Egbert Ballhorn entdeckt biblische Visionen als Inspirationsquellen für Zukunftsfragen.
„In jenen Tagen war das Wort des Herrn kostbar geworden, eine Vision brach nicht durch“ (1Sam 3,1)
Visionen sind ein sensibles Thema. Wer hat sie? Wer beglaubigt sie? Was bewirken sie? Visionsarbeit ist ein erprobtes Instrument der Unternehmensberatung. Visionen tragen dazu bei, das Unternehmenshandeln auf ein zukünftiges Ziel auszurichten und alle Beteiligten dorthin mitzunehmen. Beim Begriff der „Vision“ treffen Bibel und Unternehmensberatung auf eine durchaus ungewohnte Weise in Korrespondenz: Bibel als säkulare Inspirationsquelle. Auch viele Bistümer stoßen Zukunfts- und Leitbildprozesse an. Wie steht es also um die Bedeutung von Visionen im Raum der Kirche? Was kann die biblische Sicht zur Frage nach Visionen in der Kirche beisteuern?
Was kann die biblische Sicht zur Frage nach Visionen in der Kirche beisteuern?
Am biblischen Visionsbegriff scheint mir wichtig zu sein, dass sie von „außen“ kommen. Biblische Visionen werden nicht „entwickelt“, sondern sie überfallen geradezu den Propheten. Unerwartet und ungewollt werden ihm Bilder von Gott vor Augen gestellt.
„Das Wort des Herrn erging an mich: Was siehst du, Jeremia? Ich antwortete: Einen Mandelzweig sehe ich. Da sprach der Herr zu mir: Du hast richtig gesehen; denn ich wache über mein Wort und führe es aus.“ (Jer 1,11-12)
Gott zeigt, Jeremia sieht, Gott deutet. Der blühende Mandelzweig ist schon an sich ein einprägsames Bild, ein Zeichen für den kommenden Frühling. Dazu kommt noch ein Wortspiel:Im Hebräischen klingt das Wort für „Mandelzweig“ wie das Wort für „Wachen“. Martin Buber deshalb botanisch-kongenial Jeremia in seiner Übersetzung einen „Wach-holder“ sehen lassen. In einem weiteren Schritt wird das Gesehene von Gott gedeutet. Ein zweites Bild wird Jeremia gezeigt: ein brodelnder Kessel, der sich neigt – ein Zeichen für die Stadt Jerusalem, über die sich bald Feinde ergießen werden.
Prophetie ist Zumutung
Prophetie sieht mehr und weiter. Die beiden Visionen des Jeremia sind womöglich typisch für zwei grundsätzliche Erweckungsbotschaften: die Ansage zerstörerischer Konsequenzen, wenn das Volk die Wege Gottes verlässt, aber auch die Ankündigung von aufblühendem Leben in heilloser Zeit. Prophetie ist Kontrast zur Wirklichkeit, Prophetie ist Zumutung, Prophetie ist Ermutigung in dürrer Zeit.
Bei alledem tut sich die Bibel nicht leicht mit prophetischen Schauungen. Von außen ist nicht sichtbar, ob der Prophet eine echte göttliche Eingebung hatte, oder ob er bloß im Namen eigener Machtlust eine persönliche Agenda verfolgt. Die Auseinandersetzung um Falschpropheten durchzieht die Schrift. Das Misstrauen gegenüber Berufspropheten, die Herrschern nach dem Mund reden, ist zu Recht groß (Jer 27,9).
Gelebte Freiheit, gelebte Gemeinschaft, gelebte Gerechtigkeit
Von allen Propheten ist Mose der erste, der größte und der bedeutendste. Er hat nicht nur das Volk aus der Sklaverei in die Freiheit geführt, er hat ihm auch am Sinai die Tora übermittelt, den bleibend gültigen Gotteswillen für das Leben im Land der Verheißung. Mit der Übergabe der Tora ist letztlich auch die Frage nach der rechten Prophetie entschieden: Jedes Prophetenwort muss sich fortan daran messen, ob es diese einmalige Gottesweisung als Maßstab nimmt und ihr Anliegen in die jeweilige Gegenwart übersetzt. Man geht nicht zu weit, wenn man die dem Volk Israel am Sinai übergebene Weisung als die „Großvision Gottes für sein Volk“ ansieht (G. Steins): eine Vision von gelebter Freiheit, von gelebter Gemeinschaft und gelebter Gerechtigkeit. In der christlichen Wirkungsgeschichte hat sich der Blick von der gesamten Tora vielleicht zu sehr auf den Dekalog konzentriert und dann auch noch einmal diesen vorrangig als Verbotsliste wahrgenommen und zu einem individuellen Beichtspiegel gemacht. Tora ist jedoch viel mehr: Sie ist das Medium der Gottesbeziehung Israels. Die geschenkte Freiheit aus allen Versklavungen wird so in Vorstellungen und Vorschriften von Alltagshandlungen übersetzt, dass die einzigartige Gottesbeziehung lebensförderliche Menschenbeziehungen und eine gerechte Gesellschaftsgestaltung zur Folge hat.
