Paradoxe Hoffnung, Empathie und Ambiguitätskompetenz: Diese drei Wegweiser oder Grundhaltungen begleiten Theres Spirig-Huber. Sie findet darin auch Parallelen zu den Grundhaltungen der ignatianischen Spiritualität.
Es war im Herbst 2022, ein Jahr vor dem 7. Oktober 2023. Wir waren eine Gruppe von Menschen, die sich für Israel/Palästina engagieren und die Reise „Mehr als zwei Narrative“ vorbereiteten. Wir waren uns einig: Was es braucht angesichts von Frustration und Perspektivenlosigkeit in Israel/Palästina, sind – wie ich es nenne – drei Wegweiser: Paradoxe Hoffnung, Empathie und Ambiguitätskompetenz, Grundhaltungen, mit denen ich Stellung nehmen kann, ohne mich auf eine Seite zu schlagen, ohne mich mit einer Position zu identifizieren.
Menschen begegnen
Wir wollten im Land, das drei grossen Religionen heilig ist, zuhören: Aktivist:innen, Künstler:innen, Vertreter:innen von kulturellen und pädagogischen Einrichtungen sowie von Graswurzelorganisationen und weiteren Menschen, die alle einen eigenen und oft auch neuen Zugang zum Leben in der israelischen wie der palästinensischen Gesellschaft vermitteln können. Wir wollten Menschen begegnen, die sich selber im Laufe ihres Lebens grundlegend verändert und Positionen aufgegeben hatten, uns von ihrem Transformationsprozess erzählen konnten. Wir wollten von ihnen lernen, wie es ihnen möglich wurde, sich von vereinfachenden und verallgemeinernden Vorstellungen zu distanzieren und sich für Kooperation und Entwicklung zu engagieren – und wie sich ihr Leben und ihre Identität auf diesem Weg verändert haben und weiter verändern.
Stellung nehmen statt Position beziehen
Im Herbst 2022 fragten wir uns, weshalb wir mit unserer Initiative einerseits auf ein grosses positives Echo stossen und sich andererseits nur wenige anmelden. Jochi Weil, ein älterer jüdischer Mann, der sich sein Leben lang als „Brücklibauer“ versteht und für einen gerechten Frieden in Israel/Palästina engagiert, sagte mit einer grossen Selbstverständlichkeit: „Es gibt so viel Frustration und Perspektivenlosigkeit. Was es braucht, ist Paradoxe Hoffnung, Empathie und Ambiguitätskompetenz“. Diese seine Worte fielen mitten in mein Herz und wurden zu meinen drei Wegweisern, zu Grundhaltungen, die ich bewusst üben wollte. Die Reise „Mehr als zwei Narrative“ im Februar 2023 bot dazu eine sehr gute Gelegenheit. Die Grundhaltungen prägten unser gemeinsames Unterwegssein, die Begegnungen und den abendlichen Austausch, die Reflexion.
wie ein Schiffsmast im Sturm
Es sind drei Grundhaltungen, mit denen ich Stellung nehmen kann, ohne mich auf eine Seite zu schlagen und Position zu beziehen. Sie sind für mich, mit einem Bild von Teresa von Ávila gesprochen, wie ein Schiffsmast im Sturm, an dem ich mich festhalten kann. Teresa von Ávila beschrieb mit diesem Bild, dass sie sich in ihrem Hin- und Hergerissensein wie auf einem Schiff im Sturm fühlte, dabei am inneren Beten festhielt wie an einem Mast und so Halt und Orientierung fand. Ich halte mich an meinen drei Wegweisern fest wie an einem Mast im Sturm. So übe ich, Menschen offen und mit Respekt zu begegnen, mit festem Boden unter meinen Füssen, einem weiten, offenen Raum um mich und einer klaren Ausrichtung.
Am Morgen des 7. Oktober
Ein gutes halbes Jahr später, im Oktober 2023, war ich mit einer Gruppe in Israel/Palästina auf Wanderexerzitien. Am Morgen des 7. Oktober wollten wir auf den Har Karkom, den Gottesberg im Negev.
Doch wir wurden daran gehindert, weiter in die Wüste hineinzufahren. Etwas Schlimmes war passiert.
