Obwohl in der katholischen Kirche gerade das Matthäusjahr angefangen hat – die Evangelien des Lesejahres A stammen vorwiegend aus dem Matthäusevangelium – muss man zugeben: Zu Weihnachten ist Lukas ungleich wichtiger. Und im Bereich der Musik ist er sogar unentbehrlich. Weihnachten ohne Lukas ist eine musikalische Tragödie. Von Elisabeth Birnbaum.
Natürlich würde Lukas auch im Bereich der Theologie und im Brauchtum fehlen. Ohne Lukas hätten wir keine Weihnachtskrippen, kein in Windeln gewickeltes Jesulein, kein Heu und kein Stroh und keine Hirten! Der Stern hinge dementsprechend im wahrsten Sinn des Wortes in der Luft und die aus dem Jesajabuch importierten Tiere Ochs und Esel stünden relativ nutzlos in einem Haus herum. Das Engelshaar (Lametta) auf den Christbäumen verlöre seine Plausibilität, denn bei Matthäus schweben keine Engel um den ebenfalls nicht vorhandenen Stall. Immerhin blieben die Geschenke erhalten, die sich ja von den Gaben der Weisen ableiten.
Das Engelshaar auf den Christbäumen verlöre seine Plausibilität
Doch was sind diese Einbußen gegen lukaslose Weihnachtsmusik? Wer füllt die Lücke, die er hinterlässt?
Beiträge der anderen Evangelien
Von den vier Evangelien scheidet naturgemäß Markus für musikalische Höhepunkte weihnachtlicher Art aus. Ohne erzählte Kindheit Jesu kann sich kein Lied an ihm inspirieren. Aber auch Johannes hat uns zu Weihnachten nicht viel zu bieten. Der eher abstrakt klingende Prolog vom Logos lässt sich nicht so einfach in ein Lied bringen. Immerhin beschenkt uns Johannes mit der Formulierung „Et incarnatus est“ – dem Fleisch gewordenen Wort verdanken wir somit zahllose Soli im Credo.
Bei Matthäus ist der Ertrag schon größer. Sein Kindheitsevangelium erlaubt uns den Stern von Betlehem zu besingen. Die von Pseudo-Matthäus im 8. Jh. n. Chr. zu drei Heiligen Königen beförderten „magoi“ bescheren uns ebenfalls das eine oder andere schöne Musikstück und dazu eine sehr wichtige sängerische Aktion: das Sternsingen, das ja nicht nur künstlerisch, sondern vor allem sozial-karitativ nicht aus dem Volksbrauch wegzudenken ist.
Weihnachtslieder aus dem Alten Testament
Darüber hinaus blieben uns einige traditionelle Weihnachtslieder auch außerhalb der Evangelien erhalten. Dem Jesajabuch verdanken wir das schöne Lied „Es ist ein Ros‘ entsprungen“, das nichts mit einer Rose, schon gar nicht mit einem „Ross“, wie es Kinder oft verstehen, zu tun hat, sondern mit dem altdeutschen Wort „Reis“. Und das ist selbstverständlich keine asiatische Wokbeilage, sondern ein Wurzelstock. Metaphorisch ist damit der Vater von König David, Isai, gemeint, aus dessen Stamm nach dem Exil ein neuer Spross erwächst. Und diesen neuen Spross und Davidnachkommen sehen Matthäus und Lukas in Jesus.
Tochter Zion, freue dich!
