… fragen sich u.a. Rainer Bucher und darauf bezugnehmend Birgit Hoyer – nicht nur am und nach dem Katholikentag. Zwei Antwortversuche.
… die Einsicht in ihre wirklich desaströse Lage.
Was macht diese Lage so desaströs? Das fundamentale Glaubwürdigkeitsdefizit.
Wenn religiöse Institutionen gegen zentrale normative Grundlagen jener Gesellschaften verstoßen, in die sie eingebettet sind, geraten sie in gesellschaftliche Existenzprobleme. Wenn diese Normen dann mit einigem Recht als säkulare Varianten der eigenen grundlegenden Prinzipien gedeutet werden können, dann haben religiöse Institutionen ein existenzielles gesellschaftliches Problem.
Denn ihre Glaubwürdigkeit zerbricht in unübersehbaren, weil strukturellen Selbstwidersprüchen. Wenn dann noch skandalisierende Prozesse diese Selbstwidersprüche exemplarisch bündeln, steht es wirklich schlecht um sie. Sie verlieren dann nicht ihre Gegner, sondern ihre Anhänger. Genau dies ist aktuell in der römisch-katholischen Kirche Deutschlands und nicht nur dort der Fall.
… die Rezeption der menschenrechtlichen, anti-totalitären Errungenschaften der Moderne.
Die Moderne kennt nicht nur eine Fortschritts-, sondern auch eine totalitäre Absturzgeschichte, sie hat Blutbäder ohne gleichen produziert. Aber sie hat aus dieser Geschichte Konsequenzen gezogen und moderne liberale Gesellschaften kennen daher anti-totalitäre Lerneffekte:
- Gewaltenteilung,
- Menschenrechtsorientierung,
- Rechtsstaatlichkeit,
- Demokratisierung,
- System von checks and balances
- Stärkung der Zivilgesellschaft
Die katholische Kirche hat gemeint, dies alles nicht übernehmen zu müssen, da man ja an diesen Abstürzen nicht direkt beteiligt gewesen sei und dank des Beistandes Gottes und dank der eigenen überlegenen Moral vor solchem Machtmissbrauch geschützt sei. Das war natürlich eine Illusion. Das bedeutet nicht nur, dass in der katholischen Kirche interne Wahrnehmungs-, Kritik- und Korrekturmechanismen fehlen, sondern auch die gesellschaftsüblichen Mechanismen in der Bekämpfung von Machtmissbrauch.
… die wirkliche Rezeption des Konzils.
Seit der Reformation erlebte die katholische Kirche eine Kaskade von Reichweitenverlusten und Demütigungen: die Entstehung von ihr unabhängiger christlichen Kirchen in den Reformation(en), die bürgerliche Gesellschaft, die sich religionsunabhängig formierte, die politischen Religionen des 19. Jahrhunderts und schließlich die religiöse Individualiserung heute. Die katholische Kirche reagierte bis zum II. Vatikanum darauf mit der Strategie „Inklusion durch Exklusion“ und gab sich dabei eine absolutistische Sozialgestalt.
Das II. Vatikanum bedeutet demgegenüber auf der Basis des universalen Heilswillens Gottes und der Abkehr von einem zentralperspektivischen Platonismus hin zu einem ereignisbezogenen Pluralismus eine grundlegende theologische und geistliche Wende. Diese aber wurde sabotiert und torpediert durch die nachkonziliare Entwicklung vor allem im Kirchenrecht. Die Konsequenz: Wir gehen mit einer dysfunktionalen Sozialgestalt von Kirche aus der Konstantinischen Formation in eine Zeit religiöser Autonomie.
Was fehlt?
Dysfunktionale Sozialgestalt wozu? Was ist eine funktionale Sozialgestalt von Kirche? Wozu wird sie gebraucht?
… für Religion – Glaube – in der Welt, in der gesellschaftlichen Situation im Leben des Menschen, der Menschen. Das ist eine Welt ohne Gott, ohne die Begründung durch einen Gott, in der Gott nicht notwendig ist, eine säkulare Welt, in der Religion, in der Gott nicht fehlt. Was heißt Glauben in dieser Welt? Das Erzbistum Berlin ist zum Katholikentag mit „paradEIS2go: Eis teilen – Leben teilen“, mit himmlischem Eis im „innovativen citypastoralen Sommerprojekt“ angereist. Im Gepäck die Fragen: „Wenn unser Glaube eine Eissorte wäre – wie würde er schmecken? Was macht ihn wesentlich aus? Welche ‚Grundzutat‘ dürfte auf keinen Fall fehlen?“ Das Eis ist sehr zu empfehlen, aber es sind die falschen Fragen.
