Am 21. Februar gingen in Luzern wieder einmal Kirche und Theater Hand in Hand beim ökumenischen Theatergottesdienst „Inspiration“. Feinschwarz veröffentlicht die Predigten von Franziska Loretan-Saladin und Marcel Köppli anlässlich dieses Gottesdienstes.
„Dantons Tod“ von Georg Büchner spielt zur Zeit der Französischen Revolution. Danton geht an seinem eigenen Verhältnis zur Revolution zugrunde. Er sieht sich verstrickt in eine Spirale der Gewalt, der er sich nicht mehr entgegenzustellen vermag. Seine ehemaligen Mitstreiter Robespierre und St. Just sehen jedoch im Blutbad unter der Guillotine die notwendige Folge der Revolutionsidee, welche die Menschheit voranbringen wird.
Die Ensemblemitglieder des Luzerner Theaters Wiebke Kayser als Julie und St. Just sowie Christian Baus als Danton spielten Szenen aus Georg Büchners Stück, das aktuell im Luzerner Theater gezeigt wird, und trugen beispielsweise die Rede des St. Just auf die Kanzel der Matthäuskirche. Der evangelische Pfarrer Marcel Köppli und die katholische Theologin Franziska Loretan-Saladin konfrontierten die Szenen aus Büchners Danton mit Worten des Paulus aus Röm 7,18-25a.
Predigt Franziska Loretan-Saladin
Georg Büchner fordert mich heraus. Ich bin kein Danton, gehöre nicht zu den Revolutionärinnen, weder damals noch heute. Aber Büchners Danton stellt Fragen. Unbequeme. Und er ist hartnäckig.
„Sie werden es nicht wagen“, ihn gefangen zu nehmen und hinzurichten, wiederholt er trotzig. Doch er hat keine Kraft mehr für den Widerstand. Er flüchtet in den Genuss. Oder ins Philosophieren über die Gewohnheiten des Alltags. Zum Überdruss kommt der Albtraum, aus dem ihn seine Frau Julie weckt. Danton ringt mit den Folgen seines Tuns. Die vielen Morde des Septembers – sie schienen notwendig, um die Errungenschaften der Revolution zu retten. Doch Danton spricht von Sünden, durch die es für ihn nicht mehr still und dunkel wird. Er fragt sich: „Was ist das, was in uns hurt, lügt, stiehlt und mordet?“
Wofür bin ich verantwortlich?
Nein, wir sind keine Revolutionsführer, weder im 18. Jahrhundert, noch heute in Ägypten oder Syrien. Sie und ich, auch unsere Politikerinnen und Richter, morden nicht. Unsere Situation ist mit der Dantons nicht vergleichbar.
Und doch: Dieses Ringen – das kenne ich, das kennen wir. Wofür bin ich verantwortlich? Für die Armut der Menschen in Haiti? Für das Klima am Arbeitsplatz? Für das Schmelzen der Gletscher? Für die politischen Entscheidungen in unserem Land, unserer Stadt?
Nein, ich bin nicht für alle Ungerechtigkeit in der Welt persönlich zu behaften. Aber wo beginnen und wo enden die Folgen meines Tuns und Nicht-Tuns?
Auch den Überdruss gegenüber solchen Fragen, ja, den gibt es. Ich will und kann mich nicht für alles verantwortlich fühlen. Der Krieg in Syrien macht mich betroffen, wütend und traurig. Ich bin hin und her gerissen, ob ich die immer neuen und doch gleichen Nachrichten noch hören will oder einfach überblättern, da ich ja doch nichts ändern kann. Wie mir geht es Vielen.
Die Frage der Verantwortung für das eigene Handeln und seinen Folgen hat auch Paulus beschäftigt:
Ich tue nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse, das ich nicht will. Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, dann bin nicht mehr ich es, der so handelt, sondern die in mir wohnende Sünde. (Röm 7, 19-20)
„Was ist das, was in uns hurt, lügt, stiehlt und mordet?“ fragt Danton.
Paulus und Danton, auch wenn sie unterschiedlichen Weltanschauungen angehören, sprechen von der Sünde als einem in ihnen wohnenden „Es“, als eine Art fremde Macht, die sie nicht abschliessend erklären können.
Einen Gegenpol zu diesem existentiellen Ringen bildet der Eifer des St. Just. Schuldigwerden ist in seiner Rede keine Kategorie. Die Revolution kommt wie eine Naturkatastrophe über die Menschen, um sie weiterzubringen. „Soll eine Idee nicht ebenso gut wie ein Gesetz der Physik vernichten dürfen, was sich ihr widersetzt?“ Das Ziel rechtfertigt das Handeln, fordert eben seine Opfer. Welch grausames Bild:
Die Revolution zerstückt die Menschheit um sie zu verjüngen. Die Menschheit wird aus dem Blutkessel wie die Erde aus den Wellen der Sintflut mit urkräftigen Gliedern sich erheben, als wäre sie zum ersten Male geschaffen.
(St. Just)
Das biblische Bild der Sintflut verbindet sich in St. Justs Rede mit dem „Blutkessel“ der Revolution. Dem Blutvergiessen schreibt er beinahe reinigende Funktion zu.
Gerne beriefen und berufen sich politische Anführer auf die Eindringlichkeit religiöser Bilder. Damals wie heute wird die Religion missbraucht, um Gewalt und Krieg zu legitimieren. Die Fragen von Danton und Paulus, der Fanatismus des St. Just – was haben wir damit zu tun? Gelingt es nicht, das Gute zu verwirklichen, ohne das Böse zu tun? Gibt es keine bessere Zukunft ohne Opfer? Fragen über Fragen. Büchner stellt sie auf seine Art und fordert Denken und Glauben heraus.
