Jede Zeit kann zum Gegenwartsort der Ankunft Gottes werden. Jede Zeit kann zum Ankunftsort der Fülle der Zeit werden. Das Weihnachtsfest als alljährlich wiederkehrende Feier der Geburt Christi gibt dies zu verstehen. Von Knut Wenzel.
Der Zyklus religiöser Feste begeht das in der Wiederholung Gleichbleibende, das Statisch-Verlässliche. Wenn ein solches Fest ein „Geschehen“ markiert, dann ein „Ur-Geschehen“, das „am Anfang“ (der Welt, der jeweiligen Kultur, der Dynastie, etc.) steht und durch diese Anfangstellung die Gegenwart begründet. Ein solches Geschehen am Anfang, das im Zyklus der Feste vergegenwärtigt und in seiner gegenwartsbegründenden Mächtigkeit erneuert wird, ist aber ein Mythos.
Das Christentum hat Anteil am Mythischen … aber es durchbricht den Mythos auch.
Das Christentum hat ebenfalls Anteil am Mythischen, wie es sich in einer solchen zyklischen, un-geschichtlichen Zeitstruktur zeigt. Aber es durchbricht den Mythos auch: Zwar weisen auch die christlichen Hochfeste einen zyklischen Charakter auf und vergegenwärtigen die wesentlichen Daten der christlichen „Gründungsgeschichte“: Verkündigung, Empfängnis, Geburt, Tod und Auferstehung Jesu Christi, seine Himmelfahrt, die Sendung des Heiligen Geists als Besiegelung der Stiftung jener Gemeinschaft, die sich in der Feier all dieser Feste ihres Ursprungs vergewissert. Aber in all dem feiern die christlichen Kirchen und Gemeinschaften ein Geschehen, das sich in der Geschichte ereignet hat. In der Ritual- und Festsprache des Mythos feiert das Christentum ein heilsgeschichtliches Geschehen.
Wer nach der Geschichte fragt, fragt nach dem Menschen.
Die zyklische Zeitstruktur verliert in dieser heilsgeschichtlichen Einbettung ihren mythischen Charakter. Sie deckt auf, dass die Zeit der Geschichte komplexer ist, als dass sie mit der Vorstellung eines Zeitpfeils erfasst werden könnte. Die Zeit der Geschichte verläuft nicht in einer bloß linearen Abfolge der Ereignisse. Geschichte ist nicht in Analogie zu einem naturgesetzlich ablaufenden und in diesem Sinn unumkehrbaren Prozess zu denken. Sie ist nämlich zugleich der Schauplatz, das Dokument und das Material menschlicher Handlungen. Wer nach der Geschichte fragt, fragt also nach dem Menschen. Menschen handeln in Erinnerung an bereits Getanes und Geschehenes, und sie handeln in Erwartung auf Zukünftiges. Durch diese beiden Grundbedingungen menschlichen Handelns ist Geschichte mitgeprägt.
Jede Gegenwart ist offen auf Vergangenheit und Zukunft – in den Modi der Erinnerung und der Erwartung.
Geschichte besteht also nicht aus einer stets sich fortzeugenden Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; vielmehr ist jede Gegenwart – verstanden als der Zeit-Ort unseres Handelns – in den Modi der Erinnerung und der Erwartung offen auf Vergangenheit und Zukunft. Die Zeitstruktur der Geschichte – die menschliche Zeit – ist durch eine Dynamik der Überkreuzung jener drei Zeitdimensionen geprägt.
Die christlichen Feste tragen eine erinnerte Vergangenheit und eine erhoffte Zukunft in unsere jeweilige Gegenwart ein.
Diese Grundstruktur der menschlichen Zeit wird durch die christlichen Feste gewissermaßen aufgenommen und „geheiligt“: Sind sie doch Feste des Eingedenkens und zugleich der Hoffnung. Die christlichen Feste tragen also eine erinnerte Vergangenheit und eine erhoffte Zukunft in unsere jeweilige Gegenwart ein – und zwar so, dass durch diese Eintragung unsere Gegenwart mit Bedeutung aufgeladen wird.