Im Laufe der nächsten Tage sickerte immer mehr durch, was geschehen war, und es begann sich abzuzeichnen, was geschehen wird. Unsere Gruppe beschloss, die Wanderexerzitien wie geplant weiterzuführen, abgesehen von einzelnen logistischen Anpassungen, und mit dem gebuchten Rückflug mit El Al heimzukehren. Warum war das, natürlich mit der gebotenen Sorgfalt, doch ohne Aufregung möglich? Ich bin überzeugt, es hat mit den spirituellen Grundhaltungen zu tun, die unsere Exerzitien prägen und eng mit den drei Wegweisern verknüpft sind.
Empathie als „Scharnier“
Im Laufe der Zeit wurde mir immer deutlicher bewusst, dass Frustration, Perspektivenlosigkeit, Resignation, Angst und Verzweiflung für viele Menschen Signaturen unserer Zeit sind. Gleichzeitig trug ich diese Trias – Paradoxe Hoffnung, Empathie und Ambiguitätskompetenz – immer in mir und zwar in der Reihenfolge, wie ich sie von Jochi Weil gehört hatte. Doch nun bekam auch die Reihenfolge für mich eine tiefe Bedeutung und Kraft. Mir wurde bewusst, dass Empathie das unverzichtbare „Scharnier“ ist. Paradoxe Hoffnung und Ambiguitätskompetenz ohne Empathie allen Menschen gegenüber bleiben, so wichtig sie sind, abstrakte Ideen, blutleer und kraftlos. Umgekehrt ist Empathie jeder:jedem gegenüber ohne paradoxe Hoffnung und Ambiguitätskompetenz blindes Mitfühlen, orientierungslos, nicht aus-halt-bar, nicht lebbar.
Empathie ist unteilbar
Empathie verbunden mit Ambiguitätskompetenz ist nicht einfach Emotion, Gefühl, sondern eine Haltung. Sie zu entwickeln bedeutet, mich echt für Menschen unabhängig von ihrem konkreten Sosein oder ihren Positionen zu interessieren, ihnen zuzuhören, Anteil zu nehmen an ihrem Leben, ihnen in ihrer unantastbaren Würde Respekt entgegenzubringen. Würde ist unverhandelbar und Empathie ist unteilbar – gegenüber jedem Menschen. Diese Haltung hat jedoch nichts zu tun mit Zustimmung oder Ablehnung gegenüber Positionen oder Handlungen. Die unantastbare Würde jedes Menschen zu respektieren bedeutet auch, mich selber – der Situation entsprechend – transparent, echt und auf Augenhöhe einzubringen, zu zeigen, je nachdem auch zuzumuten. Indem ich übe, unüberbrückbare Differenzen aus-zu-halten, buchstäblich zu halten (wie neues, verborgenes Leben im Mutterschoss, bis es geburtsreif ist), kann ich verschiedensten Menschen mit den widersprüchlichsten Positionen empathisch begegnen, anders gesagt, sie offen mit ihrer Wahrheit hören, ohne urteilen zu müssen, ohne zustimmen oder widersprechen zu müssen. So wird erfahrbar, dass Leben – spirituell gesprochen G*tt – Beziehung ist, Liebe ist, und die Liebe stärker ist als Beziehungsabbruch, Zerstörung, Tod. Diese Haltung zu leben braucht und gibt viel Kraft.
gelebte paradoxe Hoffnung
Immer wieder darf ich in Israel/Palästina und in der Schweiz Menschen begegnen, die diese drei Grundhaltungen leben. Sie leisten einen unverzichtbaren Beitrag zu Transformationsprozessen, auch wenn sie oft nicht sichtbar sind.
Diese Entschiedenheit, verschiedensten Menschen mit Interesse an ihrem Leben, mit Empathie zu begegnen, ohne Position zu beziehen, weder für noch gegen sie, sondern ihnen zu zeigen, dass ich sie in ihrer Not an-erkenne und die Beziehung unverbrüchlich ist, das ist gelebte paradoxe Hoffnung, ausgerichtet darauf, Gewalt in revolutionäre Liebe zu transformieren.
Drei spirituelle Grundhaltungen mit einer grossen verändernden Kraft und Klarheit
Mich hat es selber verblüfft, wie die drei Wegweiser analog zu drei ignatianischen Grundhaltungen verstanden werden können. Diese bilden für mich die Basis meiner beraterischen Tätigkeit.
