Allen aktuellen Diskussionen um die katholische Kirche, ihre Strukturen und notwendige Veränderungen stellt Fulbert Steffensky mit seinem Blick von aussen die Stärken des Katholizismus an die Seite. Eine Einladung.
Ich bin nicht katholisch, ich war es bis in die Mitte meines Lebens. Mit 36 Jahren bin ich in die evangelische Kirche eingetreten. Ich wähle das kühle Wort: ich bin eingetreten. Es war keine Konversion, es war kein besonderes inneres Erlebnis, das mich zu diesem Kirchenwechsel veranlasst hat. Es war eher ein Vereinswechsel, oder noch schlichter gesagt: Es war wie ein Umzug von München nach Berlin. Ich bin immer skeptisch, wenn Menschen Kirchenwechsel als dramatische Konversionen schildern.
Zur ökumenischen Freiheit gehört es, sich an der Stärke der anderen zu erfreuen.
Beide Kirchen, die evangelische und die katholische, könnten mir Heimat sein, und in keiner von ihnen bin ich ganz zuhause. Kirchen sind Transitstationen der Wahrheit, mehr nicht und nicht weniger. Nun also bin ich nicht mehr katholisch und sehe auf den Katholizismus mit einem Blick von aussen. Das hat einen Vorteil: weil ich nicht mehr dazugehöre, bin ich nicht gebannt von dem, was im Katholizismus unselig ist und unselig läuft. Ich bin freier, die Schönheit des Katholizismus zu sehen und mich an ihr zu erfreuen. Zur ökumenischen Freiheit gehört es, sich an der Stärke der anderen zu erfreuen und den Neid auf die Begabung zu verachten.
Katholische Frömmigkeit tritt immer dramatisch nach aussen.
Über welche Begabung des Katholizismus freue ich mich also? Zunächst finde ich es schön, dass der Glaube und seine Innerlichkeit so viel Spiel findet in Zeichen und Gesten. Katholische Frömmigkeit tritt immer dramatisch nach aussen. Sie wird Leib und Geste und sie liegt nicht nur im Herzen von Menschen. Sie liegt in den Inszenierungen des Glaubens, im Rosenkranz der durch die Hände gleitet; in den vielen Segnungen, in den Kerzen, die aufgestellt werden. In den Prozessionen wird der Glaube zu Beinen, die gehen. Katholiken beten nicht nur mit Herz und Mund. Ihre Hände sind fromm, wenn sie das Kreuzzeichen schlagen; sie sind mit den Fingern fromm, die in Weihwasser tauchen. Die Frömmigkeit findet viele Tänze, sie wird Leib.
Er birgt sein Glück oder sein Unglück in einem kleinen Tanz.
Ich nenne eine kleine Geste, die im Katholizismus zuhause ist, das Anzünden von Kerzen in der Kirche, ein kleiner Tanz der Wünsche. Was tut ein Mensch, der dort eine Kerze aufstellt? Vielleicht hat er ein besonderes Glück erfahren, vielleicht hat ihn ein Unglück getroffen. Er inszeniert sein Glück oder sein Unglück. Er birgt es in einen kleinen Tanz. Er geht in die Kirche, er nimmt eine Kerze, er steckt sie an, er sieht sie brennen, er steckt seine Wünsche und seine Gebete in die Flamme. Er kehrt sein Inneres nach außen. Seine Wünsche bleiben nicht in seinem Herzen verborgen, sie werden nicht nur in einem Gebet gesprochen. Sie werden Form und Geste, sie werden Bild, Szene und Darstellung. Die Form bringt den Menschen intensiver ans Tageslicht als das reine Wort. Das Bild bildet den Menschen, es macht ihn klarer. Keine Innerlichkeit kommt auf Dauer mit sich selbst aus. Was nicht Form, Szene und Bild wird, ist in der Gefahr blass zu bleiben.
Was das alltägliche Leben angeht, hat seinen Platz.
Ich nenne eine andere Begabung des Katholizismus: seine alltagspraktische Bedeutung. Der Katholizismus war massiv, und ist es abgeschwächt immer noch, ein alltagsinteressierter religiöser Entwurf. Was das alltägliche Leben angeht, hat seinen Platz. Ein überzeugendes Beispiel für diese pragmatische Religiosität ist die Bedeutung der 14 Nothelfer in der Volksfrömmigkeit: Der hl. Aegidius als Helfer der stillenden Mütter; die hl. Barbara zuständig für Blitz- und Feuersgefahr; der hl. Blasius zuständig für Halsleiden; Johannes der Täufer zuständig bei Kopfschmerzen (aus ersichtlichen Gründen) und Erasmus bei Leibschmerzen; die hl. Katharina zuständig bei Sprachschwierigkeiten. Ich denke an die sakrale Kunst und die häufige Darstellung der Nothelfer. Die Kirche Vierzehnheiligen in Oberfranken ist die Kirche der Nothelfer. Es gibt oft Nothelferkapellen in katholischen Gegenden. Zumindest der alte Katholizismus war eine Welt der Begehung und des gekonnten und gehandhabten Wissens; die Welt einer sehr praktischen Theologie.
