Die Schüler*innen-Streiks „Fridays for Future“ sind großartig und umstritten: Was ist mit Schulpflicht? Wem nutzt die Welle an Sympathie? Wer lässt sich wachrütteln? Ein theologischer Kommentar von Michael Rosenberger.
Es ist eine weltweite Bewegung entstanden: Am Freitag, dem 15.3.2019, bestreikten Millionen SchülerInnen in 1400 Städten von rund 130 Ländern ihren Unterricht und demonstrierten für sofortige wirksame Maßnahmen zugunsten des Klimaschutzes, damit das auf der UN-Klimakonferenz von Paris 2015 – der immerhin zweiundzwanzigsten „Conference of Parties“ – beschlossene Ziel noch erreicht werden kann, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu beschränken. Den vielen Worten müssten endlich Taten folgen – so die klare und kompromisslos vorgetragene Forderung der jungen Menschen.
Einsame Aktivistin für das Klima
Die Bewegung der „Fridays for Future“ geht auf die 2003 geborene schwedische Schülerin Greta Thunberg zurück. Im Alter von acht Jahren erfuhr sie von der anthropogenen Erderwärmung. Daraufhin begann sie Schritt für Schritt, ihr Leben immer konsequenter am Klimaschutz auszurichten. Mit dem Ausschalten der Beleuchtung beim Verlassen des Raumes fing es an – und mündete in den Beschluss, nicht mehr zu fliegen und sich vegan zu ernähren (Nadja Schlüter, „Es müsste höchste Priorität haben!“ In: Süddeutsche Zeitung vom 2. Dezember 2018, https://www.sueddeutsche.de/panorama/interview-es-muesste-hoechste-prioritaet-haben-1.4235645). Während der Dürre- und Hitzewelle im Sommer 2018 und drei Wochen vor der Wahl zum Schwedischen Reichstag setzte sich Greta am 20.8.2018, dem ersten Schultag nach den Ferien, vor den Schwedischen Reichstag mit einem Schild, das die Aufschrift trug: „Skolstrejk för klimatet“ – „Schulstreik für das Klima“. Zunächst war sie ganz alleine. Und obwohl ihre Eltern und LehrerInnen ihr Verhalten nicht billigten, duldeten sie es. Bis zur Reichstagswahl streikte die 15-Jährige täglich, seitdem nur noch freitags. Damit begann eine Bewegung, deren Höhepunkt womöglich noch gar nicht abzusehen ist.
Unerschöpfliches Beharrungsvermögen
Schon jetzt lässt sich beobachten, dass Gretas unerschöpfliches Beharrungsvermögen auf die SchülerInnen übergesprungen ist, die an den Fridays for Future streiken und demonstrieren. Am 15.3. durfte ich das in Linz selbst erleben: Über 3000 TeilnehmerInnen waren gekommen, dreimal so viele wie erwartet, und harrten stundenlang in eisiger Kälte und strömendem Regen aus. Streiks sind in modernen Demokratien eines der schärfsten Mittel der Kooperationsverweigerung. Wirksamere Wege, eigene Anliegen mit Nachdruck zu vertreten, gibt es nicht. Das Argument, die SchülerInnen sollten lieber außerhalb der Unterrichtszeit demonstrieren, verdeckt (in unbewusster Naivität oder bewusster Hinterhältigkeit) die Macht der Provokation, die nur ein Streik bietet.
Es geht ja nicht um eine Verweigerung des Lernens oder der Bildung, sondern um ein Druckpotenzial – das einzige, das Menschen in diesem Alter haben. Ohnehin dürften es eher die begabten SchülerInnen sein, die am Streik teilnehmen, denn sie haben etwas verstanden, was viele Erwachsene offenbar noch nicht begriffen haben. Und schließlich gehört es zu den ersten und höchsten Bildungszielen, junge Menschen fit für das Leben und die Mitgestaltung der Gesellschaft zu machen. Alle Eltern und LehrerInnen der streikenden SchülerInnen sollten also stolz darauf sein, dass ihnen in der Erziehung etwas gelungen ist.