Das A und O eines an der Fülle des Lebens orientierten Lebens ist nach Ignatius die Haltung der liebenden Aufmerksamkeit, von Erich Fried in einem Gedicht wunderbar ausgedrückt: „Es ist, was es ist, sagt die Liebe“. Empathie ist für mich diese respektvolle Zuwendung zu allem, was ist, und sei es noch so schrecklich oder noch so schön. Es ist die Anerkennung dessen, was ist, hier und jetzt, des Menschen, dem ich gegenüber bin, mit allem, was im Hier und Jetzt zu ihm gehört.
Ambiguitätskompetenz
In dieser Offenheit begegnen kann ich nicht ohne eine hinreichende Ambiguitätskompetenz. Ignatius empfiehlt in diesem Zusammenhang die Auseinandersetzung mit „ungeordneten Anhänglichkeiten“. Er meint damit Ängste, Vorlieben, Abneigungen, Verletzungen, Widerstände, Selbstverständlichkeiten, Zwänge, Eigeninteressen und Muster, Fixierungen, die mich unfrei machen. Dazu gehört auch, mich mir selber in der Haltung liebender Aufmerksamkeit zuzuwenden: Ich bin bedingungslos angenommen und darf sein, wie ich bin – dies ist der Boden für Ambiguitätskompetenz bzw. die Grundhaltung der Indifferenz.
In dieser Übung der Indifferenz, wie Ignatius sagt, geht es um eine grössere innere Freiheit gegenüber (ungeordneten) Anhänglichkeiten. Sie ist die schwierigste. Immer reden in uns verschiedene Stimmen mit, wertende und urteilende. Sie nehmen mich in Beschlag und hindern mich daran, vorurteilslos auf andere Menschen zu hören, schränken mich ein oder verhindern dieses aufmerksame Hören ganz. Im Üben der Indifferenz geht es darum, mir dieser inneren Regungen und Bewegungen, dieser inneren Stimmen bewusst zu werden, sie in den Blick zu nehmen und so Distanz zu gewinnen zu einzelnen Stimmen, Vorlieben, Abneigungen, anders gesagt, Identifizierungen zu erkennen und aufzulösen oder mind. zu relativieren.
Unterscheidung der Geister
Auf der Basis der liebenden Aufmerksamkeit, Zuwendung zu dem, was ist, und einer hinreichenden inneren Freiheit gegenüber meinen Mustern kann ich unterscheiden zwischen Zweck/Ziel und Mittel. Und ich kann wählen, welche Mittel mehr dem Leben dienen, mehr in Richtung des einzigen Zwecks, in Richtung Frieden und Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung führen. Ignatius nennt das die Unterscheidung der Geister mit dem Ziel, alle Optionen auf den einzigen Zweck, das einzige Ziel auszurichten, auf das Leben in Fülle für alle Menschen und die ganze Schöpfung, auf das Reich G*ttes.
Diese Unterscheidung zu üben bedeutet für mich, paradoxe Hoffnung zu leben.
Der erste Schritt ist: Immer wieder unterbrechen, was mich gerade in Beschlag nimmt, und ins absichtslose Wahrnehmen kommen.
Wähle also das Leben
Paradoxe Hoffnung, Empathie und Ambiguitätskompetenz sind für mich unverzichtbare Grundhaltungen geworden, um den endlosen Schrecken in Israel/Palästina nicht von mir wegzuhalten, zu verdrängen, und mich gleichzeitig nicht in das unermessliche Leiden zu verlieren, sondern offen zu bleiben und Stellung zu nehmen für das Dazwischen, für das Unverfügbare, fürs Begegnen auf Augenhöhe, kurz: für das Leben. „Leben und Tod lege ich dir vor. Wähle also das Leben“ (Dtn 30,19), heisst es in der Hebräischen Bibel.
Theres Spirig-Huber, Bern, ist Theologin, Supervisorin BSO, Mediatorin und Mitglied der Fachgruppe Leitung und Spiritualität im Netzwerk Momentos. Sie hat langjährige Erfahrung in spirituell-therapeutischer Begleitung und Exerzitienarbeit.