Der Frage nach der Freiheit geht Sarah Rosenhauer mit Christoph Menke nach, der in seiner „Theorie der Befreiung“ die repressive Kehrseite unserer emanzipativen Freiheitsidee offenlegt. Während für Menke auch die Religion dem Umschlag von Freiheit in Unterdrückung nicht zu entkommen vermag, sieht Rosenhauer im jüdisch-christlichen Liebeszeugnis das Zentrum einer neuen Freiheit.
1. Ist jede Befreiung umsonst?
Was macht uns frei? Die Antwort, die am normativen Grund unseres modernen, westlich-liberalen Selbstverständnisses steht, lautet: Wir sind es selbst! Diese emanzipative Haltung hat uns viele Freiheiten gebracht: Bürger:innenrechte, einen liberalen und demokratischen Staat und nicht zuletzt Religionsfreiheit. Doch, so die kritische Diagnose, mit der Christoph Menke seine vieldiskutierte Theorie der Befreiung[1] eröffnet, sie hat uns nicht frei gemacht. Das Scheitern der emanzipativen Antwort liegt nun nicht darin, dass sie die falschen Forderungen gestellt hätte. Es liegt darin, dass sie den wahren Grund der Unfreiheit verkennt, indem sie ihn vornehmlich in äußerem Zwang sieht. Befreiung bedeutet dann politisch-rechtliche Emanzipation aus Situationen äußeren Zwangs, sie bedeutet, vom Knecht zum Subjekt zu werden: handlungsmächtig und selbstbewusst.
Der Mensch als Gewohnheitstier mit äußeren und inneren Zwängen.
Doch das handlungsmächtige Subjekt ist nicht das freie Subjekt. Die Befreiung zur Handlungsfähigkeit tauscht den äußeren Zwang autoritärer Bevormundung durch den inneren Zwang der Sozialität, die unser Selbstverhältnis und unsere Praxis des Bestimmens normiert, weil und indem sie uns zur Gewohnheit, zur zweiten Natur, geworden ist. Sie macht uns nicht frei, sondern zu Gewohnheitstieren.
Herrschaft basiert nicht zuerst auf Legitimität (dass wir ihr selbstbestimmt zustimmen können), sondern auf Gewohnheit (darauf, dass wir sie, ihre Normen, als natürlich empfinden, dass sie uns zur zweiten Natur geworden sind). Und weil soziale Gewohnheit der wahre Grund der Unfreiheit ist, können wir nur frei werden, wenn wir mit ihr brechen, wenn wir uns aus dem Sozialen, unserer sozialen Gewohnheitsexistenz, befreien. Das kann sehr unterschiedlich aussehen. Das von Menke beschriebene Spektrum reicht von Walter White (dem Protagonisten der Fernsehserie Breaking Bad) bis – und spätestens hier wird es für die Theologin interessant – zu Mose (dem Protagonisten des Exodus).
Walter White steht paradigmatisch für ein ökonomisch-neoliberales Modell der Befreiung. Es sagt: Wir gewinnen Freiheit von der Macht der Gesellschaft durch ökonomische Selbstständigkeit. Sie ermöglicht uns eine wahrhaft individuelle Lebensführung, in der wir unsere Vermögen ungeachtet sozialer Rücksichtnahmen und Abhängigkeiten nutzen und steigern können.
Religion als Befreiung?
Das religiöse Befreiungsmodell wird paradigmatisch in der Exodusgeschichte erzählt. Sie erzählt den Exodus als befreienden Auszug aus der Sittlichkeit, an dessen Beginn der Ruf Gottes steht. Dieser Ruf hat die Form einer Anrede, die nichts beinhaltet als das Gebot, zu hören. Und das befreiend ist, weil es in seiner Unbedingtheit unerfüllbar ist und so die sittliche Identität von Selbst und Gesetz aufbricht: Wir sind nicht sittliche Gewohnheitstiere, nicht mehr Teile der Gesellschaft, deren Identität durch soziale Konventionen und Rollenzuschreibungen konstituiert ist, wir sind Hörende gegenüber Gottes Gebot.
Das ökonomische Modell verspricht: Wir werden wahrhaft frei, wenn wir uns radikal selbst verwirklichen. Das religiöse Modell sagt: Wir werden frei, wenn wir dem unbedingten Gebot Gottes gehorchen.