Die Religion wird kräftig und bedeutsam.
Die Bedeutung der Alltäglichkeit zeigt sich in der Bedeutung des Segens. Evangelischer Segen ist, verkürzt gesagt, der Zuspruch der Rettungstat Christi. Der katholische Segen wurzelt stärker im Schöpfungsgedanken und meint das Wachsen und Mehrenlassen, wie wir es im Alten Testament finden. Die Protestanten sind zurückhaltend den sogenannten Realbendiktionen gegenüber; d.h. sie segnen nicht gerne Autos, Pferde, Wasser, Früchte, wie es die Katholiken bedenkenlos tun. Die Stärke des Katholizismus: Die Religion wird kräftig und bedeutsam, weil sie drastisch mit den alltäglichen Nöten und dem alltäglichen Gelingen des Lebens zu tun hat. Natürlich gibt es dabei die Gefahr, dass der Glaube nur noch religiöse Handhabung und Pragmatik ist und dass Religion sich in Zwecken erschöpft. Aber die grössere Gefahr ist, dass Religion in blasser Allgemeinheit bleibt und nichts mehr mit dem realen Leben der Menschen zu tun hat.
Der Glaube ist leichter, wenn er sich nicht dauernd selbst beweisen muss.
Ich lobe mit Vorsicht die formale Geläufigkeit, die einen Platz hat im katholischen religiösen Selbstverständnis. Ich sage es am Beispiel der Messe. Die Gläubigen wissen, wann man steht, sitzt, kniet. Sie wissen, wie man auf die Epistel und das Evangelium antwortet; sie wissen, wann man sich bekreuzigt und wie man den Friedensgruss sagt. Sie wissen, dass man beim Eintritt in und beim Ausgang aus der Kirche sich mit Weihwasser bekreuzigt. Sie kennen – ein gefährliches Wort – eine religiöse Automatik, die von den Subjektivitätszwängen befreit.
Der Glaube ist leichter, wenn er sich nicht dauernd selbst beweisen muss – durch die eigenen Formen, die eigene Sprache und das selbsterfundene Ritual. Ich muss nicht Autor meiner selbst sein, wenn ich die Freiheit habe, Autor meiner selbst zu sein. Es ist ein Reichtum, Gast zu sein in der Fremde der Formen und Gedanken der Tradition. Es ist die Freiheit, nicht ganz dazuzugehören. Wer sich selber nur Heimat ist, dem ist die Heimat ein Kerker.
Ich darf mir nicht zuschauen, wenn ich bete oder einen Sonnenuntergang betrachte.
Wo man in religiösen Feiern die Formen und diese Geläufigkeiten grundsätzlich gering schätzt, da geraten die liturgischen Ereignisse unter Subjektivitätszwang. Die Gemeinde muss immer wach, aktiv und aufmerksam sein. Gewohnte Abläufe dämpfen die Bewusstheit. Diese ist zwar die Signatur des freien Subjekts, aber es gibt Situationen, in denen man sich und seine Welt in der gläsernen Selbstbewusstheit verlieren kann. Es muss Orte geben, an denen man nicht überwach ist und sich selber nicht zuschaut. In allen Momenten personaler Intensität ist man am meisten anwesend, wenn man sich vergisst. Ich darf nicht zuschauen, wenn ich jemanden küsse. Ich darf mir nicht zuschauen, wenn ich bete oder einen Sonnenuntergang betrachte. Es gibt Situationen, in denen die Selbstbewusstheit nicht intensiviert, sondern zerstört. Die gefügte Form, die Formel, das Ritual retten vor der Überbewusstheit, sie wiegen uns ein in den Geist der Sache. Die Formel negiert und erübrigt den Verstand und den Glauben des Subjekts nicht, aber sie übersteigt ihn. Die Formel ist nicht meine ausschließliche Sprache, sie ist Kirchensprache, d.h. sie ist die Sprache aller toten und lebenden Geschwister. Ihr Glaube trägt sie, nicht der kümmerliche Glaube eines einzelnen Subjekts. Sich in die Formel flüchten heißt, sich und der eigenen Kargheit entkommen. Es muss Stellen im Leben geben, an denen man von sich selber entlastet ist. Es muss Stellen geben, an denen man der eigenen Innerlichkeit müde sein und sich flüchten darf in die Gnade des Allgemeinen. Und noch ein Lob der Formel: sie erlaubt mir das halbe Herz, wo das ganze noch nicht zu haben ist.
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Fulbert Steffensky, geb. 1933, Studium der katholischen und evangelischen Theologie, 1975-1998 Professor für Religionspädagogik am Fachbereich Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg.
Beitragsbild: Frantisek Duris / unsplash.com
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