Welche Rolle spielt Gott in diesem Ringen? Sind die Menschen eine Fehlkonstruktion seiner Schöpfung, da es ihnen nicht gelingt, gerecht und gut zu handeln? Die Vorstellung des Sündenfalls, der Erbschuld ist eine der Antworten des christlichen Glaubens auf diese Frage. Die Schuld, in die wir verstrickt sind, hat eine Dimension, für die wir nicht persönlich verantwortlich sind. Und doch sind wir nicht entbunden vom je neuen Versuch, gut zu leben und gerecht zu handeln.
Predigt Marcel Köppli
Georg Büchner fordert auch mich heraus. Auch ich bin kein Danton, auch ich sehe mich nicht als Revolutionär. Aber ich sehe revolutionäres, bei Danton und beim Apostel Paulus.
Menschen kontaktieren mich, weil ich ein offenes Ohr und einen verschwiegenen Mund habe.
Kritiker werfen dem Christentum gerne vor, die Rede von der Sünde diene nur einem Zweck, nämlich, dem Machterhalt der Kirche. Nach meiner Einschätzung ist die Kirche hier bei uns in der Schweiz mittlerweile so schwach und bedeutungslos geworden, dass dieses Spiel – zum Glück! – schon längst ausgespielt ist. Menschen kontaktieren mich nicht, weil sie sich schuldig fühlen und von mir als Vertreter der Institution Kirche eine Absolution von ihren Sünden erhoffen. Menschen kontaktieren mich, weil ich ein offenes Ohr und einen verschwiegenen Mund habe. Das bedeutet nun aber noch lange nicht, dass für die heutigen Menschen die Sünde kein Thema mehr wäre. Nicht Sünde im Sinne eines abstrakten theologischen Konstruktes, sondern Sünde im Sinne von existentiellen Fragen: Habe ich genug Zeit mit meinem demenzkranken Vater verbracht? Was habe ich falsch gemacht, dass meine Tochter nicht mehr mit mir spricht? Weshalb bin ich nicht glücklich, obwohl ich hier in der Seniorenresidenz alle Annehmlichkeiten des Lebens habe und nicht in einer zerbombten syrischen Stadt lebe?
Der ungeschönte Blick, mit dem die beiden … in ihr Herz blicken.
Auch hier wieder: Fragen über Fragen. Das Revolutionäre bei Danton und bei Paulus sehe ich im ungeschönten Blick, mit dem die beiden die menschliche Existenz analysieren, mit dem die beiden in ihr Herz blicken.
Das Unwort des Jahres 2015 in Deutschland heisst «Gutmensch». Die Jury hat – wie mir scheint – eine gute Wahl getroffen. Sie haben damit Menschen entlarvt, die Toleranz und Hilfsbereitschaft pauschal als Helfersyndrom oder moralischen Imperialismus diffamieren wollten.
Und trotzdem denke ich, legt der Ausdruck «Gutmensch» den Finger auf eine offene Wunde. Wer von uns hier in Europa möchte nicht das Gute? Wer von uns möchte nicht, dass alle Menschen ein selbstbestimmtes Leben führen können? Und doch können oder wollen wir all die Flüchtlinge nicht aufnehmen, die zu uns nach Europa gelangen. Sind wir deswegen alles «Schlechtmenschen»? Ist jene Frau in der Seniorenresidenz, die trotz ihres schlechten Gewissens keinen syrischen Flüchtling in ihre grosszügige Wohnung aufnehmen möchte, ein «Schlechtmensch»?
Danton resigniert … Paulus seufzt fragend und ruft hoffend
Dantons und Paulus Gedanken sind revolutionär. Revolutionär, weil sie den Kampf zwischen dem Guten und Bösen nicht als Kampf zwischen jenen anderen sehen, jenen Gutmenschen und Schlechtmenschen dort draussen. Nein, sie blicken in sich und sehen, wie das Gute und Böse hier drin miteinander kämpft.
Was unterscheidet dann die beiden? Es ist nicht viel, doch entscheidendes: Danton resigniert und gibt auf, sucht die Zeit, die ihm bis zu seinem Tod noch bleibt, so gut wie möglich auszukosten und zu geniessen. Paulus seufzt fragend (Röm. 7, 24f) „wer wird mich aus diesem dem Tod verfallenen Leib erretten?“, und ruft dann hoffend „Dank sei Gott durch Jesus Christus, unseren Herrn!“
Resigniertes Aufgeben und Genuss bei Danton; seufzendes Klagen und Jenseitshoffnung bei Paulus. Auf wen wollen wir hören? Wem wollen wir folgen? Fragen über Fragen, ich bin überfragt. Überfragt, auch wenn mir Paulus Strategie naheliegt und wir sie in diesem Gottesdienst miteinander praktizieren. Überfragt, selbst wenn ich überzeugt bin, Paulus Vorstellung sei die richtige.
Predigtgebet Marcel Köppli
Gott, wer bist du?
Wenn wir auf diese, deine Welt blicken,
kommen wir ins Grübeln, fragen uns:
Wer bist du, angesichts von all dem, was wir da sehen?
Wer bist du?
Und an wen meinen wir zu glauben?
Gott, wir kommen ins Grübeln, fragen uns, wer du bist.
Weisst du zumindest, wer wir sind?
Kennst du uns?
Glaubst du an uns?
Ich will, ich muss, ich kann nicht anders, als glauben, dass du uns kennst und an uns glaubst. Ich will es glauben, so, wie es viele vor mir geglaubt haben und auch hier und jetzt in dieser, deiner Kirche mit mir glauben. Mit Paulus (Röm. 7, 25) seufze ich: „Dank sei Gott durch Jesus Christus, unseren Herrn.“ Amen
Franziska Loretan-Saladin und Marcel Köppli
Bild: Luzerner Theater, Ingo Höhn