Eine Fotoausstellung anlässlich des 34. Jahrestages der Märtyrer*innen der UCA in El Salvador weitet den Blick für aktuelle Martyriumserfahrungen salvadorianischer Frauen. Theresa Denger geht ihnen nach.
Am 16. November gedenken die Menschen in El Salvador der sechs 1989 ermordeten Jesuiten der Zentralamerikanischen Universität (UCA) Ignacio Ellacuría, Ignacio Martín Baró, Segundo Montes, Armando López, Juan Ramón Moreno und Joaquín López wie auch der beiden mit ihnen ermordeten Frauen Elba und Celina Ramos.
Ein Land im Ausnahmezustand
Die acht Märtyrer*innen der UCA reihen sich in die 75.000 Todesopfer des Bürgerkrieges ein, der das kleine zentralamerikanische Land von 1979 bis 1992 erschüttert und zerrüttet hat. Das 1993 erlassene Amnestiegesetz verhinderte die Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen und die strafrechtliche Verfolgung der Täter. Bis heute weigert sich das Militär, die Archive zu öffnen. Der seit 2019 amtierende Präsident Nayib Bukele, der sich gerne medial wirksam als starker Mann und Messias inszeniert, bricht in seinem Diskurs mit der Vergangenheit und proklamiert den Anbeginn eines neuen Zeitalters und die Nichtigkeit alles Vergangenen. Dass er dabei jedoch die Fehler der Vergangenheit wiederholt und das Militärregime von damals gewissermaßen wiederauferstehen lässt, sehen die wenigsten. Zu überzeugend sind seine Propaganda-Videos, in denen das Militär zeitlos als Instrument Gottes und Garant einer glorreichen Zukunft erscheint[1]. Seit März 2022 hat die Regierung Bukele das Land in einen Ausnahmezustand versetzt, in dem jedes Mittel recht ist, um die Bandenkriminalität auszumerzen und die Mordstatistiken offiziell auf null zu setzen: willkürliche Verhaftungen, Polizei- und Militärgewalt, Kriminalisierung von kritischen Journalist*innen und Aktivist*innen, etc. Menschenrechtsorganisationen zufolge sitzen aktuell 4% der erwachsenen Bevölkerung im Gefängnis. Immer wieder berichten Betroffene von Folter und haftbedingten Todesfällen.
Aufarbeitung als subversives Unterfangen
Im aktuellen politischen Kontext sind die Aufarbeitung der Bürgerkriegsvergangenheit und das Opfergedenken ein provokatives und subversives Unterfangen, besonders dann, wenn sich dieses nicht, wie erwartet, auf die prominenten und offiziellen Märtyrer bezieht, sondern jene ins Zentrum rückt, die normalerweise nicht gesehen, gehört und nicht verehrt werden: Frauen, die staatliche und strukturelle Gewalt überlebt haben und deren Präsenz und Zeugnis das „Nie wieder” der Gewalt auf allen gesellschaftlichen Ebenen einfordern.
Dieses Jahr werden die Gedenkfeierlichkeiten der UCA mit ihren Bildern und Geschichten eingeläutet. „Rostros femeninos del martirio” („Weibliche Antlitze des Martyriums”) ist der Name der Fotoausstellung, die im Centro Monseñor Romero zu sehen ist, wo der theologische Fachbereich der Universität und ihre Märtyrergedenkstätten vereint sind. Das mit violetten Tüchern und liebevoll gebastelten Papierblumen geschmückte Atrium erstrahlt in einem neuen Licht. Wo die Besucher*innen normalerweise zu Bildnissen Monseñor Romeros und lateinamerikanischer Kirchenväter aufschauen, finden sie sich nun auf Augenhöhe mit drei Frauen, deren Portraits und Geschichten in drei begehbaren Flügelaltären farbenfroh und kontrastreich vergegenwärtigt werden. Sowohl das Bildmaterial als auch die Geschichten entstammen dem jüngst von verschiedenen feministischen Kollektiven produzierten Dokumentarfilm “Mujeres altar”[2].
Erster Altar: Belén
Belén, Mitte dreißig, liest ihrer Mutter eine Liste mit 14 Namen vor. Es sind die Opfer eines 1982 begangenen Kriegsmassakers. Es sind Beléns Großmutter, Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen, die sie nicht mehr kennenlernen konnte. Dank den Erzählungen ihrer Mutter kann sie sich ein Bild machen und die Geschichte ihres Landes aufarbeiten. Zu Beginn der 80er Jahre verfolgte die damalige Militärregierung die Strategie der Politik der verbrannten Erde: Ländliche Dörfer und Gemeinden, die als Zufluchtsort der Guerilla galten, wurden dem Erdboden gleichgemacht, Frauen vergewaltigt und alle Bewohner systematisch ermordet. Belén zieht eine Verbindung zwischen den damaligen Verbrechen und der aktuellen Gewalt gegen Frauen. Sie hofft, dass die Aufarbeitung der Kriegsverbrechen dazu beitragen kann, dass Mädchen und Frauen „zu jeder Tages- und Nachtzeit auf die Straße gehen können, ohne Angst haben zu müssen, dass ihnen irgend ein Typ auflauert, um sie zu vergewaltigen oder sie verschwinden zu lassen“. Sie möchte daran glauben, dass die Gewalt der Vergangenheit sie und die anderen Frauen nicht einholen kann.
