Thomas Sojer, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Katholisch-Theologischen Fakultät Erfurt, reagiert auf den Beitrag von Ottmar Fuchs zur Frage des Kirchenaustritts.
Character indelebilis – bleibende Zugehörigkeit. Das tröstet, beruhigt und ermutigt. Ottmar Fuchs schreibt aus der Perspektive des Glaubens. Seine Begründungsfiguren sind nicht soziologisch oder ökonomisch. Sie sind theologisch: Die Zugehörigkeit bleibt, weil Gott den Menschen unabhängig von einer Kirchenmitgliedschaft (weiter-)liebt. Und weil Gott alle immer liebt, bleibt Pastoral immer allen gegenüber verantwortlich. Eine dergestalt Zugehörigkeit ist aber auch eine ambivalente Sache, vor allem eine Zugehörigkeit, die im Kontext einer „Liebesbeziehung“ konstelliert wird. Wie finden darin neben dem „Lass uns Freunde bleiben!“ auch jene Tragik, jenes Scheitern, jener Schmerz, die jeden Austritt begleiten, pastorales Gehör – jedoch ohne, dass der Austritt kirchlicherseits als Schadensfall oder ausgetretenenseits als biographisches Defizit moniert wird?
Ich meine, es wäre sinnvoller mit dem character indelebilis der Menschenwürde als mit „von Gott geliebt“ zu argumentieren. Die entscheidende Frage ist für mich hier, worin der Seeleneifer der Pastoral seinen Antrieb hat. In Fuchs vorliegendem Text sehe ich den Antrieb besonders darin, dass Pastoral auch unabhängig von Kirchenmitgliedschaft Räume verantwortet, die die Erfahrung zulassen „von Gott geliebt zu sein“. Hier stellen sich für mich zwei Fragen: (1) Liegt die Garantie einer Liebenswürdigkeit des Menschen letztlich „gottseits“? (2) Kann die Denkfigur einer allumfassenden, nichts und niemanden ausschließenden, immerwährenden, bedingungslosen Liebe Gottes nicht auch als „leere“ Metapher empfunden werden, die eher für Gleichgültigkeit steht? Beide Fragen verbindet eine Suche nach der autonomen Liebenswürdigkeit „menschseits“, die ein de jure Geliebt-sein von Gott als de facto prekär thematisiert.
Gott liebt den Menschen, weil dieser konkrete Mensch es einfach wert (!) ist geliebt zu werden.
Im Zentrum steht die Frage nach der zwischenmenschlichen Grundlage des „Geliebt-seins“. Ist diese Gott? Ist diese der Mensch qua Mensch? Was bedeutet dann der Kirche der konkrete Mensch, der sie verlässt? Wie verlagert sich dessen „Bedeutung“ (im Sinne von Relevanz und Wert) durch einen Austritt? Was heißt das für die pastorale Praxis? Es wäre wohl nur allzu befremdlich, wenn pastorale Mitarbeiter*innen Ausgetretenen deren „Liebeswürdigkeit“ in den Augen Gottes und der Kirche attestieren und erklären, welcher Verlust es ist, dass diese nun gehen. Das wäre nicht nur unangemessen sentimental, sondern auch unauthentisch. Vielleicht ließe sich aber der semantische Schwerpunkt im Begriff „Liebenswürdigkeit“ von Liebe auf Würde verlagern? Gott liebt den Menschen, so dann die These, weil dieser konkrete Mensch es einfach wert (!) ist geliebt zu werden. Es ist dessen individuelle unhintergehbare Würde, die jedem Menschen einen Anspruch auf Liebe zuerkennt. Dieser Anspruch wird im Alltag wenig überraschend mit Füßen getreten. Im Angesicht dieser Wirklichkeit sehe ich Pastoral in die „Pflicht“ genommen: Was ist es, das beim Kirchenaustritt nicht erlischt? Ist es vor allem eine unsichtbare sakramentale Zugehörigkeit gekleidet in die schöne, aber opake Metapher der „Liebe Gottes“? Oder ist es nicht vielmehr der Anspruch auf eine konkret zwischenmenschlich gelebte „Liebe Gottes“ qua Seelsorge, die nicht nur von theologischen Denkfiguren, sondern auch gerade vom tätigen Bekenntnis zur Menschenwürde angetrieben wird. Andree Burke hat ein Pastoralkonzept entwickelt, dass die Würde jedes Menschen als Antrieb für Seelsorge stark macht.[1]
Ich schlage vor, weniger von einer bleibenden Zugehörigkeit ausgetretenerseits und mehr von einer bleibenden „Pflicht“ kirchlicherseits zu sprechen.
Vor dem Hintergrund des Anrechts auf Liebe qua Menschenwürde schlage ich vor, weniger von einer bleibenden Zugehörigkeit ausgetretenerseits und mehr von einer bleibenden „Pflicht“ kirchlicherseits zu sprechen, nämlich bleibend im Sinne von Zur-Verfügung-Stehen. Diese „ekklesiogene Pflicht“ zum seelsorglichen Angebot bliebe freilich auch bestehen, wenn das Angebot selten bis niemals angenommen würde. Gleichzeitig markiert eine Haltung des bleibenden Angebots auch die Grenze, nämlich wenn jemand ihren und seinen Anspruch auf Seelsorge nicht einlösen möchte. Das Einzige, das Kirchmitglieder von Nicht-Mitgliedern unterscheiden würde, wäre dann, dass letztere ihren Anspruch nicht geltend machen. Die Kirche als Agens in der Gesellschaft dagegen dürfte im Licht der Menschenwürde bei ihrer Pflicht zum pastoralen Angebot, wie Fuchs es seinerseits in 4d überzeugend ausführt, keine Unterscheidungen oder Zugangsbeschränkungen machen – eine Logik, die in der Theologie manchmal auch als „Liebe Gottes“ verschlagwortet wird.
[1] Andree Burke. Das Ereignis des Menschlichen. Menschenwürde und Seelsorge: Ein pastoraltheologischer Entwurf. Stuttgart 2020.