Wie schmeckt das Leben? Nicht immer lecker. Wie schmeckt der Tod – in diesem Leben? Das Leben, Säkularität eröffnet Raum für die Frage:
Was fehlt mir, was fehlt uns im Leben? Wo fehlt der Geschmack? Ist es geschmacklos?
Michael Triegel, der in Erfurt geborene und in Leipzig arbeitende Maler, fragt nach den Leerstellen im Leben, in seinem Leben, und womit wir diese Leerstellen füllen. Er hat sie mit Kunst gefüllt und mit der Taufe.
Was fehlt?
… Raum für den Tod, für den Blick in die Tiefen, die Untiefen, dahinter, darüberhinaus?
Wo ist der in der Kirche der letzten Fragen, der existentiellen Fragen? Wo ist Raum für die Angst, die Unsicherheit, die Düsternis, das dürre Leben? Und kommen Sie jetzt nicht zu schnell mit Auferstehung um die Ecke oder der Theodizee -Frage. Die interessante Erkenntnis aus einem Gespräch mit Religionslehrer:innen: Die Theodizee-Frage ist für Jugendliche keine mehr – nicht aus Desinteresse, sondern weil sie nicht mehr an einen Gott glauben, der alles macht.
… die Akzeptanz des säkularen Menschen, der erstmal nichts mit Gott, Religion, Kirche anfangen kann.
Das ist die Situation, in der die Liebe Gottes atmet, in die Christ:innen glauben, mit und ohne Gott gestellt zu sein. In dieser Situation gilt es zu spüren, zu hören, was fehlt. Da ist die Frage Jesu – „was willst du, dass ich dir tu“ – schon zuviel, zu religiös, unpassend.
… der Menschendienst!
Kirche kommt zu schnell um die Ecke! In Person von Klinikseelsorgerinnen, die sich zu zweit an das Bett eines Schwerkranken stellen. Zeugen Jehovas, Drückerkolonne, schräge Vögel auf jeden Fall. Hier unser Angebot, was brauchen Sie. Kein Raum für die Frage, was fehlt – zu massiv, zu schnell.
Noch nicht mal mitgehen, sondern da-sein und warten, angesprochen zu werden, sich radikal in Frage stellen lassen, keine Rolle, keine Antwort haben, nicht gefragt sein, sich zurückzunehmen. Aushalten: Ich bin da. Wie Dorothee Steiof vom Caritasverband, die sich einfach auf eine Bank gesetzt hat.
… der Gottesdienst als Menschendienst, als Dienst für die Gesellschaft.
Damit meine ich nicht den Gottesdienst für Schwangere am Katholikentag. Kultur entsteht aus dem Kultus – Kirche, das Christentum hat so einen Reichtum an Worten, Bildern, Riten. Was fehlt, ist die Eröffnung dieser Räume für die Frage des Menschen nach dem „Was fehlt?“ im Leben. Womit lassen sich die Leerstellen füllen? Wo kann, darf Leerlauf sein in meinem Leben? Wo hat die Frage Platz: Wer bin ich?
Welche Sozialform ist funktional für diese Kirche? Kein Konjunktiv, denn es gibt diese Kirche für die säkularen Räume. Was der Kirche dazu fehlt, ist der Glaube und die Treue zu ihrer Verfassung.
… die Verfassungstreue.
Die Säkularität ist der Boden der Kirche Jesu, nicht „Gehörst du dazu?“, sondern „Was fehlt?“. Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute sind Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger:innen Christi. Diese Kirche gibt es bereits, mit der Caritas, in den katholischen Schulen, im Religionsunterricht, in Orden. Der Jesuit Michael Bordt hat in seinen Führungskräftetrainings eine klare Mission: „Spiritualität fruchtbar machen für die Themen der Welt; aktives Innehalten zur Stärkung und Evaluation der eigenen Führungsrolle.“
Also kein Gejammer über mangelnde Akzeptanz, keine Nostalgie. Das ist Verherrlichung des Absolutismus, des patriarchalen Herrschaftssystem. Das lohnt keine Investition. Was lohnt, ist ein professionelles und effektives Management, damit Michael Triegel Altarbilder malen, Dorothee Steiof da-sein kann, Lehrkräfte und Schüler:innen lernen können und Michael Bordt mit Führungskräften meditieren kann.
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Text: Prof. Dr. Rainer Bucher und Prof. Dr. Birgit Hoyer sind Mitglieder des Redaktionsteams.
Bild: Birgit Hoyer
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