Junge Mädchen und ihr Traum
von einem selbstbestimmten und gewaltfreien Leben.
Für diesen Glauben engagiert sie sich in der Bewusstseinsarbeit zum Thema der geschlechtsspezifischen Gewalt und bestärkt junge Mädchen in ihrem Traum von einem selbstbestimmten und gewaltfreien Leben. Mit dem Künstlerkollektiv „Raíces“ („Wurzeln“) erarbeitet sie verschiedene Performances über die Kriegserfahrungen und drückt diese aus mit Gesten, Bewegungen und Symbolen. Durch das Integrieren kleiner Rituale, in denen Fotos, Erinnerungsstücke und Blumen auf einem zu Boden liegenden Altar dargebracht werden, wird das Totengedenken zur lebendigen und tröstenden Erinnerung. Belén stellt dankbar fest, dass sie in diesen Performances ein wenig Heilung und Wiedergutmachung erfährt.
Zweiter Altar: Caro
Caro ist Transfrau und möchte sich aus Sicherheitsgründen nicht auf den Bildern zu erkennen geben. Deshalb übernimmt Marcela, ebenfalls Trans, stellvertretend Caros Rolle und setzt ihre Geschichte in Szene. In einem Triptychon ist Marcela zunächst mit verdecktem Gesicht zu sehen, welches sich dann in zwei Momenten durch das Öffnen ihrer Hände enthüllt. Als eine befreiende Enthüllung hat Caro in jungen Jahren ihre Transition erlebt: „Endlich konnte ich anders sein und in Freiheit leben, und zwar so wie ich mich fühlte: als Frau.“ Jedoch hat diese Befreiungserfahrung paradoxerweise hinter Gittern stattgefunden. Drei Jahre lang saß sie im Gefängnis, weil die Richterin des Ortes sie hatte verhaften lassen um geheim zu halten, dass ihr Sohn sich in Caro, eine Transfrau, verliebt hatte.
Transfrauen als Zielscheibe
polizeilicher und militärischer Gewalt.
Nach ihrer Freilassung 1990 fand Caro, wie viele andere Transfrauen, in der Sexarbeit die einzige Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, und so zog sie nach San Salvador, in den Stadtteil „La Praviana“. Zu ihren Kunden gehörten auch ranghohe Politiker und Militärs. Misshandlungen und Repressalien ließen nicht lange auf sich warten. Caro erinnert sich: „Die Nationalpolizei sperrte uns 15 Tage in einen Kerker ein. Je mehr wir uns wehrten, desto schlimmer wurde es. Es gab mehrere Frauen, die geschlagen, gefoltert und getötet wurden.“ Durch den Krieg waren die Transfrauen der Praviana zur Zielscheibe polizeilicher und militärischer Gewalt geworden, was sie wiederum zu einer engen Gemeinschaft zusammenschweißte: „Es war eine Art von Schwesternschaft, die wir hatten. Wenn plötzlich jemand getötet wurde, war das eine Situation, in der wir uns zusammenschließen mussten, weil die meisten von uns keine Familie hatten. Also waren wir die Familie.“
Sexarbeiter*innen als Märtyrer*innen verehrt.
Aus dieser Familie haben nur wenige das Grauen der Gewalt überlebt. Das verraten die unzähligen Namen und Fotos, die den improvisierten und fotographisch eingefangenen Wandaltar an einer Straßenecke der Praviana schmücken. Dass die Frauen an diesem Altar in einem Sprechchor nach Verlesung eines jeden Namens „presente“ („gegenwärtig“) rufen, können die Betrachter*innen des Bildes nur erahnen. Was ihren Augen jedoch nicht entgehen kann, ist, dass die in der Praviana ermordeten Sexarbeiter*innen als Märtyrer*innen verehrt werden, so ist das Altarbild mit dem Schriftzug betitelt: „Sie starben für uns, damit wir anfangen konnten, zu kämpfen.“
Diesem Vermächtnis verpflichtet, kämpfen Caro, Marcela und viele andere Transfrauen heute für die Anerkennung der Menschenrechte der LGTBIQ+-Bevölkerung in El Salvador und fordern ein Gesetz zur Geschlechtsidentität. Dabei verleiht der gemeinschaftliche Glaube Flügel, um die eigene Angst zu überwinden. Caro, die noch einige Monate zuvor bei den Dreharbeiten des Films nicht in Erscheinung treten wollte, entscheidet sich bei der Ausstellungseröffnung, vor vielen Menschen und laufenden Kameras ihr Zeugnis zu geben.
