Angesichts der epochalen Umbrüche in der katholischen Kirche ist echte Veränderung gefordert. Matthias Sellmann formuliert streitbare Bemerkungen zur aktuellen Kirchen- und Theologiekultur und drängt auf Verbindlichkeit.
Man ist nicht sonderlich originell, wenn man das Herausforderungsniveau, dem sich die katholische Kirche in Deutschland gegenübergestellt sieht, als epochal begreift. Enormer Veränderungsdruck lastet auf den Organisationen, Einrichtungen, Hilfswerken, aber auch ihren Routinen, Leitbildern, Ausbildungsordnungen usw. Es geht bei allem um bedeutende Fragen; die geforderten Entscheidungen legen wichtige Weichen für die Zukunft; die meisten Anforderungen von ihnen lassen sich lesen und theologisch legitimieren als Synchronisierungsbedarfe des Kirchlichen mit extern bestimmten biografischen Bedürfnissen (individuelle Pluralisierung), systemischen Regeln (strukturelle Pluralisierung) und stilistischen Optionen (kulturelle Pluralisierung).
Enormer Veränderungsdruck
Nun könnte man denken: Not lehrt beten und dann handeln; man wächst mit seinen Aufgaben; oder übertragen: Je größer die Veränderungsanalyse, desto präziser das entsprechende Handeln.
Das aber ist genau die Frage: Entspricht die Reaktionsbereitschaft unserer innerkirchlichen Kultur, so weit diese auch gefasst sein mag, der Größe der gestellten Prüfung? Mehr noch: Müssen wir zum Handeln getragen werden, bleibt es bei reiner Reaktionsbereitschaft (was ja schon immerhin eine Basis wäre), oder traut sich auch jemand Aktionslust zu, proaktive Gestaltungskraft?
Wo ist proaktive Gestaltungskraft?
Was jetzt gefordert ist, und dies eben nicht nur, aber doch zuerst bei den einschlägigen Führungspositionen, ist der Mut zu echten Veränderungen in Kirche, Pastoral und Theologie; es geht um die Bereitschaft, wirklich (und eben nicht nur rhetorisch) ernst zu nehmen, was man aus Praxis, Erfahrung und Theologie heute weiß. Es geht darum, in die Veränderung zu kommen – was immer anstrengender ist, als „sich darüber auszutauschen“. Es geht darum, proaktiv zu werden, statt aufwändig zu problematisieren, was nebensächlich ist. Es geht darum, nicht mehr auf Zeit zu spielen, sondern Zeit zu nutzen. Es geht darum, sich den 20% Themen zu widmen, die echte Intervention bedeuten würden, statt den 80%, die einfach wenig Hebelwirkung entfalten.
Es geht darum, nicht mehr auf Zeit zu spielen, sondern Zeit zu nutzen.
Ich möchte im Folgenden diese Beobachtung als Frage nach der Verbindlichkeit stellen. Und meine These ist: Die aktuelle Kirchenkrise ist die große Chance, in Kirche, Pastoral und Theologie aus einer wechselseitig eingeschliffenen Kultur der Unverbindlichkeit herüberzuwechseln in einen Kooperationsstil der verlässlichen Verbindlichkeit.
Ich beginne mit einem Bild: Wenn ein Kreuzfahrtschiff sinkt, dann sollte das Orchester aufhören zu spielen. Dann sollte man den Barkeeper nicht mehr drängen, den Martini doch etwas kühler zu servieren. Dann setzt sich niemand auf eine benachbarte Eisscholle und berechnet interessiert den Neigungswinkel des bereits in Schieflage leckenden Schiffs.
All‘ dies ist sicher intuitiv zustimmungsfähig. Allerdings nur unter folgenden Voraussetzungen: dass man überhaupt erkennt, dass das Schiff sinkt; dass einem etwas an den Leuten auf dem Schiff liegt; und dass einem etwas an dem Projekt liegt, für das das Schiff gebaut wurde.
Kürzer: Wenn ein Schiff sinkt, dann wird man verbindlich. Und stellt man fest, dass Verbindlichkeit fehlt, stimmt etwas nicht an den eben genannten drei Voraussetzungen.
