Sebastian Preylowski stellt den kreativen Umgang mit der Theodizee-Frage im katholischen Religionsunterricht des 11. Jahrgangs am halleschen Elisabeth-Gymnasium (ELG), einer Schule der Edith-Stein-Schulstiftung des Bistums Magdeburg, vor.
Als katholische Schule bietet das ELG in allen Jahrgängen neben katholischem und evangelischem Religionsunterricht auch Ethik als ordentliches Lehrfach an. Damit wird die in Sachsen-Anhalt gewollte Gleichrangigkeit der Fächer im „Fachbereich Religion-Ethik“ abgebildet und für eine Wahlfreiheit in der konfessionell heterogenen Schülerschaft gesorgt. Von Anfang an ist am ELG die stark säkularisierte und religiös indifferente Wirklichkeit ins Schulhaus geholt worden1. So lautet die Formel aus der Gründungszeit der Schule: Im ELG lernen katholische und evangelische Christ:innen gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen, die konfessionell ungebunden sind.
Dabei sind Katholikinnen und Katholiken wie Protestantinnen und Protestanten schon keine homogenen Gruppen. Bereits in der Elterngeneration leben in den halleschen Gemeinden Christ:innen mit sehr unterschiedlichen Lebens- und Kirchenerfahrungen aus ost- und westdeutsch geprägten Biografien. In der Altersgruppe der heutigen Schülerinnen und Schüler jedoch sind über 30 Jahre nach der friedlichen Revolution alle Varianten gesellschaftlicher Individualisierungs- und Pluralisierungsprozesse angekommen.2
Konfessionslosigkeit als Normalfall.
Damit besteht eine Lerngruppe des katholischen Religionsunterrichts in der Oberstufe des ELG zumeist aus wenigen gemeindlich sozialisierten und engagierten Schülerinnen und Schülern und vielen, die ohne kirchliche Bindung sich noch offen für Fragen nach Religion, Christentum und Religiosität zeigen. Umgeben sind sie alle von einer gesellschaftlichen Haltung, die Religion grundsätzlich im Privaten verortet und existentielles Fragen sowie religiöses Suchen in einen multioptionalen Angebotsraum verweist, in dem für nicht wenige eine gewisse Beliebigkeit herrscht. Ulrich Kropač und Miriam Schambeck nannten dies kürzlich treffend „Konfessionslosigkeit als Normalfall“3. Der Religionsunterricht – vielleicht gerade – an einer katholischen Schule in Mitteldeutschland steht somit vor der Aufgabe, mit dieser großen Diversität konstruktiv umzugehen, jungen Menschen – in diesem Fall jungen Erwachsenen – im Hinblick auf ihre Religiosität authentische Orientierung anzubieten. Dabei eröffnen sich Möglichkeiten eines qualitativ hochwertigen Dialogs über religiöse und weltanschauliche Themen sowie existenzielle Fragen, auf die Theologie-Profis genauso wenig eine abschließende Antwort präsent haben wie die Heranwachsenden.
Die Frage nach der Theodizee, nach der Rechtfertigung Gottes angesichts des in der Welt begegnenden Übels, ist eine solche existenzielle Frage, ganz besonders in Zeiten großer Verunsicherung und unscharfer Zukunftsaussichten. Wie können Menschen angesichts des Überfalls Russlands auf die Ukraine oder des Terrors gegen Israel, angesichts von sinnlosem Töten und Verwunden an vielen anderen Orten auf dieser Welt, von einem Zukunft unwägbar machenden Klimawandel und von ungeklärten Pandemieerfahrungen auf einen guten und gerechten Gott hoffen? Der Religionsunterricht wird keine fertigen Antworten liefern dürfen, aber kann einen Raum anbieten, in dem Perspektiven auf diese Fragen diskutiert und kreativ verarbeitet werden.
Eingeladen zum Theologisieren.