Dass die ökonomische Antwort nicht tragfähig ist, zeigt die Überschrift, die über Walter Whites Lebensgeschichte steht: Breaking Bad. Geht also die wahre Befreiung über den Weg des Gehorsams gegenüber dem göttlichen Gebot?
Religiöse Befreiung scheitert an seiner Vergesetzlichung.
Aber auch hier liegt die Freiheit nicht. Denn die religiöse Befreiung vom sittlichen Gesetz durch den unbedingten Appell Gottes kommt nicht umhin, sich selbst zu vergesetzlichen. Im Versuch, die Anrede, das Gebot Gottes, das alles Menschliche relativierende Unbedingte, zu erinnern, wird aus der Offenbarung die Religion: Das Gebot wird in ein System ritueller und orthodoxer Institutionen, und Vorschriften übersetzt – Gotteswort wird zu Menschenwort – und dadurch gerade seiner Unbedingtheit beraubt. Das religiöse Modell scheitert daran, dass es die Erfahrung seines göttlichen Grundes nur so bewahren kann, dass es sie gleichzeitig verliert. Wir haben das befreiende Gebot nur in Form des knechtenden Gesetzes.
Ist also jede Befreiung umsonst?
2. Eine andere Befreiung?
Menkes Ausweg ist die ästhetische Erfahrung. Wir werden frei – frei von den inneren Zwängen der Gewohnheit, der Ereignislosigkeit einer sozialen Existenz – indem wir etwas erfahren. Etwas, das uns aus dem Trott herausreißt, weil es uns fasziniert. Ein Kunstwerk, das wir nicht einordnen können; eine Erscheinung, die sich nicht wie gewohnt bestimmen lässt, die unbestimmbar ist. In der Faszination erleben wir das Scheitern unserer Bestimmungsversuche – als etwas Produktives und Kreatives. Wir erfahren, dass es ein produktives Jenseits unserer Bestimmungsaktivität gibt: unsere Bestimmbarkeit. Damit erinnert sie uns an die Differenz zwischen unserer sozialen Identität und uns selbst, daran, dass wir freier sind, als wir denken und leben, weil am Grund unserer Existenz und unserer Vermögen nicht die soziale Norm steht, die alles immer schon vorstrukturiert, sondern das Nichts der Freiheit. Und das bedeutet, dass wir nicht festgelegt sind auf unsere soziale Existenz mit ihren Gewohnheiten, dass wir Neues denken und tun können.
Ästhetische Freiheit der Spontaneität
Die radikale Befreiung, wie Menke sie vorschlägt, transformiert nicht einzelne Bestimmungen unserer normativen Ordnung, sie transformiert, dem vorgelagert, unsere Bestimmungsaktivität als solche: unsere Freiheit, die Form, in der wir uns auf uns selbst und auf die Welt beziehen. Gegen die Freiheit gewohnheitsmäßigen Bestimmens setzt sie die ästhetische Freiheit der Spontaneität: „Die Befreiung aus der Gewohnheit ist … die Befreiung zu einem Bestimmen, das nicht wiederholend subsumiert, sondern – jedes Mal wieder – neu anfängt.“ (483)
Freiheit als bloße Willkür?
Wenn es aber die Unbestimmtheit, das Nichts ist, in der unsere Freiheit gründet, was unterscheidet sie dann von Willkür, was unterscheidet die spontane Freiheit, einen Anfang machen zu können, von souveräner Setzungsmacht?
Der Unterschied besteht darin, dass Menke die absolute Unbestimmtheit der Spontaneität nicht als souveräne Setzungsmacht begreift, sondern zugleich als absolute Bestimmbarkeit. Als resonante Offenheit für die Dinge und Menschen, so wie sie sich von sich aus zeigen und sind: „etwas neu zu bestimmen heißt, es aus nichts anderem als es selbst zu bestimmen.“ (575) – „Die radikale Befreiung befreit zur Wahrheit.“ (576)
Die ästhetische Freiheit ist also, wie die religiöse Freiheit, nicht nur Spontaneität, sondern als solche ebenso Empfänglichkeit. Doch macht die religiöse Deutung der Befreiungserfahrung, so wie Menke sie beschreibt, den Fehler, es nicht bei der Bestimmbarkeit durch das, was uns erscheint, zu belassen, sondern – gleichsam dahinter oder darüber – noch einen Ruf, den Ruf Gottes zu hören.