Wenn ein Kreuzfahrtschiff sinkt, dann sollte das Orchester aufhören zu spielen.
Die Metapher ist wenig originell, aber ich bringe sie hier trotzdem: Die Kirche ist dieses Schiff. Es ist, wie immer, auf Kreuzfahrt. Und der Übertrag lautet: Diese Fahrt fordert gerade alles. Der Umbruch ist epochal. Vieles sinkt. Und trotzdem: Wer im Organisationsgefüge von Kirche und Theologie unterwegs ist, dem begegnet sehr oft eine grassierende Unverbindlichkeit. Sowohl auf Seiten der Theorie wie der Praxis (ich wähle dieses Schema, obwohl es überholt ist), spielen weiter viele selbstverliebte Orchester, pflegt man weiter ausgedehnte Komfortzonen, wird man konzeptionell seltsam abstrakt oder absurd fromm.
Das Phänomen strukturell und mitunter sogar programmatischer Unverbindlichkeit scheint mir eine der zentralsten Krisensymptome kircheninterner wie kirchenexterner Natur zu sein. Das heißt: Sie begründet Blockaden nach innen, und sie kostet Effektivität und Glaubwürdigkeit nach außen. Fragt man sich, warum Innovationen und Reformen in Kirche und aus Kirche für ihre Umgebung so stark stocken, stößt man auf: Unverbindlichkeit.
Unverbindlichkeit
Drei Beispiele:
1
„Endlich mal wieder ne Sau im Dorf“ – die Seite der Praktiker
Wer innerhalb von Kirche in der Rolle des Impulsgebers unterwegs ist, der stößt auf das seltsame Phänomen eines kirchlichen Bildungsbetriebes, der sich einfach abspult, ohne substanziell zu planen, aus den Impulsen heraus wirklich etwas zu verändern. Als Referent oder Referentin kann es passieren, dass man angerufen wird mit der Frage, was man Neues auf dem Kasten hätte, die kommende Jahressitzung im Dezernat, im Verband o.ä. stünde ja an. Fragt man nach, was man denn mit den Impulsen des letzten Jahres genau gemacht habe, wird es still. Schon die Idee, solche Weiterbildungen seien doch ein (übrigens teures) Instrument einer wirksamen, strategischen und kontrollierten Personal- und Organisationsentwicklung, stößt auf Befremden. Oft genug machen kirchliche Hauptamtliche eigens genehmigte und oft auch teure Fortbildungen oder Exkursionen, und niemand im Bistum nutzt das anschließend als Ressource.
Man wird innerkirchlich gern anspruchsvoll unterhalten.
Kurz: Man wird innerkirchlich gern anspruchsvoll unterhalten. Man wartet innerkirchlich gerne auf die nächste Sau, die durchs Dorf getrieben wird: Milieu, fresh ex, Lokale Kirchenentwicklung, zeugende Pastoral, neulich Flügge, momentan REBUILT usw.. Aber das Ganze wirkt wie eine Theatervorstellung, die man nur goutiert, die man also nicht deswegen nutzt, um besser zu wissen, wie man eindringendes Wasser aus einem Maschinenraum pumpt. Mein Eindruck: Mancher will eigentlich nur weiter am Martini nippen.