In einer breit angelegten Unterrichtssequenz stellten sich zwanzig Schülerinnen und Schüler des 11. Jahrgangs also dieser Theodizee-Frage. Eingeladen zum Theologisieren schauten sie sich verschiedene traditionelle Antwortversuche wie den von Augustinus oder den von Leibniz an. Nach dieser eher theologiegeschichtlichen Analyse mit den notwendigen Hinweisen auf eine Kritik an den erarbeiteten Ansätzen blieb eine Unzufriedenheit zurück. Die fachwissenschaftliche Auseinandersetzung half zwar bei der Orientierung, löste aber die emotionale Spannung bei den Lernenden nicht auf. Ich kann mich noch sehr gut an die Frage eines Schülers erinnern, wie wir die Theodizee-Frage denn nun „zum Ende“ führen wollten, dies könne doch jetzt nicht der Abschluss des Themas sein.
Eine mögliche Strategie, Theologie zu betreiben und Resilienz zu stärken, bietet eine künstlerische Arbeit. So sollte „am Ende“ dieser Sequenz ein emotional verarbeitendes Angebot an die Schülerinnen und Schüler stehen, das ihnen erlaubte, ihr Denken und Empfinden mit einer Erfahrung des Selbst-wirksam-Werdens zu verknüpfen. Angeregt durch eine Unterrichtsidee in „Religion betrifft uns“4 machten sich Kleingruppen daran, Poetry-Slams zu ihrer jeweiligen Interpretation der Theodizee zu entwickeln. Erlaubt, ja erwünscht war, den Gedanken und Emotionen freien Lauf zu lassen. Die Schülerinnen und Schüler nutzten die Option in einer zuvor nicht gehofften Intensität. Es entstanden Texte mit einer tiefgreifenden, auch theologischen Auseinandersetzung, die nach der Präsentation für alle erfasst und als kleines Booklet zur Verfügung gestellt wurden. Dabei lassen sich in den Arbeiten der Schülerinnen und Schüler zwei Schwerpunkte erkennen, wie die Frage(n) nach Gott und dem Leid interpretiert wurden. Diese sollen hier exemplarisch vorgestellt werden.
Warum gibt es Leid? (Karla, Vik, Benedikt, Gero, Oliver) Wir schauen Nachrichten und sehen es herrscht Krieg, Menschen, die weinen und leiden, während wir deinen Namen preisen. Wie kann es sein, dass wir über Belanglosigkeiten streiten und Menschen ihr Leben verlieren, obwohl wir doch gleich sind? Warum leiden Kinder im Kriegsgebiet unter Wasserdefizit und sterben in brennenden Häusern durch Kohlenmonoxid? Wenn du der bist, der alles sieht, wieso ist das Leid so ungerecht verteilt und das ganze scheinbar so von dir erteilt? Ich begreif es nicht, deshalb frag ich dich: Warum Sünde und Leid? Du gabst uns eine Antwort, also forder ich dich, dass ihr gespannt zuhört. Schon seit Beginn unserer Zeit soll die Erbsünde Ursprung sein für all das Leid? Und das nur weil Adam und Eva die verbotene Frucht aßen und dabei ihre Nachfahren vergaßen? Nein! So darf das nicht sein. Ich will nicht ausbaden, was andere zur Verantwortung haben und mir damit schaden. Ich will nicht sehen, wie Kriege entstehen und dabei zahlreiche Leben nehmen. Durch Frucht entsteht Frust. Und sag nicht, dass du das musst… Gott Du bist doch allmächtig. Also beweise deine Barmherzigkeit und mach diese Welt wieder prächtig. Oder willst du das nicht? Ich frag mich, erkenn ich dich? Wir lernen seit unserer Kindheit über dich, lernen, du hast kein Gesicht, aber auf wen soll ich sonst wütend sein, wenn auf der Welt alles falsch läuft, frag ich mich? Bitte führe uns doch auf unseren verlorenen Wegen ins Licht, denn grad fühlt es sich an, als ob mein gut behütetes Leben zerbricht. Komm doch endlich wieder und sprich, und sag uns, gibt es dich? Denn grad wirkt es so, als lässt du uns alle im Stich Ich bitte dich, jetzt nicht zu gehen, denn erinnerst du dich noch an den Segen? Den, den du mir gabst, nicht eben, aber kannst du ihn noch sehen? Auch wenn ich ständig klage, jeden verdammten Tag im Überfluss bade, während nur wenige Kilometer entfernt Menschen im Elend leben, frag ich dich, kannst du mir vergeben? Kannst du mir helfen meine Hände zu regen? Und anfangen zu reden. Das Leid zu verstehen und für mich und andere Menschen zu leben. Vielleicht ist es unsere Pflicht, dem Leid zu sehen ins Gesicht. Menschen in Not zur Hilfe eilen und somit deine Güte zu verteilen. Deinen Willen walten lassen, dadurch das Leid erblassen, Kriege und Leiden zu verhindern und somit andrer Schmerzen lindern, wenn wir Menschen es gemeinsam schaffen, dann hast du uns doch nicht verlassen.