Kirche: Visionen für die Welt
Ein persönliches Offenbarungsmoment war für mich das Gespräch mit einer Kollegin im kirchlichen Dienst. Sie sagte mir: „Es geht eigentlich weniger um die Frage einer Vision von Kirche, sondern mehr um die Frage einer Vision für die Welt“. Das hat mir die Augen geöffnet. Sind die derzeit heiß diskutierten Fragen vielleicht nicht doch zu sehr binnenorientiert? Ist uns als Kirche nicht ein ganz anderer Auftrag und ein viel weiterer Horizont gegeben?
Liest man vor diesem Hintergrund Tora, auf der Suche nach ihren Visionen für die Welt, dann finden sich darin erstaunliche Vorstellungen: Die Vision einer gerecht wirtschaftenden Gesellschaft, die dauerhafte Besitzanhäufung nicht zulässt (Lev 25), die Vorstellung von der Heiligkeit Gottes, die sich in nächstenliebende Verhaltensweisen im Alltag übersetzen lässt (Lev 19), eine Ethik, die das Recht des Armen, des Fremden und des Schwachen im Blick hat (Ex 23,1-9) das Bild einer Gemeinde, die durch Feiern, Freude und Teilen Schranken überwindet (Dtn 14,22-27), die Idee einer Gewaltenteilung im Volk Gottes, die Ämter vor Übermacht schützt (Dtn 16-18), das Bewusstsein, dass Frauen und Männer sich rechtlich gleich stehen (Dtn 15,12), tierethische (Dtn 22,6f.) und ökologische (Dtn 20,19) Bestimmungen.
Propheten, die geheimes Wissen enthüllen, braucht es nicht
Mit dieser Grundlegung der Tora als Großvision ist jeder nachfolgenden Prophetie ein Maßstab gegeben. In Dtn 29,28 heißt es: „Was noch verborgen ist, steht bei dem Herrn, unserem Gott. Was schon offenbart ist, gilt für uns und unsere Kinder auf ewig: dass wir alle Bestimmungen dieser Weisung halten sollen“. Das heißt im Klartext: Propheten, die geheimes Wissen enthüllen, braucht es nicht. Alles, was zum Leben nötig ist – jetzt und für die Zukunft – hat Gott in der Tora mitgeteilt. Es liegt ja offen zutage. Haltet euch daran! Lebt so! Die Aufgabe des prophetischen Amtes ist damit nicht überflüssig, wohl aber wird sie neu definiert: Die Weisung Gottes wachhalten.
Wird die Gotteswirklichkeit übersehen, läuft das Volk und laufen seine Anführenden in die falsche Richtung, trotz aller Gutwilligkeit und aller Institutionen, die dem gottgefälligen Leben dienen. Hier muss Prophetie aufrütteln und an das erinnern, was eigentlich alle wissen können und müssen – was nur mitunter aus dem Blick gerät, weil sich bequeme Wege eingespielt haben, weil es zu aufwendig ist, weil es den Machteliten nützt.
Prophetie muss aufrütteln
Und so erinnern Prophetinnen und Propheten das Volk nachdrücklich an die Tora, die soziale Gerechtigkeit fordert (Jer 2,8; Jes 1,10.17). Schließlich taucht in der nachexilischen Zeit der Schreiber-Gelehrte Esra auf. Mit ihm wird formal das „Ende der Prophetie“ eingeläutet. Und dennoch ist es kein Ende, vielmehr Besinnung auf die selbstverständliche Grundlage: „Esra war von ganzem Herzen darauf aus, die Weisung des Herrn zu erforschen und danach zu handeln und Gesetz und Rechtsentscheid in Israel zu lehren“ (Esr 7,10). Mehr braucht es nicht.
Erstaunlich ist, dass in den Texten der Arbeitsgruppen des Synodalen Weges beim Bezug auf die Bibel fast ausschließlich in ihrer neutestamentlichen Hälfte zitiert wird. Ist das Neue Testament schon die gesamte Heilige Schrift der Christenheit? Lässt man damit nicht den größten Anteil des Gotteswortes links liegen? Und auch manche seiner Visionen?
Sich von den biblischen Texten überraschen zu lassen
Das Prophetische lässt sich nicht formalisieren und strukturell sichern. Es ist gleichermaßen ein Amt – und muss doch immer wieder neu von Gott erweckt werden (Dtn 18,15). Der Maßstab ist die Schrift, wohlgemerkt die ganze Schrift, nicht allein eine Auswahl des Gewohnten aus ihr. Die Suche nach den Visionen hat ihren Haftpunkt in einer beständigen Lektüre der Bibel – in einer Haltung, sich von den Texten überraschen zu lassen, sich von ihnen korrigieren und neue Horizonte eröffnen zu lassen. Gerade, wo ihre Aussagen ungewohnt und unbequem sind, sollte man vielleicht besonders gut hinschauen. Es geht nicht um eine biblische Ausrichtung, die mit dem formalen Einstreuen von Bibelzitaten abgehakt wäre. Ich habe Sehnsucht nach einer Kultur des Wortes Gottes als Aufgabe des gesamten Gottesvolkes und als Verpflichtung seiner Leitung. Das könnte uns die Augen öffnen. Was ist unsere Vision für die Welt?
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Dr. Egbert Ballhorn ist Professor für Theologie und Exegese des Alten Testaments an der TU Dortmund und Vorsitzender des Katholischen Bibelwerks e.V.
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