Stefan und Claudia Gärtner haben ein theologisches Buch über die Zeit geschrieben – und dies aus der Perspektive der Kunst. Viera Pirker hat sich in „Was die Stunde schlägt“ vertieft und blickt anhand von Kunstwerken auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Und sie kontrastiert dies mit den Zeiterfahrungen der Coronazeit.
Zeit haben wir 2020 neu erfahren, zerdehnt, beschleunigt, unaufhaltsam. Neue Einheiten haben wir gelernt: drei Minuten Fenster öffnen im Winter, fünf im Herbst – wie lang verbleibt ein Aerosol im Raum – wie geht ein ganzer Arbeitstag zu fünft daheim – 14 Tage Quarantäne oder doch nur 10 – gefährdeter Kontakt ab 10 Minuten – Testergebnis 36h.
Die Zeit, an sich ein neutrales Geschehen, ist zutiefst aufgeladen von individueller und gemeinschaftlicher Erfahrung:
Mit solchen neuen Erfahrungen blickt ein ziemlich neues Buch schon zurück auf eine „alte Zeit“: Im Januar 2020 ist diese „theologisch-ästhetische Zeitansage mit Kunst“ aus der Feder von Claudia und Stefan Gärtner erschienen, in einer gefühlt anderen Welt. Zeitenwende, Zeitansage, ganz normaler Lauf der Zeit? In welchen Bildern und Werken werden die Gefühle und Erfahrungen, die „historische Zeit“ (Umberto Eco) dieses besonderen Jahres dereinst gespeichert und bewahrt? Die Zeit, an sich ein neutrales Geschehen, ist zutiefst aufgeladen von individueller und gemeinschaftlicher Erfahrung: Künstler*innen reagieren und reflektieren auf die Phänomene der Zeit, und die Theologie kann durch das Erschließen der entstehenden Werke eine neue Zeitwahrnehmung und Gegenwartserfahrung entwickeln. Was schlägt also die Stunde?
Kunstwerke dienen als Kompass und Ankerpunkte auf einem Weg durch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Kunstwerke dienen in diesem Buch als Kompass und Ankerpunkte auf einem Weg durch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Im begleitenden Text werden diese Kunstwerke als Inspiration, in ihrer Eigenständigkeit, auch mit Blick auf Herstellung Materialität und Ideen Geschichte dargestellt und mit theologischen sowie religionssoziologischen und psychologischen Phänomenen und Beobachtungen verknüpft. Ein Zitat von Jörg Herold könnte als Programm des ganzen Buches gelten: Er beschreibt Kunst als „Expedition ins Unbekannte, mit dem Ziel einer kritischen, aber aufgeschlossenen Reflexion, der Grundlage für Erkenntnis. Habt den Mut, nach der Wahrheit im Glauben des anderen zu suchen.“ (51)
Jeder Zeitdimension sind fünf Abschnitte gewidmet, hier greife ich je einen exemplarisch heraus.
Es eröffnet sich ein theologischer und fotografischer Tiefgang in postsäkulare Religiosität und ihre Bedeutung.
Vergangenheit: Tief tauche ich ein in das Kapitel „Sehnsucht nach dem Gestern“, welches sich entlang der vollkommen zeitenthobenen fotografischen Serie „Combray“ von Elger Esser entlang schmiegt. Hier eröffnet sich ein theologischer und fotografischer Tiefgang in postsäkulare Religiosität und ihre Bedeutung, der auch den Blick säkularer Menschen auf einen religiösen Horizont versteht und integriert. Justin Kroesen hat mit dem berührenden Wort der „sakralen Ablagerung“ die Resonanz von Gotteshäusern in den Seelen säkular strukturierter Menschen beschrieben, die er als eine Art religiöse Sehnsucht versteht. Eine solche Sehnsucht kann und muss nicht entzaubert werden. „Denn sie richtet sich gerade auf mehr als auf das, was der Fall ist.“ (44)
Wie sinnvoll ist das so vorherrschende Zeitdiktat, das jetzt in jedem Moment unterbrochen werden kann?
Gegenwart: Das Kapitel „eigene Zeit des Menschen“ ist um herausragende Kunstwerke komponiert, darunter die „Schipol Clock“ aus der Real-Time-Reihe des Maarten Baas. Er bringt zutiefst zeitgenössisch die Zeit in Bewegung, verknüpft Zeit und Körper und inszeniert die Eigenzeit des Menschen (Helga Nowotny). In der Uhr am Flughafen Schipol steht ein Mensch und malt die Zeiger jede Minute neu, eine Minute nach der anderen. Eine gefilmte Performance, die so sehr verstört, dass regelmäßig Anrufe bei der Arbeitssicherheit eingehen.
