Tom Jürgasch erklärt mit Kim Kardashian und historischer Forschung den monarchischen Episkopat.
Dass Bischöfe zumindest innerkirchlich über ein gerütteltes Maß an Macht verfügen, scheint hinlänglich bekannt. Dass sich diese Form der Macht als das Ergebnis einer historischen Entwicklung darstellt, wahrscheinlich auch. Aber, könnte man mit einer Songzeile der Sterne fragen: „wo fing das an, was ist passiert“?
Aus kirchenhistorischer Perspektive ist die Frage nach den Ursprüngen bischöflicher Macht weitaus schwieriger zu beantworten, als man zunächst meinen mag. Mehr oder weniger Konsens ist dabei in der Forschung, dass die Anfänge der entsprechenden Entwicklungen bereits in der Antike liegen und grob gesagt in die Mitte des 2. Jahrhunderts fallen; haben wir doch aus dieser Zeit die frühesten Zeugnisse für eine erste gravierende Veränderung im Kontext frühchristlicher Gemeindeleitung. Anders als in den Jahrzehnten zuvor scheint es von nun an nämlich in immer mehr Gemeinden nur noch einen Bischof gegeben zu haben und nicht mehr – wie zuvor üblich – jeweils eine Mehrzahl von Bischöfen pro Gemeinde. Im Lauf der nächsten ca. 100 Jahre nimmt die Entwicklung des Machtzuwachses dieses einen Bischofs dann richtig Fahrt auf.
Er regiert an der Stelle des Allmächtigen und soll wie Gott geehrt werden.
So präsentieren uns die Quellen ab der Mitte des 3. Jh. plötzlich Bischöfe, die – ganz untypisch für die damalige Zeit – nicht mehr in kollegiale Leitungsstrukturen eingebunden sind, sondern als ‚(religiöse) Alleinherrscher‘ („monarchische Monepiskopen“) in ihren Gemeinden fungieren. Von nun an ist die Gemeinde in Bezug auf alle Fragen religiöser Theorie und Praxis vollkommen auf ihren Bischof angewiesen. Niemand darf z.B. mehr liturgische Handlungen ohne den Bischof vollziehen, etwa ohne ihn taufen oder Eucharistie feiern, und auch in Fragen der rechten Lehre und ihrer Ausdeutung stellt der Bischof das lehramtliche Maß aller Dinge dar. Wie die sog. Syrische Didaskalie, eine aus dem syrischen Raum stammende Gemeindeordnung Mitte des 3. Jahrhunderts erklärt, ist der Bischof von der Gemeinde u.a. als „König“, „Lehrer“, „Vater“, „Haupt“ und „Anführer“ anzusehen. Als solcher regiert er an der Stelle des Allmächtigen und soll sogar wie Gott geehrt werden.
Plötzlich und untypisch für die damalige Zeit nicht mehr in kollegiale Leitungsstrukturen eingebunden
Was aber konstituiert diese relativ plötzlich auftretende Macht des Bischofs? Weshalb sind Christ:innen bereit dazu, einem ihrer Mitbrüder ab dieser Zeit so viel (religiöse) Macht zuzugestehen? Ein hilfreiches Konzept zum Verständnis dieses Phänomens bieten die Überlegungen, die der Anthropologe David Graeber und der Archäologe David Wengrow in Bezug auf die Frage nach sozialer Macht anstellen. In ihrem 2021 erschienenen Werk „A Dawn of Everything“ (dt. „Anfänge: Eine neue Geschichte der Menschheit“, 2022) nähern sie sich dieser Form der Macht zunächst über die Frage an, wodurch Menschen eigentlich imstande sind, ihr Eigentum zu schützen. Welche Spielarten sozialer Macht dafür hilfreich sind, veranschaulichen sie dabei anhand des Beispiels des Schmucks des Realitystars Kim Kardashian. Warum, so Graeber/Wengrow, kann jemand wie Kim Kardashian eigentlich mit einer millionenschweren Diamantenkette unbehelligt durch Paris laufen? Drei mögliche Erklärungsansätze bieten sich an: Erstens, so unsere Autoren, verfügt Kim über eine schlagkräftige Leibwächtertruppe. Diese wisse mit potenziellen Dieben umzugehen und könne aufgrund ihrer Möglichkeit, physische Gewalt auszuüben, das Eigentum ihrer Chefin schützen. Was aber, fragen Graeber und Wengrow, wenn plötzlich alle Menschen in Besitz eines übermenschliche Kräfte verleihenden Zaubertranks gelangten, der die Schlagkraft der Leibwächter neutralisieren würde? Könnte Kim Kardashian ihren Schmuck dann trotzdem noch behalten? Das könne sie in der Tat, indem sie den Schmuck nur noch vor vertrauenswürdigen Menschen trägt und ihn ansonsten in einem Safe deponiert, zu dem nur sie den Code kennt. Verschärft würde die Situation allerdings, wenn der besagte Zaubertrank nicht nur große Kraft und Unverwundbarkeit verleihen, sondern darüber hinaus bewirken würde, dass niemand mehr Geheimnisse für sich behalten kann – auch Kim nicht. In diesem Fall wäre das Geheimwissen um die Safekombination schon bald nicht mehr geheim, und das Problem des Eigentumsschutzes und der dazu nötigen Macht stellte sich erneut. Sogar unter diesen neuen Bedingungen, meinen Graeber und Wengrow, könnte Kim Kardashian ihren Schmuck allerdings vielleicht doch noch behalten. Dazu müsste sie jedoch alle anderen Menschen davon überzeugen, dass sie so einzigartig und grandios sei, dass sie es verdiene, Dinge zu besitzen, die niemand sonst besitzen kann.
