniersplekken in den Niederlanden. Die deutschen Versionen sind jedenfalls späte Ausprägungen dieser Gattung. Deswegen verwundert es auch nicht, dort Spuren anderer Exemplare zu entdecken.
Kircheninnovationen
Erprobungsräume: so haben wir die Kircheninnovationen zuerst in Mitteldeutschland genannt. In Erinnerung an Ernst Lange und an andere Erprobungen in deutschen Kirchenlandschaften – die allerdings häufig juristisch definiert wurden. Welches Potential in dem Begriff steckt, haben wir erst nach und nach begriffen. „Erproben“ verleiht den Kircheninnovationen drei eigene Noten:
1) Zunächst einmal verweist Erproben darauf, dass man etwas herausfinden möchte. Ob es so geht wie gedacht, wo die neuralgischen Punkte liegen und was zum Gelingen beiträgt. Im Alltag erprobt man ständig, meist intuitiv: Im Haushalt, im Restaurant, beim Einkaufen – funktioniert das? Schmeckt das? Passt das? Die Lösung wird nicht durch detaillierte Vorab-Analysen gefunden, sondern durch das Probieren. Erproben ist eine heuristische Strategie zum Lösen von Problemen, ein Lernprozess. Wenn Kirche erprobt, gibt sie also zu, dass es in ihrem Getriebe knirscht – und dass sie das Schmiermittel nicht griffbereit hat. Kann Kirche sich dazu bekennen? Ihr Gestus ist oft ein anderer. Wir erleben es als befreiend, zuzugeben, nicht mehr weiter zu wissen – es aber probieren zu wollen. Diese Haltung markiert den Anfang der Erprobungsräume. Immer wieder. Auch 2022 noch.
befreiend: zuzugeben, nicht mehr weiter zu wissen – es aber probieren zu wollen
2) „Aber irgendwann geht das in Serie! Dann ist der Prototyp ausgereift und wird in das kirchliche System integriert.“ Solche Meinungen bekommen wir oft zu hören. Und ja, bei einem Auto oder einer Heckenschere geht das so. Unbestritten werden manche Ansätze aus den Erprobungsräumen kopiert und diffundieren in das Normalsystem. Aber dennoch ist dieses Verständnis ein verkürztes, (kein falsches). Es ist noch zu sehr dem Modelllernen verhaftet, fußt auf Integration des Neuen, nicht auf Transformation des Ganzen.
Denn das Erproben als Phänomen muss weiter gefasst werden. Es steht für eine Einstellung, eine Haltung zur Welt um uns herum. Da diese nicht offen und fertig vorliegt – ja, sich ständig wandelt –, benötigt es das permanente Testen und Durchspielen von Ideen, Lebensentwürfen und Optionen. Menschen pflegen heute ein »experimentelles Selbst- und Weltverhältnis«, ein Leben auf Probebasis, »um sich vorzufühlen«[1]. »[F]ast möchte man sagen, die Modernität des Zeitalters und der Geist des Experimentellen seien ein und dasselbe.«[2]
„Alle Gestaltung bewegt sich … in einem Raum unabschließbarer Potentialität.“
Die erprobende Vorgehensweise der darstellenden Kunst in ihrem Versuch, Dinge immer wieder anders und neu zu sehen, Farben zu variieren, Rahmungen aufzulösen und Abstraktionen voran zu treiben, kann als Inbegriff eines zeitgenössischen Lebensstils verstanden werden. Keine Darstellung ist hinreichend, endgültig, definitiv: »Kein Kunstwerk ist das Kunstwerk, kein Stil der Stil, kein Ansatz der Ansatz. Alle Gestaltung bewegt sich … in einem Raum unabschließbarer Potentialität.«[3]
Kann Kirche derart re-framed, neu gerahmt werden? Als Hort des Bewährten, mit jahrhundertalten Geschäftsmodellen und einer Institution, die den störungsfreien Regelablauf gewährleisten soll, scheint das undenkbar. Andererseits gibt es genügend Bilder, die Kirche als lebendigen Organismus in Bewegung sehen: Die Rede vom wandernden Gottesvolk, „Kirche auf dem Weg“ etc. Theologische Vision reibt sich mit faktischer Organisation. Erprobungsräume stehen auch für diese Reibung; für die Sehnsucht, unterwegs zu sein, wandelbar, flexibel und lebendig. Und für eine Erinnerung an das protestantische Prinzip: Kirche muss sich immer wieder re-formieren.
