Dominik Gehringer war lange ein Fan des gegenwärtigen kirchlichen Strukturwandels. Inspirierende Alternativen dazu hat er an überraschenden anderen Orten gefunden: Postwachstumsökonomie und Resonanzsoziologie weisen Wege aus der pastoralen Steigerungsfalle.
Kirche wird modern. Es werden pastorale Leitlinien verfasst, es wird räumlich umstrukturiert und Konzepte für die Zukunft werden herausgegeben. Pastoralkonferenzen werden abgehalten und es wird umgeparkt im Kopf. Gemeinden sollen sich nun selbst evaluieren (z.B. LEVI im Erzbistum Freiburg), effizient mit personellen Ressourcen haushalten, streichen, was nicht mehr attraktiv ist, Hauptberufliche und auch ehrenamtlich Engagierte setzen sich Ziele, die „SMART“ sind. Die pastoralen Bezugsräume werden größer (z.B. XXL-Pfarrei Oberursel) und gleichzeitig kommt es zu gebündelten pastoralen Zentren, wo alles an einem Ort ist: vom Personal mit Expertenwissen bis hin zum spirituellen Produkt. Gremien werden zeiteffizient gebündelt und Ehrenamtliche zu Multiplikatoren ausgebildet. Dabei spielen Qualitätskriterien eine Rolle. Menschen, die die Kirche noch als Bezugspunkt für ihr Leben haben, sollen gehalten werden und über ästhetisch ansprechende Angebote neue Menschen (wieder) gewonnen werden. Es geht um Marktanteile.
Alternativen zum gegenwärtigen System
Ich war lange davon überzeugt, dass das der richtige Weg ist. Aber die Auseinandersetzung mit den Ideen einer Postwachstumsökonomie von Niko Paech und die Überlegungen zu einer Postwachstumsgesellschaft von Hartmut Rosa haben mich nachdenklich gestimmt. Paech als Ökonom und Rosa als Soziologe sind auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage, wie gutes und gelingendes Leben in unserer spätmodernen, westlichen Zeit und Gesellschaft möglich ist. Sie suchen nach Alternativen zum gegenwärtigen System.
Unsere Gegenwart ist von der ökonomischen Steigerungslogik des Kapitalismus geprägt – wenn nicht sogar beherrscht. Diese Steigerungslogik drückt sich einerseits im Wirtschaftswachstum aus, das Wohlstand und Arbeitsplätze sichern soll. Andererseits reicht die Steigerungslogik aber auch tief ins private Leben hinein. Es gilt, das Maximal-Mögliche auszuschöpfen. Diese Logik führt zur Beschleunigung. Von der Beschleunigungsspirale wird quasi alles erfasst: Prozesse in der Produktion von Waren, deren Transport aber auch der Transport von Menschen, deren Beziehungen und auch unsere Kommunikation.
Zeit als ökonomische Ressource
Wer sich das neueste I-Phone leisten kann, muss meist so viel arbeiten und ist so beschleunigt, dass ihm oder ihr oft schlicht die Zeit fehlt, sich mit allen neuen Funktionen im Detail vertraut zu machen. Folglich bräuchte er oder sie das neue Gerät gar nicht, aber in der Steigerungslogik macht es Sinn, denn warum sollte man viel arbeiten – also Zeit investieren –, wenn man sich dafür am Ende nichts gönnt? Pendler stehen oft im Stau, weil alle schnell unterwegs sein wollen oder müssen. Menschen leiden an Burn-Out, weil sie in zu wenig Zeit zu viel erledigen müssen. Zeit wird als Ressource betrachtet, die möglichst ökonomisch ausgeschöpft werden muss.
Paech würde sagen, es kommt zum Bumerang-Effekt. Denn wir merken: Irgendwas bleibt auf der Strecke! Wir haben im Grunde alles und dennoch sind wir rastlos und diffus unglücklich. An dieser Stelle kommt Rosas Resonanztheorie ins Spiel. Durch die krasse Beschleunigung, in der wir uns befinden, kommt es zu immer weniger Resonanzerfahrung. Die Welt um uns herum bleibt stumm und wir entfremden uns von unserer Umwelt. Denn Resonanz meint die gelingende Beziehung zwischen Mensch und Welt und die braucht Zeit. Arbeit, die rein unter Effizienzgedanken geplant, zergliedert und maximal optimiert verrichtet wird, hat in der Regel wenig Potenzial, um sie mit einem inneren Bezug so zu verrichten, dass sie das eigene Wesen anspricht.
Resonanz ist nicht planbar
Mit 472 Freund_innen per sozialem Netzwerk gleichzeitig und weltweit im Kontakt zu sein führt zu einer anderen Resonanzerfahrung, als mit einem vertrauten Menschen zwei Stunden Zeit bei einer Tasse Tee und tiefem Gespräch zu verbringen. Resonanz ist nicht planbar, sie ereignet sich, weswegen funktionale Entschleunigungsprogramme wie z.B. ein Wellnesswochenende meist nicht zum großen Glück führt. Eher im Gegenteil: Sie steigern den Druck – ich habe mir ein Wochenende Ruhe abgerungen, jetzt müsste ich doch wieder leistungsfähig sein!
