Schüler*innenorientierung nimmt zu stark ihren Ausgang bei der von Religionslehrkräften eingeschätzten Relevanz für Lerngegenstände. Ein umgekehrter Weg ist möglich und religionspädagogisch auch geboten, meint Christian Hild.
„Was bringt es uns, wenn wir von der Konstantinischen Wende sprechen, während Europa am Rande eines Atomkrieges steht? Warum sprechen wir in Reli nicht mal sowieso darüber, was Religionen zu Frieden und Krieg zu sagen haben?“, fragte mich Paula (16 Jahre) mit einem Unterton des Unverständnisses. Meine Schülerin hat klar zu erkennen gegeben, was sie unbedingt angeht bzw. nicht angeht und welche – situativ bedingten – Deutungsangebote sie von einem Religionsunterricht erwartet.
Diese Äußerung pointiert zweierlei: Zum einen das als eine der großen Herausforderungen religiöser Bildung auszuweisende Austarieren, was Schüler*innen für ihre eigene Lebensführung (nicht) brauchen oder (nicht) zu brauchen meinen; dieser Spannung zwischen Fachlichkeit und Relevanz hat sich die Religionsdidaktik im Zuge von Korrelation und Elementarisierung zwar konstruktiv gewidmet, allerdings besteht der entscheidende Schwachpunkt in der Auswahl von Unterrichtsthemen, die nämlich von versierten Religionspädagog*innen und eben nicht von Schüler*innen selbst unternommen wird.
Zum anderen klingt bei Paula der Hilferuf nach einer konsequenten Schüler*innenorientierung an, die eine Mitbestimmung bei curricularen Auswahlentscheidungen insofern impliziert, als die Unterrichtsinhalte ihnen relevant erscheinen.
Unterrichtsziel: subjektorientierte reflektierte religiöse Bildung.
Sind wir als Religionslehrkräfte darum bemüht, unseren Schüler*innen eine subjektorientierte reflektierte religiöse Bildung zu ermöglichen, kommen wir um die Frage der Relevanz nicht herum, die Michael Domsgen „gegenwärtig immer deutlicher als Schlüsselkategorie […] für religiöse Bildung“1 sieht.
Was ist aber nun in religiöser Hinsicht relevant? Zur Annäherung an diese Gretchenfrage erweist sich in einem ersten Schritt die Einnahme einer etymologischen Perspektive als hilfreich: Das lateinische Verb relevare2 umfasst zwei Bedeutungsparadigmen: Zum einen steht es für eine „Erleichterung“ im Hinblick auf eine Last wie schweres Material oder auch Durst. Zum anderen bedeutet es etwas in die Höhe heben; hiervon leitet sich das Wort Relief ab, das ein sich von einem Untergrund herausgearbeitetes und somit heraustretendes plastisches Bildwerk bezeichnet. Ab dem 17. Jhdt. ist das Adjektiv relevant im deutschen Sprachgebrauch im juristischen Kontext bezeugt und wird in den Bedeutungen wichtig, schlüssig und bedeutungsvoll verwendet; im 19. Jhdt. tritt auch das Substantiv Relevanz als Wichtigkeit auf.
Einen Fehler begeht man, wenn man Relevanz / relevant als Modewörter zur ganz besonderen Herausstellung einer gewissen Wichtigkeit verwendet und einem inflationären Gebrauch Vorschub leistet; so blendet man aus, dass Relevanz weitaus mehr als ein unterrichtlicher Gelingensfaktor ist, sondern ein mehrperspektivisches Suchlicht nach der Lernausgangslage und den Aneignungsvollzügen bildet. Nehmen wir hierzu die Bildebene zu relevare ein und fragen: Warum bleibt man – sowohl als Schüler*innen als auch als Religionslehrkräfte – vor etwas stehen? Warum bückt man sich, nimmt es in die Hand und hält es hoch? Welche Konsequenzen ergeben sich aus dem Hochhalten für die es Hochhaltenden und die es nun Sehenden? Und weiter mit der zweiten Bedeutung des Verbs: Inwieweit werde ich nun in einer bestimmten Hinsicht erleichtert?
Warum bleibt man vor etwas stehen?