Theologische Vision reibt sich mit faktischer Organisation.
3) Selbstredend, dass bei einer solchen Reise das Ziel nicht klar definiert werden kann: Das allerdings verlangt die übliche Projektlogik. Und die Mittelvergabe über Förderrichtlinien, die Evaluation anhand von Kriterien usw. Meilensteine, Jahresziele, Terminplanung: Kann das Erproben vor Ort derart schematisch laufen? Was Besucher unserer Erprobungsräume oft beeindruckt: „Das Fahren auf Sicht“, die Offenheit. „Die wissen ja gar nicht, was nächstes Jahr ist.“. Ja, das wissen sie oft nicht. Kann eine Institution sich so etwas leisten, ja es sogar gezielt fördern? Das Bemühen der Erprobungsräume markiert auch hier ein Spannungsfeld: Das nicht Vorgesehen-Sein der Störung – aber das Wissen um ihre Notwendigkeit. Ich vermute, Kirchensteuerung bewegt sich immer in diesem Feld. Es bleibt ein Balanceakt. Das Erproben allerdings weist auf die unplanbare, unsichere Situation des Kirche-Seins – und versucht, in der Verwaltungslogik diese offene Flanke dauerhaft zu kultivieren.
Projektlogik, Meilensteine, Jahresziele, Terminplanung – oder „Fahren auf Sicht“?
Erprobungsräume versuchen also, Kircheninnovation und Erproben zu kreuzen. Da stellt sich dann schon die Frage, was die einzelnen Initiativen zu Kirche macht. Bei all der Fluidität und Offenheit. Wird das Ganze nicht allzu unverbindlich? Wir versuchen das Kirche-Sein nicht über formale Kriterien zu beschreiben, sondern über inhaltliche: Gemeinschaft, Evangelium, Dienst, Spiritualität. Vereinfacht: Nicht, wie Kirche aussieht, sondern was „drin“ ist, entscheidet. Statt juristischen und traditionellen Argumenten wird auf theologische Merkmale gesetzt. Aber hier wird es schon wieder unscharf. Wer will genau beurteilen, ob „Spiritualität einen zentralen Raum“ einnimmt (Kriterium 7)? Aber vielleicht ist das „genaue“ Beurteilen gar nicht so wichtig. Denn Schubladendenken versucht, Dinge in den Griff zu bekommen; Wo das unmöglich ist, nötigt es zum Aushalten der Unverfügbarkeit. Und das wiederum passt gut zu einer erprobenden Haltung. Es geht um Vertrauen. Von daher ist für Kirche das Entscheidende, dass das relationale Kriterium stimmt: Dass sie an der Seite ihres Herrn unterwegs ist – in allen Veränderungen.
—
Kirchenrat Dr. Thomas Schlegel leitet das Referat Gemeinde und Seelsorge im Kirchenamt der Evangelischen Kirche Mitteldeutschlands in Erfurt. Vorher war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung in Greifswald und Referent am Zentrum für Mission in der Region der EKD.
Bild: „Man sieht sich“ in Halle/Silberhöhe, Ev. Kirche in Mitteldeutschland
[1] Gamm, Gerhard, Im Zwielicht des Versuchs. Experimentieren in Philosophie und Wissenschaften, in: Ders./ Kertscher, Jens (Hrsg.), Philosophie in Experimenten. Versuche explorativen Denkens, Bielefeld 2011, 15-33, 29.
[2] Gamm, Gerhard/Kertscher, Jens, Eine Reihe schöner Experimente, in: Dies. (Hrsg.), Philosophie in Experimenten. Versuche explorativen Denkens, Bielefeld 2011, 9-14, 10.
[3] Welsch, Wolfgang, Die Geburt der postmodernen Philosophie aus dem Geist der modernen Kunst, in: Ders., Ästhetisches Denken, 5. Aufl., Stuttgart 1998, 79-113, 91.
Zum Weiterlesen: Thomas Schlegel / Juliane Kleemann (Hg.), Erprobungsräume. Andere Gemeindeformen in der Landeskirche, Leipzig 2021.