Ein anderes Lied deutet einen Vers aus dem Buch Maleachi auf Jesus. Er wird zur dort entworfenen Personifikation einer heilend aufgehenden, nicht strafend hereinbrechenden „Sonne der Gerechtigkeit“. Und G.F. Händel verdanken wir ein Weihnachtslied, das seinen Text aus Sacharja 9 entnimmt: „Tochter Zion, freue dich.“
Lukas
Aber was ist das alles gegen Lukas? Ohne ihn wären wir schon im Advent zahlreicher Lieder beraubt: Maria würde in der Schwangerschaft nicht mehr zu Elisabet gehen – Bachs Magnificat wäre nie geschrieben worden. Sie würde auch mit ihrem Verlobten nicht nach Betlehem ziehen, aus dem einfachen Grund, weil sie bereits dort wohnt. Damit fällt „Maria durch den Dornwald ging“ genauso weg wie – ebenso schmerzlich – das Lieblingslied meiner Kindheit, die Herbergssuche „Wer klopfet an?“. Zu Weihnachten sänge niemand mehr „Ihr Kinderlein, kommet“, denn da läge nichts in Heu und Stroh. Niemand ermutigte die Hirten mehr zu Betlehems Stall zu kommen.
Damit entfielen auch zahllose „Pastorale“ rund um Weihnachten, berühmtestes Beispiel dafür ist die „Pifa“ bzw. „Pastorale“ aus dem „Messias“ von G.F. Händel. „O du fröhliche“ könnte in der zweiten Strophe nicht mehr mit „himmlischen Heeren“ aufwarten, die „Gott Ehre jauchzen“. Und apropos „Ehre“: Ein Propriumteil der katholischen Messe und seine unzähligen großartigen Vertonungen würden uns entgehen: das „Gloria“.
Bachs Magnificat wäre nie geschrieben worden
Keine singenden Engel
Singende Engel wären ohne Lukas noch ein Stück ungewöhnlicher. Die von uns so selbstverständlich als kleine niedliche geflügelte Sängerknaben und -mädchen imaginierten Wesen sind nämlich biblisch alles andere als fliegende Musikant*innen, sondern erwachsene flügellose Boten, die zumeist einzeln auftreten, für „Männer“ gehalten werden und schnörkellos ihre Botschaft abliefern. Nur dank Lukas dürfen Komponist*innen auf die musikalisch beliebteren und vermutlich auch praxistauglicheren Kinder- und Frauenchöre zurückgreifen.
Man stelle sich vor, niemand sänge … mehr „Stille Nacht“
Vollends zur Tragödie gerät die lukanische Lücke aber durch den Ausfall des Weihnachtsliedes schlechthin. Man stelle sich vor, niemand sänge am Ende der weihnachtlichen Liturgiefeiern oder zu Hause vor dem Christbaum, nicht einmal im Kaufhaus mehr „Stille Nacht“. Das traute hochheilige Paar, das in der Nacht wacht, die Hirten, die „erst kundgemacht durch der Engel Halleluja“ – sie blieben unbesungen und unbekannt. Eine Tragödie.
Es gäbe meines Erachtens nur einen einzigen Vorteil der lukanischen Lücke: Johann Sebastian Bach hätte sein Präludium in C-Dur nicht an Charles Gounod verloren. Und abseits von Weihnachten könnten zahllose Hochzeiten passendere Texte auswählen als „Ellens dritten Gesang“, D 839, Op. 52 Nr. 6, besser bekannt als Franz Schuberts „Ave Maria“.
Zahllose Hochzeiten könnten passendere Texte auswählen als „Ellens dritten Gesang“
Rotnasige Rentiere als Ersatz?
Aber davon abgesehen ist Weihnachten ohne Lukas – Matthäusjahr hin oder her – eine musikalische Tragödie. Da können weder weißröckige Schneeflöckchen noch süß klingende Glocken, weder in die Stadt kommende Santa Clause noch immergrüne Tannenbäume, ja nicht einmal „Rudolph“ genannte rotnasige Rentiere etwas dagegen tun. Deshalb nehme ich, bevor ich auf Lukas musikalisch verzichte, sogar das unvermeidliche Bach-Gounod’sche „Ave Maria“ in Kauf.
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Elisabeth Birnbaum ist Direktorin des Österreichischen Katholischen Bibelwerks und seit Juni 2018 Mitglied der Redaktion von Feinschwarz.
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