Sowohl für Rosa, als auch für Paech ist klar: Es braucht eine Reduktion und ein sich lösen vom aktuellen ökonomischen System, das nur Steigerung oder Absturz kennt. Es braucht echte Alternativen, um den Kollaps zu verhindern. Paechs Ansatz ist dabei die Suffizienz als Selbstbegrenzung im eigenen Konsumverhalten und kreative Subsistenz, die die eigene Abhängigkeit von industrieller Produktion minimiert. Will heißen, dass wir unsere Souveränität wieder zurück erobern! Peach plädiert sogar für eine 40 Stundenwoche, die lediglich zur Hälfte für den monetären Bereich zur Verfügung steht. Die anderen 20 Stunden dienen der Eigenproduktion und dem Reparieren von Dingen, dem Engagement für die Gesellschaft, dem Austausch über Ideen, wie gemeinschaftliche Nutzung von Dingen gehen kann und wie Wege sein können aus der Wohlstandsfalle.
Tools für die Pastoral der Zukunft?
Wenn nun die eingangs beschriebene Situation der Pastoral der Zukunft bzw. deren Ideen und Planungen auf diesem ökonomisch-gesellschaftlichen Steigerungssystem aufbaut oder sich dessen Tools bedient, um die Pastoral möglichst effizient, zeitsparend und strukturell weiterzuentwickeln, damit sie auf die Zeichen der Zeit Antwort geben kann, stellt sich mir die Frage, ob diese Pastoral wirklich eine Zukunft hat.
Können wir durch einen effizienteren Input wirklich einen höheren bzw. gelingenderen Output generieren? Ich glaube nicht, denn durch Effizienz ändert sich immer die Qualität von Beziehung, denn diese braucht schlicht weg Zeit. Und Beziehung ist ja genau das, um was es im Reich Gottes geht, dessen Abbild ja Pastoral und Kirche sein wollen. Aber welches Zeitmaß ist das richtige, um gelingende Formen von (Resonanz-)Beziehung herstellen zu können?
XXL-Räume
Am Beispiel des Raumes lässt sich die Krux erahnen: Die pastoralen Räume werden de facto riesig, da sich die Gemeindegröße an der Anzahl der zur Leitung fähigen Priester orientiert. Bieten diese XXL-Räume genügend Möglichkeiten der Begegnung? Oder: Das moderne Gemeindemitglied ist zwar mobil, aber hat es überhaupt die Zeit, um sich sonntags mit der ganzen Familie auf den Weg zu machen? Oder: Wenn die konkrete Verortung des Einzelnen diffus geworden ist, weil viele Beziehungen digital gelebt werden, zur Arbeit weit gependelt wird und das eigene Zuhause zum privaten Rückzugsort ohne notwendige Nachbarschaft geworden ist, wie soll sich dann jemand in einem Gemeindeteam engagieren wollen, um Kirche vor Ort lebendig werden zu lassen?
Wenn wir Peachs und Rosas Ansätze ernst nehmen, dann führen unsere pastoralen Planungen in den Kollaps. Da sich Reich Gottes und das konkrete Leben nicht voneinander trennen lassen, müssten wir eigentlich beginnen, eine Postwachstumspastoral zu entwickeln, orientiert an einem gleichzeitigen Systemwandel, der aus dem Mainstream der Steigerungslogik ausbricht. Es braucht ein Kollektiv, das neu denkt und Neues wagt, das will, dass sich etwas ändert. Paech betont die Notwendigkeit von realen Laborräumen, wo Menschen Postwachstumsideen leben und diese Erfahrungen teilen und zugänglich machen für andere.
Laborräume eines Lebens in Fülle
Eine Postwachstumsgesellschaft wird dort entstehen, wo Menschen sich nach echten Resonanzerfahrungen sehnen und dafür bereit sind, sich zu begrenzen. Dabei geht es nicht um einen Rückschritt, sondern um ein neues Maß und um Fortschritt ohne Steigerung. Die Gemeinden und Pfarreien könnten solche Laborräume und Inseln in einer sich beschleunigenden Welt sein, um gemeinschaftlich nach einem Leben in Fülle zu suchen, das alle Lebensbereiche erfasst. Was wäre das für ein Kollektiv, wenn alle 23,5 Millionen Katholiken_innen Deutschlands oder noch besser alle ca. 48 Milionen Christen_innen in Deutschland sich die Frage stellen würden: „Macht mich das momentane System eigentlich glücklich?“ Die Pastoral der Zukunft könnte eine andere sein.
___
Dominik Gehringer, Gemeindereferent in der Erfurter Innenstadtpfarrei St. Laurentius
Bildquelle: Pixabay