2
„Mal wieder was Irritierendes raushauen!“ – die Seite der Impulsleute
Auf Seiten der Theoretiker liegt die komplementäre Verführung in einer konzeptionellen Unverbindlichkeit. Da werden gerne mal die aktuellen Modeströmungen der zeitdiagnostischen Philosophie oder Sozialwissenschaft rezipiert und zu einer Art theologischem Feuilleton zurechtgebaut. Das Volk soll was zum Kauen haben. Es gibt hier regelrechte Modekonjunkturen von Begriffen und Sprachspielen. Nicht die substanzielle Information, sondern die Rhetorik, oft aber auch die Selbstvorstellung als Gelehrte/r steht im Vordergrund. Die Unverbindlichkeit liegt hier in einem selbstgefälligen theologischen Sprachspiel, das herumzitiert und paraphrasiert und sich an hoffentlich komplizierten Wortschöpfungen erfreut (Heterotopische Konstellation; Ekklesiopreneurship; Paradoxales Dispositiv; Disperse Ekklesiologie; Poimenische Alterität usw.) Das Verbindlichkeitsproblem liegt hier nicht in der Fachsprache. Die muss sein. Es verrät sich aber darin, dass man sich oft weder empirisch noch streng philosophisch nachprüfbar verankern lässt. Begriffe werden nicht definiert, eigentlich unvereinbare theologische oder philosophische Ansätze einfach kombiniert. Man kokettiert mit dem postmodernen Gestus, es gäbe nur noch Zeichen und Texte und Verweise. Texte beziehen sich auf Texte auf Texte auf Texte; die Verankerung in Empirie und Relevanz geht irgendwo unterwegs verloren. Hauptsache, man kann irgendwen zitieren, der seinerseits wen zitiert hat. Die steile und dramatische These zählt. Oft wird sogar bewusst die Antwort verweigert, wenn ‚die Praktiker‘ gerne wüssten, was denn aus dem Gesagten für ihre Arbeit genau folge könnte. Man kokettiert damit, hier die Antwort schuldig bleiben zu müssen: schließlich sei man nur Beobachter. Hat Pastoraltheologie etwa ihren Sitz auf der Eisscholle nebenan?
3
„Erfolg ist keiner der Namen Gottes“ – Spiritualisierung als Fluchtreflex
Dass in Organisationen die Nischen genutzt werden, ist bekannt. Dass Kirche eine Nische mehr als andere hat, weniger. Gemeint ist die Unsitte, sich den konkreten organisationalen Verbindlichkeiten so zu entziehen, dass es sich auch noch fromm anhört. Konfliktgespräche über nicht erreichte Ziele werden gemieden, weil angeblich Gnade nicht planbar sei. Stellenbeschreibungen werden nicht verabredet, weil angeblich das kreative Potenzial der Leute nicht abgewürgt werden soll. Pastoralpläne werden nicht gelesen, weil man sich schon darüber freut, dass soviele Leute „mitgetan“ haben. Ist etwa Misserfolg einer der Namen Gottes? Charismenorientierung wird zum Synonym für Faulheit, wo es keinen Plan gibt, das zu tu, wozu Kirche immer verpflichtet ist, egal, was man spürt. Und in dem Wort „Berufung“ stecken zwei Silben mehr als „ung“.
Soweit drei Einblicke und Erfahrungsbereiche.
Mein Fazit: Es ist Zeit für eine gemeinsame Verpflichtung auf praktische und konzeptionelle Verbindlichkeit. Ich sage das (als Ecclesiopreneur) selbstkritisch. Die Hausaufgaben der Anderen „ da draußen“, die wir von ihnen erwarten, gelten auch für uns von der Kirche und von der Theologie. Schließlich will auch von uns keiner einen Bord-Feuerwehrmann sagen hören, man sei noch auf der Suche, wie der Brand des Schiffes zu löschen sei – dies aber sehr intensiv und mit ganz viel Beteiligung!
Es ist Zeit für eine gemeinsame Verpflichtung auf praktische und konzeptionelle Verbindlichkeit.
Denn es geht um viel. Es geht noch nicht einmal um das Schiff, sondern um dessen Projekt: um die Chance, in der modernen Wissensgesellschaft mit möglichst Vielen und möglichst Anderen möglichst attraktiv die Option eines Lebens mit und vor Gott zu erschließen. Verbindlichkeit, z.B. in der Form von Professionalität, ist dabei kein Surplus, sondern das Erkennungssignal, wie ernst wir es selbst meinen. Der Ernst des Evangeliums vermittelt sich nicht über die Pflege von Komfortzonen. Verbindlichkeit ist das beste Mittel, Menschen so in das Versprechen Gottes einzubeziehen, dass diese ihm gegenüber sowohl konfrontiert wie frei bleiben.
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Matthias Sellmann, Prof. Dr., ist Gründer und Leiter des Zentrums für angewandte Pastoralforschung (ZAP) an der Ruhr-Universität Bochum. Bild: insung-yoon-unsplash.
Der hier publizierte Text erschien in ähnlicher Form in „Die Menschen ins Zentrum stellen. 50 Jahre SPI“ (St. Gallen, 2019).