Simone Horstmann blickt das Huhn auf ihrem Arm an, während dieses geradewegs in die Kamera schaut. Das Autorinnenbild auf dem Backcover bringt den Perspektivenwechsel zum Ausdruck, zu dem ihr Buch anregen will. Eine Rezension von Martin M. Lintner.
Es handelt sich um eine Legehenne, die von der Eier-Industrie ausgesondert worden ist, nachdem sie ihren Nutzen nicht mehr erfüllt hatte. Der Henne sieht man nicht an, dass sie völlig entfiedert und entkräftet war, als sie vor dem sicheren Tod im Schlachthof gerettet wurde. Die Begegnung mit der leidenden Kreatur ist einer der transformativen Spuren, denen Horstmann, Theologin am Lehrstuhl für Systematische Theologie an der TU Dortmund, nachgeht, um die existentielle Bedeutung der Tiere für uns Menschen herauszuarbeiten, aber auch um die Tiere als Subjekte in den Blick zu nehmen, und zwar in Überwindung der Unterteilung in Nutz- oder Haustiere.
Existentielle Betroffenheit vom Leid und Sterben von Tieren
Die ökologischen Herausforderungen unserer Zeit – vom Artensterben bis zur industriellen Tierhaltung und -schlachtung – stellen für Horstmann nicht nur einen Anlass, sondern den eigentlichen Grund dar, um eine Neubestimmung der Beziehung des Menschen zu den Tieren einzumahnen. In sechs Kapiteln, die auch unabhängig voneinander gelesen werden können, fragt die Autorin „nach den vielfältigen Beziehungen zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Tieren, nach den Dimensionen, der Wirklichkeit und Fassbarkeit des ‚Inter‘ der Interspezies-Beziehungen“ (S. 13). Es geht ihr daher nicht um Zahlen, Daten und Fakten der Umweltkrise, die zu einer ökologischen Wende aufrufen, sondern um die im Buch wiederholt erzählerisch und essayistisch eingebrachte existentielle Betroffenheit vom Leid und Sterben von Tieren und um deren Potential zu verstören und ethisch zu verunsichern, aber auch positive Veränderungen in der Beziehung des Menschen zu den Tieren anzustoßen.
Vom gottähnlichen Stellenwert zu bloßen Nutzobjekten
Horstmann ringt spürbar mit der Frage, wie es dazu kommen konnte, dass die Tiere, denen in antiken Kulturen und Religionen ein gottähnlicher Stellenwert zuerkannt worden ist, zu bloßen Nutzobjekten degradiert worden sind, millionenfach ausgebeutet und gequält, und dass wir, die wir uns als Menschen nicht anders als inmitten von und in Beziehung mit Tieren entwickeln konnten, im Anthropozän ernsthaft mit der realen Möglichkeit einer künftigen Menschheitsgeschichte ohne Tiere konfrontiert sind.
Als Theologin treibt sie dabei besonders der Umstand um – sie weckt streckenweise den Anschein, daran fast zu verzweifeln –, dass die Theologie kaum Antworten bietet oder zur Lösung des Problems beiträgt, sondern vielmehr zur Verschärfung des Problems beigetragen und Gewalt gegen Tiere legitimiert hat, indem sie den Tieren eine unsterbliche Seele – und damit Ewigkeitsfähigkeit wie Erlösungsbedürftigkeit – abgesprochen und sie folglich für theologisch bedeutungslos erklärt hat. Das Szenario einer Welt mit nur (mehr) wenigen Spezies löst in der Autorin nicht nur Unbehagen aus, sondern macht ihr Angst. Mit den Tieren würden nämlich nicht nur ökologischer Reichtum und Biodiversität als Grundlage funktionierende Ökosysteme, sondern die fundamentale Erfahrung abhanden kommen, dass es auf der Welt Lebewesen gibt, die anders als wir Menschen und uns zugleich sehr ähnlich sind und ohne die wir unser Menschsein kaum verstehen können.
Tremendum et fascinosum: Tiererfahrungen ähneln Gotteserfahrungen
Wie ein roter Faden zieht sich durch die vielschichtigen Reflexionen des Buches der Grundgedanke, dass die Erfahrung der Fremdheit und Andersheit der Tiere den Menschen mit dem ganz Anderen konfrontiert, das er nicht beherrschen kann, sondern das ihm entzogen bleibt und gerade deshalb ein tremendum und fascinosum zugleich darstellt. Natur- und im Besonderen Tiererfahrungen ähneln, so Horstmann, auf frappierende Weise Gotteserfahrungen. Fremdheit und Andersheit werden aber als befremdend und bedrohlich wahrgenommen, sodass sie einerseits zwar im Levinas’schen Sinne eine ethische Urerfahrung darstellen – nämlich sich selbst in der Begegnung mit dem Anderen zu finden bzw. angesichts der Vulnerabilität des Anderen den ethischen Imperativ des Nichttötens als subjektkonstituierenden Ruf zur Verantwortung zu erahnen. Andererseits drängt die Erfahrung des Anderen als fremd und bedrohlich aber auch dazu, es durch Aneignung und Identifikation zu zähmen und zu beherrschen. In letzter Konsequenz führt dies zur gnadenlosen Gewaltanwendung gegen die Tiere als reine Objekte, wie es in der Tierindustrie und den Schlachthöfen verdichtet geschieht. Gnadenlos auch deshalb, weil Tiere hier radikal auf ihren Nutzen reduziert werden. Die Erfahrung von Geltenlassen, Zuwendung und Zuneigung unabhängig von Leistung und Nutzen, wie sie besonders auch Tiere vermitteln und die der Erfahrung göttlicher Gnade ähneln, wird hier völlig ausgeblendet.