Gewaltkontrolle, Informationskontrolle und individuelles Charisma
Was Graeber und Wengrow anhand dieses Beispiels des reich geschmückt durch Paris laufenden Realitystars veranschaulichen, sind die drei möglichen Grundprinzipien sozialer Macht: Gewaltkontrolle, Informationskontrolle und individuelles Charisma. In unserer Geschichte werden diese Prinzipien repräsentiert durch die schlagkräftige Leibwächtertruppe (Gewaltkontrolle), das Geheimwissen um den Safecode (Informationskontrolle) und Kardashians betörende Überredungskraft (individuelles Charisma). Darüber hinaus jedoch, so unsere Autoren, sind diese Prinzipien schon immer in allen menschlichen Gemeinschaften am Werk: von der Kleinfamilie, über frühmesopotamische Stadtgemeinschaften, das Inkareich bis hin zu unseren heutigen Staaten und Staatenbünden. Je nachdem, wie viele dieser Prinzipien zur Anwendung kommen, würden dabei Herrschaften unterschiedlicher Ordnungen konstituiert. Ist ein Prinzip wirksam, liege eine Herrschaft erster Ordnung vor, bei zwei Prinzipien eine Herrschaft zweiter Ordnung, sind alle drei Prinzipien wirksam, sei von einer Herrschaft dritter Ordnung zu sprechen. Was aber, so die naheliegende Frage, hat dies mit unseren spätantiken Bischöfen und deren Macht zu tun?
Stilisiert zu vollkommenen theologischen Lehrern, Märtyrern und Asketen
Vor dem Hintergrund des Graeber-Wengrow’schen Modells sozialer Macht lässt sich die bischöfliche Macht des 3. Jh. als eingebettet in eine Herrschaft zweiter Ordnung betrachten. Entscheidend sind für diese Herrschaft die Prinzipien der Informationskontrolle und des individuellen Charismas, die christliche Texte wie die bereits genannte Syrische Didaskalie und die ab dem 3. Jh. immer populärer werdenden Bischofsviten den in ihnen dargestellten Bischöfen in stilisierter Form zuschreiben. In diesen Texten erscheinen Bischöfe immer mehr als vollkommene theologische Lehrer, die zudem über besondere Formen liturgischen Wissens und liturgischer Kompetenz verfügen, die einzig sie zum Vollzug wahrhaft gottgefälliger gottesdienstlicher Praktiken befähigen. Damit nicht genug stilisieren diese Texte die Bischöfe auch immer mehr zu Märtyrern bzw. später zu Asketen, die sich als solche besondere Verdienste vor Gott erworben haben und denen daher ein besonderes individuelles Charisma zukommt. Beides zusammengenommen, seine theologische wie liturgische Informationskontrolle sowie sein durch Martyrium bzw. Askese gewonnenes Charisma, verleihen dem Bischof ab dem 3. Jh. eine Form sozialer Macht, die seinem Amt mutatis mutandis über Jahrhunderte weg eine herausragende Stellung gewähren wird.
Bis heute wirksam – noch jedenfalls
Und jetzt? Und heute? Wenn William Faulkner Recht hat und die Vergangenheit nicht tot ist, ja nicht einmal vergangen, dann ist es möglicherweise von Nutzen, mit wachem Verstand darauf zu schauen, wie diese Vergangenheit auch heute noch präsent ist und wie Formen sozialer Macht, die in der Spätantike etabliert wurden, bis heute wirksam sind – noch jedenfalls.
__________
Bild: NoName_13 auf Pixabay
Thomas Jürgasch ist Juniorprofessor für Alte Kirchengeschichte und Patrologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Tübingen.