3. Oder: eine andere Religion
Doch wird Menke der Religion gerecht, wenn er ihr Freiheitsverständnis so auf das Hören und den Gehorsam fokussiert? Denn es lässt sich durchaus fragen, ob das religiöse Modell der Befreiung durch die biblischen Belege und theologisch-religionsphilosophischen Bezugsautoren Menkes hinreichend bestimmt ist – und damit die von dort aus aufgezeigte Aporie des religiösen Modells unvermeidlich ist oder ob es nicht noch mindestens eine andere religiöse Befreiungsnarration gibt, die die aporetische Logik von Gesetz und Gehorsam unterläuft oder überwindet: die Linie der Liebe. Sie zieht sich biblisch von der unbedingten Güte des Schöpfergottes über das Liebesgebot in Lev 19,18, die Verlebendigung der steinernen Herzen bei Ezechiel bis zu Jesu Agape-Botschaft, seinem Liebeszeugnis bis zur rückhaltlosen Hingabe an die Freiheit der Menschen und weiter zur Liebesethik bei Johannes und Paulus, der im Korintherbrief die Liebe über alles stellt.
Göttliche Befreiung – durch Liebe
Der so bezeugte Gott befreit, nicht, indem er ein Gebot ausspricht – und mag es noch so unbedingt und ungesetzlich sein. Er befreit, indem er liebt: indem er seine Geschöpfe ins Leben ruft und im Dasein hält, weil er sie will. Der Unterschied ist: das Gebot schreibt etwas vor – die Liebe setzt frei. Die Liebe fordert nichts, sie sagt nur: ich will, dass du bist. Sie bestimmt uns nicht, sagt nicht „Höre!“, „Erinnere!“ Sie gibt uns Raum. Liebe ist das bejahte Nichts, die bejahte Freiheit.
Wie die ästhetische Befreiung unterbricht die Liebe unsere gewohnheitsmäßige Praxis identitären Bestimmens – nicht, indem sie uns eine neue Ordnung mit neuen Imperativen vorgibt, sondern auf der Ebene der Form unseres praktischen Selbst- und Weltverhältnisses. Die Liebe befreit uns zu einer Form der Freiheit, die selbst Liebe ist, die ihrem freisetzenden Grund die Treue hält, indem sie selbst liebt: andere Freiheit freisetzt, indem sie sie nicht bestimmt, sondern sich bestimmbar macht. Vollzieht sich die Treue (die Treue zu Gott als Grund unserer Freiheit) als Liebe, durch die Freisetzung anderer Freiheit, und nicht als Gehorsam, durch den Aufbau einer gesetzlichen Erinnerungs-Ordnung, dann verrät sie nicht ihren Grund, sondern vergegenwärtigt ihn und gibt ihm Raum, durch unsere liebende Freiheit in der Welt wirksam zu sein.
Hoffnung, dass nichts verloren geht.
Eine Religion der Liebe ähnelt Menkes ästhetischem Materialismus: sie ist schöpferisch, indem sie dem, was ist, Raum gibt, zu sein. Und zugleich ist sie mehr: Denn zum einen buchstabiert sie im Gedanken der Schöpfung eine Prämisse aus, die die ästhetische Freiheit (in ihrer Emphase der Bestimmbarkeit) macht: dass das, was ist, gut ist. Dass es wert ist, sich durch es bestimmen zu lassen. Und sie artikuliert im Gedanken der Auferstehung eine Hoffnung, von der auch die ästhetische Freiheit (weil sie endlich ist und zugleich Unendliches antizipiert) zehrt: die Hoffnung, dass nichts verloren geht, dass auch das und die, die sich nie entfalten und zeigen konnten, gesehen sind.
Was macht uns frei? Es ist die Liebe! Sie steht am Anfang und wird am Ende stehen.
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Autorin: Sarah Rosenhauer, Dr. theol., Wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG Projekt „Pneumatischer Materialismus. Grundlegung einer materialistischen Theorie des Heiligen Geistes“ an der Humboldt-Universität Berlin.
https://www.katholische-theologie.hu-berlin.de/de/ls/st/st-team/wissenschaftliche-mitarbeiter-innen/sarah-rosenhauer
Bild: DESIGNCOLOGIST / unsplash.com
[1] Menke, Christoph: Theorie der Befreiung, Berlin 2022, Suhrkamp Verlag, 32,00 €.