Ein Sich-Wiedererkennen im Anderen statt Abgrenzungslogik
Die Autorin verkennt dabei nicht, dass die Ambivalenz, dass das Leben des einen in irgendeiner Weise immer auf Kosten des Lebens eines anderen Lebewesens geht, in die Natur selbst eingeschrieben ist. Gerade deshalb ist „Natur niemals […] gleich-gültig, sondern […] differenzierungsfähig, sie zeigt Anteile der unerlösten, leidenden Wirklichkeit ebenso wie zeichenhafte Vorausgriffe auf jene erlöste Natur, die wir im Spiel, in der Freiheit und der liebenden Zuwendung der Wesen untereinander entdecken können“ (S. 66). Horstmann argumentiert für die Überwindung einer Trennungslogik zwischen Menschen und Tieren, um das Verbindende sowie das Einstehen füreinander stark zu machen. Den Perspektivenwechsel, sich selbst nicht in Abgrenzung vom Anderen zu definieren, sondern vielmehr in Verbindung mit ihm sich im Anderen seiner selbst wiederzuerkennen, sieht sie im biblischen Schöpfungsbericht in Gen 1 grundgelegt. Das theologische Konzept der Gottebenbildlichkeit deutet sie kenotisch im Sinne eines Gottes, der nicht durch Abgrenzung als der radikal Andere, sondern vielmehr im Anderen seiner selbst erkannt werden will. Hier bringt die Autorin das Theorem der Stellvertretung ins Spiel, d. h., dass das Sich-Wiedererkennen im Anderen seiner Selbst auch dazu drängt, die Seite des Anderen einzunehmen. Für Horstmann bedeutet dies, auch Speziesgrenzen zu überwinden in der Anerkennung des Wunsches eines jeden Lebewesens, dass seine Verletzlichkeit vom Anderen nicht missbraucht, sondern mit Freundlichkeit, ja mit Freundschaft beantwortet werde. Die biblischen Erzählungen vom Paradies entwerfen, so die Autorin, gleichsam eine Vision von solchen heilsamen Interspezies-Freundschaften.
Oszillieren zwischen den Tieren als „Fremde“ und als „Ähnliche“
Zu Recht prangert die Autorin an, dass die christliche Tradition und Theologie von einem Differentialisms geprägt sind, der die Unähnlichkeit zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Tieren derart stark betont, dass der Blick für das Verbindende verdunkelt wird. Das Oszillieren zwischen den Tieren als „Fremde“ und als „Ähnliche“ durchzieht das Buch auf spannungsvolle Weise. Horstmann spricht von einer „horizontalen Transzendenz“: „Eine vertikale Achse verdeutlicht die Bewegung der Transzendenz […] von unten nach oben, während die Begegnung mit anderen Wesen zugleich horizontal verläuft. Diese beiden Achsen überkreuzen sich – ihr Schnittpunkt markiert dann möglicherweise das Erleben, das unsere Begegnung mit anderen Tieren kennzeichnet und zwischen den Polen der horizontal-kreatürlichen Vertrautheit und der vertikalen Erfahrung der fundamentalen Alterität changiert“ (S. 192). Das Buch bleibt trotz der Betonung einer unüberwindlichen Andersheit zwischen Menschen und Tieren von einer fast spürbaren Angst davor durchzogen, eine nicht nur graduelle Differenz zwischen Menschen und Tieren einzuräumen – wohl aufgrund der (leider nicht unbegründeten) Befürchtung, eine solche könne weiterhin vor allem zur Legitimierung von menschlichen Überlegenheitsdemonstrationen gegenüber Tieren missbraucht werden.
Wichtigen Beitrag für die Entwicklung einer Animalologie, einer theologischen Lehre von den Tieren
Horstmann bietet eine Fülle von Anknüpfungspunkten für weiterführende religionswissenschaftliche und theologische Diskussionen, beispielsweise über die philosophische und theologische Deutung und ethische Relevanz der soeben angesprochenen „anthropologischen Differenz“ oder über die These, dass die biblische Desakralisierung der Tiere bzw. das Verbot, Gott zu vertierlichen oder (umgekehrt) Tiere zu vergöttlichen, nicht nur zur Profanisierung der Tiere, sondern auch zu ihrer Transformation von Tiergottheiten zu Opfertieren geführt habe. Selbst wenn man nicht jeder These der Autorin zustimmt und trotz der stellenweise anspruchsvollen phänomenologischen und linguistischen Gedankengänge ist das Buch unbedingt lesenswert und stellt – wie bereits ihr gemeinsam mit Thomas Ruster und Gregor Taxacher verfasstes Werk „Alles, was atmet. Eine Theologie der Tiere“ (Regensburg: Pustet 2018) – einen wichtigen Beitrag für die Entwicklung einer noch weitgehend fehlenden Animalologie, d. h. einer theologischen Lehre von den Tieren dar.
Literaturangabe: Simone Horstmann, „Was fehlt, wenn uns die Tiere fehlen? Eine theologische Spurensuche“, Regensburg: Pustet 2020.
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Martin M. Lintner ist Professor für Moraltheologie an der PTH Brixen.
Bild: Ausschnitt Buchcover