Damit aber lässt sich die Aussage der zyklischen Wiederholung dieser Feste so lesen: Das, was damals geschehen ist, was also eine Gegenwart in der Vergangenheit hat, geschieht auch jeweils jetzt, geschieht oder kann geschehen in jeder Gegenwart, und hat deswegen auch Zukunft. Die zyklische Zeitstruktur der christlichen Feste verwirklicht damit jene Grunddimension der Geschichte (verstanden als menschliche Zeit), aufgrund derer diese nicht bloß ein Kontinuum darstellt, sondern ein qualifiziertes Ganzes ist, dessen Einzelelemente in bedeutungsvoller Wechselbeziehung zueinander stehen.
Wir feiern die Geburt Christi als Ankunft der Fülle aller Zeit in der Zeit.
Die soeben skizzierte allgemeine Struktur christlicher Feste gilt nun in besonderer Weise für das Weihnachtsfest. Wir feiern die Geburt Christi als Ankunft der Fülle aller Zeit in der Zeit – und dies nicht im Sinn eines abstrakt-metaphysischen Wirkungszusammenhangs, sondern als ein geschichtliches Geschehen mit Ort und Datum. Nur so, nur als in sich geschichtliches Geschehen kann Gott-in-Fülle auch wirklich in der Geschichte ankommen.
Dies ist die wichtige Aussage, von dem das Matthäusevangelium unter Zitierung einer Verheißung aus dem Buch Jesaja berichtet: „Seht, die Jungfrau wird schwanger werden und einen Sohn gebären, und man wird ihm den Namen Immanuel geben, das heißt übersetzt: Gott mit uns“ (Mt 1,23; vgl. Jes 7,14). Und Simeon bezeugt von Jesus, den er zum Anlass des Beschneidungsfests im Tempel sieht: „… meine Augen haben dein Heil gesehen, / das du vor allen Völkern bereitet hast, ein Licht zur Offenbarung für die Heiden und als Herrlichkeit für dein Volk Israel“ (Lk 2,30–32).
Jeder Augenblick kann die Tür sein, durch die der Messias in die Geschichte eintritt.
Das Weihnachtsfest als alljährlich wiederkehrende Feier der Geburt Christi gibt zu verstehen, dass Gottes Ankunft in Zeit und Geschichte, so wie sie einmal sich Gegenwart verschafft hat, in jeder Zeit der Menschen gegenwärtig werden will. Jede Zeit kann zum Gegenwartsort der Ankunft Gottes werden. Jede Zeit kann zum Ankunftsort der Fülle der Zeit werden. Die Zeit erfüllt sich nicht am Ende eines einfachen Zeitstrahls, sondern die Fülle der Zeit tritt in die Zeit ein. Weihnachten, gerade als zyklisch wiederkehrende Feier der Ankunft Gottes, lehrt uns also, die Geschichte nicht als ein leeres Zeitkontinuum wahrzunehmen, sondern als die jederzeit mögliche Erfüllung der Zeit.
Die Menschen öffnen sich der Ankunft Gottes als der Ankunft der Fülle der Zeit, indem sie Weihnachten als memoria der Geburt Christi feiern.
Genauso hat aber Walter Benjamin die Wahrnehmung der Zeit als messianische Zeit bestimmt: Jeder Augenblick kann die Tür sein, durch die der Messias in die Geschichte eintritt. Das Weihnachtsfest ist also das messianische Fest des Christentums. Die Menschen öffnen sich der Ankunft Gottes als der Ankunft der Fülle der Zeit, indem sie Weihnachten als memoria der Geburt Christi feiern. Es gehört demnach zur weihnachtlich-christlichen Lesart der messianischen Struktur von Zeit und Geschichte, auf einen Zeit-Ort in der Geschichte zu verweisen, von dem her die mögliche Erfüllung der Zeit identifizierbar und deutbar ist.