Druckpotenzial Schulstreik
Mit dem Mittel des Schulstreiks gehen die SchülerInnen allerdings ein hohes Risiko ein. Anders als eine einmalige Demonstration in der Freizeit kann man einen Streik nur beenden, wenn man einen Teil seiner Ziele erreicht hat – sonst verliert man für lange Zeit jede Möglichkeit, noch einmal einen Versuch zu starten. Ginge der Schulstreik ergebnislos zu Ende, hätte die Politik auf Jahre hinaus ein ruhiges Leben in Sachen Klimaschutz – es sei denn eine andere gesellschaftliche Gruppe würde den Staffelstab der SchülerInnen übernehmen und weitertragen.
Die Umsetzung der Forderungen wird einschneidend sein
Die Forderungen der Fridays-for-Future-Bewegung (siehe https://www.fridaysforfuture.at/about) sind kompakt und übersichtlich, durchdacht und ausgewogen. Ihre Umsetzung wird freilich für die modernen Konsumgesellschaften einschneidend sein. Zu lange haben die Verantwortlichen den Kopf in den Sand gesteckt und alles dafür getan, nichts tun zu müssen (vgl. Papst Franziskus, Enzyklika Laudato si Nr. 59). Was der frühere Chefökonom der Weltbank Nicholas Stern bereits 2006 ankündigte, erfahren wir jetzt schmerzlich: Dass jedes für den Klimaschutz verlorene Jahr am Ende ein Vielfaches kostet (The Stern Review on the Economics of Climate Change, http://unionsforenergydemocracy.org/wp-content/uploads/2015/08/sternreview_report_complete.pdf).
Kreative Protestkultur
Die SchülerInnen arbeiten bei ihren Demonstrationen mit einfachen Mitteln und sind doch höchst kreativ. Schlichte, selbst geschriebene Pappplakate werden in die Höhe gehalten. Eingängige Parolen werden im Wechselspiel zwischen AnimatorIn und allen skandiert. Darunter sind auch solche, die auf das eigene Tun anspielen und eine Beschränkung des eigenen Konsums verlangen wie zum Beispiel „Billigflüge – eine Lüge!“ Eine solche Parole kann kaum jemand mitschreien, der jährlich mehrfach in den Urlaub fliegt und das auch weiterhin tun will.
Ergänzend wurden bekannte Lieder umgetextet. Aus dem französischen Kinderlied „Frere Jacques“ wird eine Frage an Bundeskanzler und Umweltministerin: „Bruder Basti, Bruder Basti, schläfst du noch?“ und „Schwester Kösti, Schwester Kösti, schläfst du noch?“ Das Kindergeburtstagslied von Rolf Zuckowski „Heute kann es regnen, stürmen oder schnein“ ist umgedichtet auf den Klimawandel. Auch der Ohrwurm von 2012, „Rock me“ von voXXclub, einer Band der neuen alpinen Volksmusik, wird einer Wandlung zum Protestsong unterzogen.
Protestlieder, mitgesungen vom Smartphone
Einzig das ebenfalls umgedichtete italienische Partisanenlied „Bella ciao“ besitzt das Revolutionsgen bereits in der Originalversion. OhrenzeugInnen mögen staunen: Die Jugendlichen lesen die Liedtexte von ihren Smartphones ab und singen lauter und begeisterter als in jeder Musikstunde. Doch die lockeren, humorvollen Mittel verdecken den Ernst der DemonstrantInnen nicht. Sie machen sich große Sorgen – und verlangen eine sofortige, wirksame Reaktion der Verantwortlichen.
