Theologie und Kirche tun sich weiter schwer mit der Pandemie. Was heute stimmt, kann morgen schon belanglos oder falsch sein. Die aktuellen Erfahrungen überfordern, setzen aber auch Kreativität frei, meint Michael Schüßler.
Die kirchlichen Wortmeldungen im ersten Lockdown hat Christiane Florin treffend zusammengefasst: „Einmal so eine Kinderglaubenvariante, nach dem Motto: Gott beschütze uns vor dem Virus. Eine Coaching-Variante, nach dem Muster: Was können wir aus dieser Krise lernen? Und immer noch, oder jetzt auch noch lauter – die Strafpredigt: Für welche Sünden schickt Gott diese Plage?“ Ihr Gesprächspartner Magnus Striet plädierte angesichts dieser Lage im Frühjahr quasi für die Null-Option: „es gibt überhaupt keine primärtheologischen Zugänge zu diesen Fragen.“ Medizin und Politik arbeiten nach ihren Sachlogiken und das ist gut so. Kirche und Theologie haben bei einer Viruspandemie einfach keine Expertise. Sie kommen, wenn überhaupt, erst bei den großen Fragen nach Sinn, Leid und Gott ins Spiel. Aber wo und von wem werden die auf welche Weise thematisiert? Bis heute gibt es „keine überzeugenden Versuche, Corona als ein Zeichen der Zeit zu sehen, das auch mit dem Willen und Wirken Gottes in Beziehung gesetzt werden kann“ (Hans-Joachim Höhn). Theologie als Erfahrungs- und Wirklichkeitswissenschaft: aktuell eher ein Ausfall?
Theologie als Wirklichkeitswissenschaft: aktuell eher ein Ausfall?
Wir sind ja aus alter Tradition erst einmal auf die großen metaphysischen Erzählungen von Gottes Macht, Zorn und Güte in der (Welt)Geschichte gebucht. Aber in bisheriger Form wirken die aktuell überhaupt nicht mächtig, sondern eher unpassend bis hilflos. In der Corona-Gesellschaft ist dagegen öfter von Unverfügbarkeit und Sorge die Rede: „So viel Wissen über unser Nichtwissen und über den Zwang, unter Unsicherheit handeln und leben zu müssen, gab es noch nie“ (Jürgen Habermas). Hier liegen die Erfahrungskontexte für das aktuell theologisch Sagbare. Allerdings ist das nicht leicht zu erkennen, denn: „Das Virus ändert alles, aber es ändert sich nichts“ (Armin Nassehi). Bekannte Muster und Pfadabhängigkeiten sind keineswegs aufgehoben. Man sucht in ihnen Sicherheit, auch in der Kirche. Eucharistiezentrierte Personen reagieren eucharistiezentriert, pastoralkreative Personen und Bereiche reagieren pastoral kreativ, im Netz, in der Nachbarschaft oder „Draußen“ im öffentlichem Raum.
Was trägt der Glaube zum Aushalten der Krise bei?
In all dem wird eine zentrale Frage quasi im Vollzug verhandelt: „Was trägt der christliche Glaube inhaltlich zum Aushalten der gegenwärtigen Krise bei? Was hat er an religiösen (und praktischen) Bewältigungsstategien zu bieten?“[1] Antworten darauf liegen nicht als Copy&Paste-Vorlage in Schrift und Tradition. Sie entstehen erst aus den Pandemieerfahrungen, aus Sprachlosigkeit, aus Trauer und Dankbarkeit, aus geteilter Sorge und aus Glaubenshoffnungen im Unsicheren.
Trost, Dankbarkeit, Eucharistie
1. Trost, Dankbarkeit, Eucharistie: Mit existenzieller Wucht erfahren wir gerade alle, wie sehr jede/r Einzelne existenziell auf andere angewiesen ist. Die Tränen aus den überlasteten Intensivstationen mit der unerträglichen Tragik von Triage und einsamer Tode fließen neben den Tränen der Dankbarkeit jener, die ihr Leben dem Pflegepersonal verdanken. Ob sie ineinanderfließen bleibt angesichts der Singularität jedes einzelnen Schmerzes zwar offen. Aber beide machen eine Fragilität des Lebens sichtbar, welches man im letzten nicht völlig selbst in der Hand hat. Das Verdanktsein des Lebens, nichts Anderes feiert die Eucharistie, wird jetzt in dem Moment zur kollektiven Existenzerfahrung, in dem gleichzeitig die weitgehende Unbrauchbarkeit ihrer klerikal verengten Feiergestalt offenbar wird, um dieses Verdank- und Angewiesensein zu teilen und vor Gott zu bringen. Die Möglichkeit zum traditionellen Gottesdienst hat zwar hohe symbolische Bedeutung. Im Leben der meisten Gläubigen aber ist die katholische Eucharistiefeier eine marginale Option, die man auf sich beruhen lässt: zu festgelegt, zu langweilig, zu männerlastig, zu irrelevant. Die Teilnahme am „eucharistischen Opfer“ ist nicht mehr „Quelle und Höhepunkt des ganzen christlichen Lebens“ (LG 11). Das Ereignis aber, das Eucharistie meint, ereignet sich weiterhin und jenseits kirchlicher Amtsfragen, existenziell und liturgisch. Man könnte dankbar sein dafür.