Karla, Vik, Benedikt, Gero und Oliver betiteln ihren Text mit der Frage „Warum gibt es Leid?“. Damit fokussieren sie ihre Gedanken auf den Ursprung des Leids. Sie gestalten einen Dialog mit Gott – jedoch ohne es bei einer Anklage Gottes zu belassen. Stattdessen drehen sie während des Gesprächs die theologische Perspektive um in eine anthropologische. „Wir haben uns verschiedene Fragen gestellt und abgearbeitet. Dabei steht zu Beginn die Frage im Raum, warum es Leid durch Krieg gibt und wie Gott sich verhält.“
Die Gruppe hinterfragt den Ursprung und die Geschichte des Leids und nimmt die zuvor in der Unterrichtssequenz reflektierte Erbsünden-Lehre auf. Ausgehend von der Prämisse, das Leid gehe aus der Erbsünde hervor, erscheint es der Gruppe unzumutbar, dass „eine riesige Masse an Menschen dieses Leid nachleiden, obwohl Adam und Eva dafür verantwortlich sind“. Hier steht für die Gruppe zunächst der Zweifel an Gott im Mittelpunkt, weil das Bestehen des Leids als Untätigkeit Gottes assoziiert wird. Im Text entwickelt sich nun ein Gespräch mit Gott, welches mit der Bitte zur Veränderung beginnt und schließlich in die Bitte um eine Vergebung mündet. Die Schülerinnen und Schüler hinterfragen selbstkritisch, inwieweit sie selbst involviert sind, was sie als Menschen selbst gegen das Leid in der Welt tun können. Die Frage wird zwar nicht beantwortet, sie führt aber zu der Perspektive, die eigene Verantwortlichkeit für das Leid in der Welt zu reflektieren.
Leid und Gott (Ben, Nils, Tom, Vincent) Ist mein Gott gerecht? Für die meisten von uns ist das gar keine Frage mehr. Die Antwort scheint so klar, jeder Widerspruch leer. Natürlich ist er das. Das ist was jeder von uns hörte und las. Aber doch manchmal zweifelt man an dieser scheinbaren Wahrheit. Denn wenn dieser Glaube das Leben trifft, ist die Antwort dann so leicht? Dann reicht kein Psalm, kein Vers, keine einstudierte Antwort. Und ich stelle mich ernsthaft mal der Frage: Ist mein Gott gerecht? Denn wie kann er das überhaupt sein, wenn so eine Welt existiert? Wie kann es sein, dass du, Gott, das einfach so akzeptierst? Täglich widerfährt Unschuldigen höllisches Leid. Hörst du nicht ihre flehenden Gebete und siehst nicht ihr zerfetztes Kleid? Hast du nicht die Welt als gute geschaffen? Täglich wüten Kriege, bist du etwa der Gott der Waffen? Und nein, es liegt nicht alles an der menschlichen Sünde. Denn auch durch die Natur gehen so viele Menschen zu Grunde. So frag ich mich: Ist mein Gott gerecht? Und manchmal zweifel ich dran, ob du überhaupt da bist. Meine Gebete ohne Antwort, liebst du mich denn nicht? Wenn ich glauben soll, dass du Wunder vollbringen kannst, wie ist es, dass du nie zur Rettung gelangst? Und ich merke diese Frage kreuzt schon so viele Leben. Doch Augustinus, Leibniz und die Psalmisten können mir alle nicht die Antwort geben auf die Frage Ist mein Gott gerecht? Und es wird klar, dass diese Frage keine eindeutige Antwort hat. Denn das Vertrauen auf den verborgenen Gott ist, was den Glauben macht. Und so sind vielleicht wir die auf Gott Vertrauenden die Werkzeuge der Gerechtigkeit. Oder vielleicht leben wir auch in einer gottverlassenen Welt in ewiger Grausamkeit. Denn letztendlich muss jeder die Frage selbst beantworten, also frag ich dich: Ist dein Gott gerecht?