Christinnen und Christen realisieren diese Verweisungsdynamik in der Praxis des Eingedenkens. Dieses Eingedenken ist keine private Erinnerung, niemand verfügt für sich selbst über einen Erinnerungszugang zu Jesus Christus. Es handelt sich vielmehr um eine Leistung des kollektiven Gedächtnisses der Überlieferungsgemeinschaft Kirche. Für den je eigenen Anteil an dieser anamnetischen Praxis, für die je eigene in dieser Praxis mit artikulierte Hoffnung, sind wir angewiesen auf das Glaubenszeugnis der Kirche.
Die Ankunft Gottes in der Geschichte geschieht konkret geschichtlich.
Die Ankunft Gottes in der Geschichte geschieht selbst konkret geschichtlich; sie ist identifizierbar. Dies jedenfalls ist die Grundaussage der großen theologischen, nicht historischen Erzählung, der theologischen Deutungserzählung, von der Geburt Jesu, die das Lukasevangelium der Erzählung vom Leben Jesu vorgeschaltet hat. Sie verknüpft zum einen Daten der politischen Geschichte mit der Geburt Jesu, um den weltgeschichtlichen Rang dieses Geburtsereignisses zu markieren. Zum anderen aber wird dieses Geburtsgeschehen mit den Insignien der Marginalität, der Schwachheit, der Armut versehen.
Die Offenbarung … geschieht nicht da, wo die Menschen dies erwarten würden, sondern kommt vom Rand her.
Am dichtesten findet sich beides in der Verkündigung an die Hirten zusammengezogen: „Fürchtet euch nicht, denn ich verkünde euch eine große Freude, die dem ganzen Volk zuteil werden soll: Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Messias, der Herr. Und das soll euch als Zeichen dienen: Ihr werdet ein Kind finden, das, in Windeln gewickelt, in einer Krippe liegt.“ (Lk 2,10–12)
Der Soter, Messias, Kyrios ist ein hilfloser Säugling, der in einer Futterkrippe in einem Stall liegt. Die Offenbarung, die Veröffentlichung dieses Geschehens ergeht zuerst des Nachts an Hirten irgendwo auf einem Feld; sie geschieht, so wie die Geburt Jesu selbst, nicht im politisch-religiösen Zentrum, sondern am Rand; sie richtet sich nicht an politisch-religiöse Repräsentanten oder wenigstens an die Träger der religiösen Überlieferung, sondern an arme, ungebildete, unterschichtige Menschen. Die Geburt Jesu, hier von Lukas gelesen als Anbruch der messianischen Zeit, der Erfüllung der Zeit, geschieht also nicht da, wo die Menschen dies erwarten würden, sondern kommt vom Rand her, subvertiert, unterläuft also die Macht- und Bedeutungsdynamiken menschlicher Gesellschaft und Geschichte.
Die Ankunft Gottes in der Geschichte bejaht unsere Hoffnung – und verneint womöglich die konkreten Gestalten, die wir selbst unseren Hoffnungen gegeben haben.
Auch das ist die Botschaft von Weihnachten: Die Erfüllung der Geschichte als die Erfüllung der menschlichen Zeit, die Ankunft der Fülle in der Zeit, kommt nicht in Entsprechung unseres Erwartungs- und Sehnsuchtsgefälles, kommt nicht als bloße Wunscherfüllung, sondern kommt unseren Erwartungen, Sehnsüchten und Hoffnungen buchstäblich ent-gegen, und zwar so, dass diesem Ent-gegen-Kommen durchaus die Kraft der Verneinung innewohnt.
Die Ankunft Gottes in der Geschichte bejaht unsere Hoffnung – und verneint womöglich die konkreten Gestalten, die wir selbst unseren Hoffnungen gegeben haben. Von der Ankunft Gottes in der Geschichte können wir die Erfüllung unserer Hoffnungen erwarten, jedoch kommt diese Erfüllung anders als wir hoffen.
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Knut Wenzel ist Professor für Fundamentaltheologie und Dogmatik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Bild: Nicole De Khors / BURST