Dritter Altar: Miriam
Mit dem Rücken zum Betrachter errichtet Miriam ihren Altar. Hingebungsvoll plaziert sie Fotos ihres Sohnes auf verschiedenen Staffeleien. Auf einem Hocker thront ein weißer Teddybär. Sie entzündet eine Kerze. Josué ist 2011 im Alter von 14 Jahren spurlos verschwunden. Ein Schriftzug lässt erahnen, wie es Miriam zumute ist: „Wo ist mein Josué? Könnt Ihr ihn mir bitte zurückgeben! Seit mehr als zehn Jahren sind mein Herz und meine Seele zerrissen.“ Diese Worte treffen den Betrachter ins Herz und lassen ihn verstummen. Sie erlauben keinen billigen Trost und führen ihm seine Mitverantwortung als Teil einer Gesellschaft vor Augen, welche das Verschwinden Unschuldiger und die Tatenlosigkeit des Staates zulässt.
Menschen verschwinden lassen.
In El Salvador zieht sich das Phänomen des Verschwindenlassens wie ein roter Faden durch die Geschichte. Während zur Zeit des Bürgerkriegs primär staatliche Sicherheitskräfte Menschen verschwinden ließen, waren es in der Nachkriegszeit vor allem Akteure des organisierten Verbrechens. Im aktuellen Kontext des Ausnahmezustands koexistieren vermutlich beide Formen.
Bei den staatlichen Institutionen hat Miriam keine Unterstützung gefunden, weder für die Suche nach Josué noch für den psychologischen Umgang mit dem Schmerz und der Ungewissheit. Erst die Begegnung mit anderen Müttern und Familienangehörigen von Verschwundenen brachte ihr Halt und gab ihr Kraft. In ihrer Gegenwart bekennt sie: „Wir, die Mütter der Verschwundenen, lassen uns von niemandem aufhalten. Wir suchen unsere Kinder unter der Erde, unter den Steinen und unter der ganzen Welt, wenn es sein muss.“
Erfahrene Gegenwart des schmerzlich vermissten Sohnes.
Gemeinsam mit anderen Müttern ist Miriam bei einem Ritual zu sehen. Auf dem Boden ist ein aus roten Rosen, weißen Kerzen, Maiskörnern und Bohnen kreisförmig gestalteter Altar zu erkennen, in dessen Zentrum ein grünes Sporttrikot, ein Skateboard, Plüschtiere und Schuhe liegen – heilige Gaben. Miriam erhebt einen weißen Teddybären und erläutert: „Dieser Teddybär ist aus Josués Lieblingshemd gemacht. Er ist ein Gedenk-Teddybär, den ich umarmen kann und so die Gegenwart meines Josués bewahre.“ Die erfahrene Gegenwart des schmerzlich vermissten Sohnes lässt Miriam sichtlich mit den Tränen kämpfen. Erst als die anderen Mütter sie umarmen, erscheint in ihrem Gesicht ein Lächeln.
Belén, Caro und Miriam stehen für unzählige Frauen in El Salvador, die zu Opfern der salvadorianischen Gewaltgeschichte wurden, aber nicht in die Chroniken der Geschichte eingehen; die gemeinschaftlich den Sieg der Liebe über den Tod bezeugen, aber nicht als Märtyrerinnen verehrt werden. Ihre Geschichten und Zeugnisse sind unsichtbar miteinander verwoben und erhalten gerade dadurch ihre subversive Kraft. Belén, Caro und Miriam durchbrechen die Grenze zwischen heilig und profan, indem sie ihre Altäre in ihren eigenen Territorien errichten und von dort aus die Heiligkeit allen Lebens verkünden.
___
Theresa Denger, Dr. theol., lehrt im Masterstudiengang „Lateinamerikanische Theologie” an der Zentralamerikanischen Universität (UCA) in El Salvador. Im Rahmen des Zivilen Friedensdienstes (ZFD) von AGIAMONDO widmet sie sich der Erinnerungsarbeit mit besonderem Schwerpunkt auf dem Vermächtnis Oscar Romeros.
Foto: privat / Rodrigo Recinos
[1] Siehe: El Salvador alcanzará la paz: El emotivo mensaje de Nayib Bukele – YouTube
[2] Der Dokumentarfilm Mujeres altar (2023) ist eine Gemeinschaftsproduktion von Salvadoreñxs construyendo memoria, Alharaca und Cuma, mit Bildern von Julio López Fernández und Camilo Henríquez.
Titelbild: Fátima Urbina