Ben, Nils, Tom und Vincent orientieren sich bei ihrem Poetry-Slam an der Rolle Gottes im Hinblick auf das Leid. Sie stellen die Frage „Ist mein Gott gerecht?“ und rufen diese wiederholt, ähnlich einem Mantra, auf. Die Schüler-Gruppe kommentiert ihren Text wie folgt: „Während der Reflexion kommen Zweifel [bei unserer Frage] bei uns auf, denn in Anbetracht des Übels und Leids auch gegenüber Unschuldigen, erscheint die Lehre vom gerechten, guten Gott als leeres Dogma. Auch einen Erklärungsversuch über die menschliche Sünde stellen wir infrage, da auch Naturkatastrophen der vermeintlich gut erschaffenen Welt Leid hervorbringen. Als weitere Schwierigkeit im Glauben gehen wir auf die scheinbare „Funkstille“ zwischen Mensch und Gott ein, wenn unsere Gebete unbeantwortet bleiben. Abschließend wollen wir jedoch die Frage an den Leser weitergeben, die Frage unbeantwortet lassen und unter anderem eine Perspektive von einem verborgenen Gott geben, der durch die vertrauenden Menschen agiert.“
Die Arbeiten der Schülerinnen und Schüler dokumentieren eine intensive Auseinandersetzung. Sie greifen vielfältige Beobachtungen zum Leid in der Welt auf und reflektieren diese prägnant mit klarem Bezug auf das jeweils persönlich sagbare Verhältnis zu dem, was für die Schülerinnen und Schüler Gott ist. Diese tiefgründige Art der Auseinandersetzung ist für Heranwachsende in einer Region, in der Gott besonders fremd zu sein scheint, eine zu würdigende Leistung und beweist ein geistiges Wachsen. In der gemeinsamen Abschlussrunde kamen die Schülerinnen und Schüler zu dem Schluss, dass auch weiterhin die Theodizee-Frage nicht beantwortet werden kann, allerdings laden sie die Leserinnen und Leser ihrer Texte ein, diese Frage nachhaltig weiter zu stellen und zu reflektieren.
In diesem Sinne bilden die Entwürfe der Schülergruppen eine Inspirationsquelle für alle, die auf vergleichbare Weise in Krisenzeiten großen Fragen nachgehen, diese mit junge Menschen bedenken und religiöse Deutungen in ihrer Tragfähigkeit erproben wollen.
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Bild: Tree von Xavier Lavin Pino auf Pixabay
- Während evangelische Einwohnerinnen und Einwohner von Halle bei den letzten zur Verfügung stehenden Zahlen von 2018 den Prozentsatz von 11,9 % erreichten, kam die Zahl der Katholikinnen und Katholiken gerade mal auf 3 %. ↩
- Vgl. Mingenbach, Diakonisch-dialogisch – Einblicke in das „religionspädagogische Laboratorium“ am katholischen Elisabeth-Gymnasium Halle, in: Saskia Eisenhardt, Kathrin S. Kürzinger, Elisabeth Naurath, Uta Pohl-Patalong, Religion unterrichten in Vielfalt. Konfessionell – religiös – weltanschaulich. Ein Handbuch, Göttingen 2019, S. 309f. ↩
- Kropač, Ulrich/Schambeck, Mirjam (Hg.): Konfessionslosigkeit als Normalfall, Religions- und Ethikunterricht in säkularen Kontexten, Freiburg im Breisgau, 2022. ↩
- Judith Föcker, Hiob. Poetry-Slam: „Wo ist dein Gott?“ = Religion betrifft uns 2/2018. ↩