Gerade solch ein Kunstwerk stößt sich ab von der spezifischen Gegenwart, die durch Erfahrungen von Homeoffice und Quarantäne, durch Lockdown und Sperrstunden hinterfragt wird: Wie sinnvoll ist das so vorherrschende Zeitdiktat, das jetzt in jedem Moment unterbrochen werden kann? Dreht die Welt sich weiter oder bleibt sie stehen? Und wer sieht den Mann bei seiner Zeit-Arbeit in der Schipol Clock? Das Autorenduo hat die herrschende Zeiterfahrung eng konturiert: „Der Mensch ist heute permanent im Aufbruch und Übergang. Viele meinen, sich ein Verweilen nicht leisten können. Die mönchische Konzentration, der Bezug zur Mitte, gelingt nicht mehr. Man lebt gezwungenermaßen das Leben eines ewigen Passagiers.“ (73) In diesem Jahr der temporären Unterbrechung und weiterer Ungewissheit ist das Aushalten und Annehmen noch längst nicht zu einer positiven Erfahrung geworden. Die Gestaltung von Zeit, Raum, Körperlichkeit bricht in Zeiten des Social Distancing anders und neu hervor. Und keineswegs verwundert, dass jetzt Mönche und Nonnen, die stabilitas loci ebenso wie den selbststrukturierten, routiniert-rituellen Umgang mit dem Alleinsein in Gemeinschaft pflegen, der Lock-Down-Welt als Ratgeber zur Seite stehen.
Das rituelle Gehen, ohne jedoch vom Fleck zu kommen kommt in Widmung und Wiederholung einem religiösen Ritual gleich.
Zukunft: In diesem so oft gezwungenermaßen zu Hause verbrachten Jahr birgt „Alberts Weg“ des Francis Alÿs (2014) einen eigentümlichen Reiz: Der Künstler ist in seinem Studio 118 km abgeschritten – er zeichnet mit der Mehrkanal-Videoinstallation den ‚Englischen Pilgerweg‘ nach Santiago de Compostela nach, aber auch den von Albert Speer kolportierten ständigen Rundgang in seiner 20jährigen Haftzeit als Kriegsverbrecher im Spandauer Gefängnis. Das rituelle Gehen, ohne jedoch vom Fleck zu kommen kommt in Widmung und Wiederholung einem religiösen Ritual gleich. Ist dieses auf ein Ziel, Erfüllung, Erlösung gerichtet? Der Künstler stellt seine Performances immer wieder subtil in politische Kontexte. Ein Pilgerweg wird hier durch spezifische historische Anleihen kontaminiert. Oder wird etwas in Buße gereinigt? Das Innen ins Außen wenden, und das Außen ins Innen, und darin den Anbruch des Neuen, des Anderen erlauben – hier liegt die theologische Beschäftigung mit zeitgenössischer Kunst, die sich nicht scheut, Anleihen an religiöse Sprache und Bildwelt zu nehmen, doch die Deutung ganz den Individuen überlässt – so wie dieses Buch Assoziationen erlaubt, doch immer in Offenheit belässt.
Das gemeinsame Tun, Handeln, Denken ist im Text aufschlussreich verwoben, doch das Webmuster bleibt versteckt.
Die „ästhetisch-theologische Zeitansage mit Kunst“ entstammt der geteilten Sicht eines Paares: eine Seltenheit am theologischen Buchmarkt. Wie interessant wäre eine Reflexion auf die Bedingungen des Schreibens und Ineinandergreifens der Gedanken! Das gemeinsame Tun, Handeln, Denken ist im Text aufschlussreich verwoben, doch das Webmuster bleibt versteckt. Insgesamt: ein Buch von zartem und genauem Inhalt, das nicht nur lange Winterabende wunderbar inspiriert, sondern gerade 2020 so große Gedankenwelten eröffnet, wie kaum ein anderes. Zudem wird die Sehnsucht nach Kunstwerken in Zeiten geschlossener Museen ein wenig befriedigt. Der Herstellung hätten eine elegantere Haptik und Buchgestaltung wohlgetan. Doch der Inhalt eröffnet einen vielfältigen und inspirierenden Blick aus der Gegenwart hinein in die Möglichkeit der Ewigkeit.
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Autorin: Viera Pirker ist Professorin für Religionspädagogik und Mediendidaktik in Frankfurt am Main.
Beitragsbild: Grünewald
Von Viera Pirker auf Feinschwarz.net jüngst erschienen (in Auswahl):
Die Zukunft ist unnatürlich. Theologische Erkundungen zur Venedig-Biennale