Reichlich Erwachsenen-Support
Um die SchülerInnen zu unterstützen, hat sich eine zweite Bewegung gebildet, die „Scientists for Future“: Mittlerweile haben über 23000 WissenschaftlerInnen einer Erklärung unterschrieben, die folgende Botschaft vermittelt: „Zurzeit demonstrieren regelmäßig viele junge Menschen für Klimaschutz und den Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlagen. Als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erklären wir auf Grundlage gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse: Diese Anliegen sind berechtigt und gut begründet. Die derzeitigen Maßnahmen zum Klima-, Arten-, Wald-, Meeres- und Bodenschutz reichen bei weitem nicht aus. (…) Nur wenn wir rasch und konsequent handeln, können wir die Erderwärmung begrenzen, das Massenaussterben von Tier- und Pflanzenarten aufhalten, die natürlichen Lebensgrundlagen bewahren und eine lebenswerte Zukunft für derzeit lebende und kommende Generationen gewinnen. Genau das möchten die jungen Menschen von „Fridays for Future/Klimastreik“ erreichen. Ihnen gebührt unsere Achtung und unsere volle Unterstützung.“ (https://www.scientists4future.org/stellungnahme/). Und schließlich hat sich auch eine Initiative der Eltern gebildet: Parents for Future (https://parentsforfuture.de/).
Schüler*innen und Päpste für ökologische Umkehr
Theologisch betrachtet haben die SchülerInnen die Zeichen der Zeit erkannt und gedeutet (GS 4) – nicht aus dem Evangelium heraus, sondern einfach mit dem gesunden Menschenverstand und einem Weitblick, der aus großer innerer Freiheit erwächst. Junge Menschen sind noch nicht so stark in Systemzwängen gefesselt wie Erwachsene, sie können gegenüber bestehenden Ordnungen unbefangener und direkter auftreten – und diese Chance nutzen sie.
Inhaltlich vertreten sie damit dieselben Positionen wie die Päpste der jüngeren Vergangenheit. „Noch ist es nicht zu spät“, mahnten Papst Johannes Paul II. von Rom und Patriarch Bartholomaios I. von Konstantinopel schon am 10.6.2002 in Venedig in ihrer dramatischen Botschaft an die Welt. Noch könne die Menschheit die Folgen des anthropogenen Treibhauseffekts auf ein erträgliches Maß begrenzen. Doch es bedürfe einschneidender Veränderungen, damit dies geschehe. Jetzt, nicht irgendwann. Heute, nicht morgen.
Heute, nicht morgen!
„Noch ist es nicht zu spät“, das ist ebenfalls die Kernaussage der Enzyklika „Laudato si“ von Papst Franziskus 2015. Eine radikale, grundstürzende ökologische Umkehr sei gefordert – individuell wie auch in den Strukturen von Wirtschaft und Gesellschaft (LS 216-221). So verwundert es nicht, dass sich Papst Franziskus nach Aussage des Kurienbischofs Marcelo Sanchez Sorondo hinter die streikenden SchülerInnen gestellt hat. „Wir sind die letzte Generation, die die Dinge ändern kann“, so Sanchez Sorondo (https://www.katholisch.de/aktuelles/aktuelle-artikel/kurienbischof-papst-steht-hinter-den-schulerprotesten).
Und die Kirchenbasis?
An der Kirchenbasis bewegt sich allerdings trotz der päpstlichen Ermahnungen wenig. Noch immer ist Umweltschutz für die meisten Pfarren ein Randthema und wird nicht als Kernaufgabe gesehen. Bischöfliche Beschlüsse gibt es in Österreich zwar, doch mit ihnen könnte man nicht einmal das 2,5-Grad-Ziel erreichen – sie sind also höchstens ein winziger Anfang, wie Kardinal Christoph Schönborn bei der Beschlussfassung im Herbst 2015 selbst einräumte.
Werden uns die SchülerInnen wachrütteln und zum entschiedenen Handeln bewegen? Die Kirche St. Peter in Zürich jedenfalls machte am 12.3.2019 unübersehbar klar, was die Stunde geschlagen hat: Um fünf vor zwölf wurden die Zeiger des mit 8,64 Meter Durchmesser größten Turmzifferblatts Europas bis zum Abend angehalten, um die Zeitansage der SchülerInnen sichtbar zu machen. Ein starkes Symbol. Vielleicht sollten die Kirchturmuhren insgesamt in den Streik treten – und ihn erst beenden, wenn Politik und Gesellschaft sich bewegen. Es ist nämlich schon eins vor zwölf.
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Michael Rosenberger ist Univ.-Professor für Moraltheologie an der Katholischen Universität Linz.