Caring god: Die kleinen (Seel)Sorge-Ereignisse wertschätzen
2. Caring god: Kirche und Theologie waren lange sprachlos, auch weil im Schock der Krise offenbar kein wirklich religiös tragfähiger Begriff ihrer eigenen diakonischen und alltagsseelsorglichen Wirklichkeit zur Hand war. In Gestalt von Caritaseinrichtungen, Pflegeheimen, Seelsorger*innen, gemeindlicher Hilfe für Risikogruppen ereignet sich eine konkrete, aber religiös unaufdringliche Form des christlichen Gotteszeugnisses. Allerdings sitzt die überholte Unterscheidung von Welt- und Heilsdienst ganz tief: Wenn es ernst wird, hält sogar die verfasste Kirche selbst ihre alltägliche oder professionelle Nächstenliebe erst Mal „nur“ für Humanismus. „Die Bilder von den leeren Kirchenbänken zeigen: Christinnen und Christen werden gerade woanders gebraucht. Sie feiern anders Gottesdienst. Sie helfen, beraten, schweigen, beten. Vielleicht müssen die Kirchen ihre Unsichtbarkeit aushalten, damit der sichtbar wird, den sie bekennen.“ (Petra Bahr) Die zu starke Konzentration auf traditionelle Sichtbarkeit von Kirche entwertet die flüchtigen „Care-Ereignisse“ von Begegnung und Bestärkung, von Gottes- und Nächstenliebe, von denen Menschen im Lockdown leben – und auf die es auch theologisch ankommt.
Das Fragile des Glaubens ist robuster
3. Das Fragile des Glaubens ist robuster: Wenn ich recht sehe, dann war und ist in Kirche und Theologie wenig Vertrauen in die krisenfeste Brauchbarkeit ihrer Botschaft vorhanden. Und krisenfest heißt eben nicht „Augen zu und durch“, sondern situativ mit der leisen Wirklichkeit Gottes rechnen. Kirche vermittelt sich und anderen hier oft, sie hätte mit Sprache, Ämtern, Ritualen und dem Katechismus Gott und die Welt sicher im Griff. Der Kirche sei von Gott die Verfügung über seine Präsenz in der Welt gegeben (was ihr auf Erden bindet, Mt. 18,18). Sie kennt Gottes Heilsplan. Das Virus offenbart jetzt aber die ambivalente Ereignishaftigkeit der Welt: Das Unverfügbare kommt zurück in die Wirklichkeit, und erschüttert zu starre Ordnungen des Heiligen. Das erinnert daran, dass nicht Ordnung und Sicherheit das Geschäft von Theologie und Kirche sind, sondern Hoffnung und Vertrauen angesichts von Ungewissheit und der Verletzbarkeit des Lebens.
Drei Spuren der Pastoral in Coronazeiten
Seelsorglicher Takt in allen Kirchenvollzügen: Seelsorge als tröstende und bestärkende Begleitung angesichts der Fragilität des Lebens rückt an die erste Stelle. Das gilt auch für Gottesdienste, egal in welchen medialen Formen (digital/analog). Amtsfragen dürfen Seelsorge nicht blockieren. Und Seelsorger*innen brauchen dafür in ihren experimentellen Suchbewegungen dafür Ermutigung und selbst Rückhalt.
Raum für die existenzielle Wucht der Krise: Kirche wäre der Ort für die großen „Warum“-Fragen der Krise, für Angst, Wut, Trauer und Klage als Protest. Wenn Gott als absoluter Weltenlenker aber als Adressat unglaubwürdig geworden ist, braucht es wohl andere, „schwächere“, erfahrungsnähere Ausdrucksformen.
Praktische Solidarität mit den Verwundbarsten: Im ersten Lockdown gab es im Nahbereich und in den Caritas- und Diakonieeinrichtungen viel „unsichtbare“ praktische Hilfe und Solidarität: Not sehen und handeln ist auch jetzt Gotteszeugnis und nicht Nichts. Kirche könnte sich nicht nur für Eucharistie, sondern mit ihren Mitteln (Räume, Gelder, religiöse Sichtbarkeit) für die am meisten von der Krise betroffenen Einsetzen.
(Er)Warten im langen Advent
Es wird ein langer Advent werden, eine lange Zeit des (Er)Wartens auf sinkende Infektionszahlen, auf einen Impfstoff, auf den Eingang staatlicher Hilfen zum wirtschaftlichen Überleben. Erfahrungsbezug von Theologie heißt vielleicht gerade helfend und hoffend zu „Warten auf das Ereignis Gottes“ (Frere Roger, Gründer von Taizé).
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Michael Schüßler ist Professor für Praktische Theologie in Tübingen und Redaktionsmitglied von feinschwarz.net.
Bild: pixabay
[1] Christiane Bundschuh-Schramm, Der Gott von gestern, PuFo 13/2020, 28-31, 28.