Christian Walti hat letztes Jahr Weihnachten mit Menschen aus anderen Religionen gefeiert und denkt nach einem Jahr nochmals über Beteiligung und Befremdung nach.
„Weshalb feiert ihr eigentlich kein Weihnachten?“ Sassi, der leitende Hindupriester am Tempel im Haus der Religionen kniff die Mundwinkel neckisch zu einem Lächeln hoch. Ich hingegen, der reformierte Pfarrer im Haus war etwas brüskiert über seine Frage und wollte zu einer langen Erklärung über unsere vielfältigen Festtagsfeiern ausholen. Da wurde mir plötzlich bewusst, was er meinte: Weihnachten – hier im Haus der Religionen! Die Idee war mir noch nie gekommen. Denn Weihnachten, das war doch „unser“ Fest, nicht das der anderen. Nach diesem Gespräch hatte ich aber keine Ausrede mehr: Weihnachten sollte auch am Ort des interreligiösen Dialogs stattfinden.
Weihnachten, das war doch „unser“ Fest, nicht das der anderen.
Das Haus der Religionen in Bern ist ein Projekt des „Dialogs der Kulturen“. Acht Religionsgemeinschaften sind an ihm beteiligt: Hindus, Sikhs, Jüd*innen, Muslim*innen, Alevit*innen, Buddhist*innen, Christ*innen und Bahai. Die Gemeinschaften beleben am Europaplatz in Bern seit 2014 ein gemeinsames Zentrum, in dem fünf von ihnen auch einen eigenen Gebetsraum haben. Das Haus ist ein für die Schweiz einmaliges Projekt, in Europa gibt es nur zwei ähnliche Zentren. Das Haus versteht sich als Ort des interreligiösen und interkulturellen Dialogs.
Seit ich im Haus der Religionen in Bern arbeite hat sich mein Bild vom interreligiösen Dialog aber nachhaltig verändert. Ein interreligiöser Dialog, so meinte ich, sei das Gegenstück zum religiösen Konflikt, wo Gewalt und gegenseitige Herabsetzung das Aufeinandertreffen unterschiedlich glaubender Menschen bestimmen. Ich stellte mir die Aktivitäten im Haus als eine löbliche, aber auch etwas langweile Angelegenheit vor: ein Austausch von Höflichkeiten, bestimmt durch genaue Wortwahl und gekonnte Vermeidung von Missverständnissen sowie die ständige Betonung der Gemeinsamkeiten. Doch es war nur selten so. Dialog im Haus der Religionen, das ist etwas, was nur selten mit Worten geführt wird. Nie wurde mir das deutlicher als rund um die Weihnachtsfeierlichkeiten, die tatsächlich wenige Wochen nach dem erwähnten Gespräch mit dem Hindupriester zustande kamen.
Dialog ist etwas, was nur selten mit Worten geführt wird.
An der Feier zum letztjährigen Heiligabend nahmen dann nur wenige Christ*innen teil: Ein römisch-katholischer Kollege, zwei Familien mit Kindern, eine Musikerin. Von den Hindus und den Alevit*innen aber gab es zwei Delegationen, unter ihnen auch der Hauptpriester. Es war eine ganz kurze und schlichte Andacht. Aber besonders beim Fürbittenritual nahmen die Hindus und Alevit*innen sehr aufmerksam und andächtig teil, fächerten sich die am Friedenslicht angezündete Flamme mit den Händen zu, wie das in ihren Kulten üblich ist. Anschliessend zogen wir mit Gesang durchs Haus und besuchten die Dergâ, den Tempel und die Moschee. Wir überbrachten kleine Geschenke. Bei den Muslimen kamen wir direkt zum Abschluss des täglichen Abendgebets. Zu unserem Erstaunen wurden wir aufgefordert unser „Gloria“ nochmals in der Moschee zu singen – wo doch sonst keine Chorgesänge erlaubt sind. Und im Tempel erhielten wir eine gespaltene Kokosnuss als Gegengeschenk – gemäss Sassis Erläuterungen ein Symbol für den geköpften Egoismus.
aufgefordert, unser „Gloria“ nochmals in der Moschee zu singen
Die Feier und die Geschenkaktion waren nicht interreligiös, sondern explizit christlich. Aber die nicht-christlichen Menschen haben sie als schön und bedeutsam erlebt. Ein Grund liegt sicher darin, dass die Geburt von Jesus sowohl für einen Hindu, der an vielfältige Manifestationen des einen Gottes glaubt, als auch für Muslim*innen, die im Koran auch den Bericht von der Jungfrauengeburt Jesu vorfinden, es sehr anschlussfähig ist – im Unterschied etwa zu Ostern. Vielleicht liegt dies aber auch daran, dass wir ihnen durch die Einladung zur Feier zutrauten, Teilhabende unseres „heiligen“ Abends zu werden. Ich denke, dass die zweite, inklusive Ebene an diesem Abend die präsentere war. Wir haben keinen Dialog geführt, sondern sind einander in der besinnlichen Stimmung sehr menschlich, fast familiär begegnet.
So wunderbar die Feier für einige Nicht-Christ*innen war – es gab im Haus auch Misstöne. Angehörige einiger Religionsgemeinschaften empfanden insbesondere die Geschenkeaktion als äusserst übergriffig. Das Überreichen der Geschenke und Besuche in ihren Gebetsräumen erinnerten sie an missionarische Begegnungen von christlicher Seite, die sie aus ihrer eigenen Religionsgeschichte oder der eigenen Familiengeschichte kannten. Es war ihnen zu viel christliche Kultur am Ort des interreligiösen Dialogs.
Einige empfanden die Geschenkeaktion als äusserst übergriffig.
Für uns war dieser Heiligabend im Haus der Religionen somit ein Lehrstück im interkulturellen Arbeiten. Wir sollten einerseits keine Angst haben, unser Fest mit Andersgläubigen zu teilen. Es kann für sie ein eindrückliches Erlebnis von Inklusion sein. Aber Weihnachten eignet sich andererseits in unserer pluralistischen Gesellschaft auch nicht als das eine kulturelles Zentrum für alle. Es sollte keinem Menschen aufgedrückt werden. Einige schätzen ihre eigene „weihnachtslose“ Zone. Wir haben trotz aller Bedenken beschlossen, die Feier in diesem Jahr zu wiederholen. Die Einladung dazu haben wir viel offener formuliert und auch darauf hingewiesen, dass wir alle verstehen, die ihr nicht Folge leisten. Wir werden sehen, wie diese Einladung unter Coronabedingungen ankommen wird.
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Christian Walti ist reformierter Pfarrer in der Kirche im Haus der Religionen und der Friedenskirche Bern.
Bild: Sivakeerthy Thilaiambalam