In Abhängigkeit der Perspektive wissenschaftlicher Disziplinen fallen die Antworten unterschiedlich aus. Alfred Schütz (1899–1959), der Begründer der phänomenologischen Soziologie, setzte bei der Grunderfahrung der Kontingenz an, woraus die Motivation zur Planung und Bewältigung des Lebens entspringt, mit der unweigerlich eine Differenzierung zwischen hierzu relevanten und weniger relevanten Eckpunkten einhergeht. Dan Sperber und Deirdre Wilson entwickelten ihre Relevance Theory (2004) im sprachwissenschaftlichen Kontext; Relevanz haftet all denjenigen Impulsen an, die mit einem kognitiven Impuls verbunden sind, wobei zugleich der eingeschätzte Aufwand zur Verarbeitung dieses Impulses als Gradmesser für die Einstufung als mehr oder weniger relevant miteinspielt.
Die stark verknappten Skizzen von Relevanztheorien berühren sich in einem Punkt, der für die weiteren Überlegungen – im wahrsten Sinne des Worts – relevant ist: Relevanz wird in einem Beziehungsgefüge generiert zwischen einem Individuum oder einer Gruppe und einem als relevant befundenen Objekt – dies kann aus einer freiwilligen Hinwendung heraus entstehen oder wird – wie in jedem Unterricht – von außen gesetzt. Diese Beziehung ähnelt dem Aufbau eines Koordinatensystems, dessen eine Achse die jeweiligen ein Individuum konstituierenden Faktoren wie Alter, Geschlecht, Erziehung etc. bilden, die andere Achse setzt sich aus äußeren Einflüssen auf das Individuum wie Situativität, gesellschaftliche Entwicklungen, Trends etc. zusammen. Die Festlegung eines Punktes in diesem Koordinatensystem bzw. die Zuweisung von Relevanz hat – rufen wir wieder relevare bildlich auf – insofern Konsequenzen für die ihr Relevanzobjekt Hochhaltenden, als sie sich diesbezüglich (in religiöser Hinsicht) positionieren müssen, eine für den Religionsunterricht gegenwärtig relevante Kompetenz.
Religionsunterricht für mich.
Nach der in knappen theoretischen Federstrichen gilt es, sich der Praxis zuzuwenden – diese besteht gemäß Paulas Aufbegehren darin, bei den Schüler*innen selbst eine Kompetenz aufzubauen, die sie dazu befähigt, selbstbestimmt und selbstwirksam für sie religiös relevante Themen ausfindig zu machen, diese didaktisch zu erschließen und anderen zu zeigen. Konkrete Gestalt nimmt ein derartiges Lehr-Lern-Arrangement in dem Projekt RUf.mich, ins Lebens gerufen an meiner Stammschule, dem Gymnasium am Schloss in Saarbrücken, an: In einem didaktischen Dreischritt nehmen alle sich in einer Lerngruppe befindenden Schüler*innen, also auch nicht- und andersreligiöse, ihre eigenen Relevanzerkundungen und -erhellungen und -aushandlungen selbstständig und selbstwirksam vor, bringen Lerninhalte in den Religionsunterricht ein, statt dass ihnen diese von den Religionslehrkräften ‚gebracht‘ werden, die sich nicht mit ihrem Relevanzverständnis decken und ihnen so nichts ‚bringen‘.
Ein derartiger Religionsunterricht ‚von unten‘ leistet eine praktische Realisierung einer Öffentlichen Religionspädagogik: Zum einen wird im Kleinen durch die pluralitätsoffenen Lernbewegungen gesellschaftlicher Zusammenhalt demonstriert, der sich für die gesamte Schulkultur als förderlich erweist, zum anderen erhält der Legitimationsdiskurs um den konfessionellen Religionsunterricht – im wahrsten Sinne des Wortes – Schwung ‚von unten‘, indem es zuvorderst die Schüler*innen sind, die ihm ein Gesicht geben und eine – über das Schulgebäude hinaus – zu hörende Stimme verleihen, als sie einerseits für ihre eigene religiöse Identität relevante Lerngegenstände einholen und aufbereiten, andererseits diesen Prozess der Öffentlichkeit zugänglich machen – konkret: den Nutzer*innen der Schul-Homepage.
„Wie ich es mit der Relevanz habe? Ich ‚habe‘ sie nicht“, resümierte Paula ihre Erfahrungen mit RUf.mich, „sondern ich habe gelernt, sie immer neu zu suchen, aufzubereiten, zu hinterfragen, um sie anderen zeigen zu können.“ Ein Impuls, der auch von Verantwortlichen kirchlichen Bildungshandelns – im wahrsten Sinne des Wortes – als relevant wahrgenommen werden sollte.
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Dr. Dr. Christian Hild ist Privatdozent für Praktische Theologie und Religionspädagogik an der Universität des Saarlandes und Studienrat für Evangelische Religion und Latein am Gymnasium am Schloss in Saarbrücken.
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