Zu wem beten Selbstmordattentäter und Kreuzzugsprediger, wenn sie beten? Und wen rufen die Opfer an vor der Katastrophe? Eine wichtige Unterscheidung macht Rainer Bucher.
I. Religion: „Letzte Zuflucht menschlicher Grausamkeit“
„Die Geschichte liefert bis in unsere Tage hinein einen melancholischen Bericht über die Greuel, die mit der Religion einhergehen können: Menschenopfer und insbesondere das Abschlachten von Kindern, Kannibalismus, Sinnesorgien, schauderhafter Aberglaube, Haß zwischen den Völkern, die Beibehaltung erniedrigender Bräuche, Hysterie, Fanatismus, sie alle können ihr zu Last gelegt werden. Religion ist die letzte Zuflucht menschlicher Grausamkeit. Die unkritische Gleichsetzung von Religion und Güte wird durch schlichte Fakten direkt widerlegt. Religion kann das Hauptinstrument des Fortschritts sein und ist es auch gewesen. Wenn wir aber das gesamte menschliche Geschlecht in Betracht ziehen, müssen wir betonen, daß es sich im Allgemeinen nicht so verhalten hat.“
Das ist weder von einem Laizisten formuliert noch neu. Es wurde 1926 notiert, in einer Vorlesung mit dem schönen Titel „Wie entsteht Religion?“, von einem Mathematiker und Philosophen namens Alfred North Whitehead.
Heute, knapp 90 Jahre später, konfrontiert die Globalisierung die modernen Gesellschaften dramatisch mit dem Gewaltpotential der Religion. Dieses Gewaltpotential, Hans-Joachim Sander hat hierfür den einprägsamen Begriff „Gottesgewalt“ gefunden, ist und war immer schon enorm und ist keineswegs ein von der Religion zu trennendes Phänomen, sondern wohnt ihr inne. Wer das Höchste und das Niedrigste, Anfang und Ende, Tod und Leben theoretisch thematisiert, ästhetisch präsentiert und rituell aktualisiert, der hat das Gewaltpotential all dieser Themen auf dem Tisch und operiert damit in den Herzen, Hirnen und Körpern seiner Gläubigen.
„Gottesgewalt“
„Der Himmel lächelt, mein junger Sohn, denn du marschierst zum Himmel. Überall, wo du hingehst, bei allem, was du tust, entsinne dich und bete zu Gott, denn Gott ist immer bei seinen Anhängern, die an ihn glauben, und Gott wird es leicht machen, dich segnen und deine Arbeit mit Erfolg krönen und du wirst am Ende der Sieger sein“ – so heißt das dann in der Anleitung für die Attentäter des 11. September 2001. „Ein Ritter Christi tötet mit gutem Gewissen; noch ruhiger stirbt er. Wenn er stirbt, nützt er sich selber; wenn er tötet, nützt er Christus“ – so hieß das bei Bernhard von Clairvaux in seiner Kreuzzugspredigt von Vézelay im Jahre 1146.
II. 11.9. Flug United Airlines 175
Versetzen wir uns für einen Moment ins Innere des Flugzeugs UA 175, kurz vor dem Aufprall am 11. September 2001. Was spielte sich da ab?
Es gab wohl selten einen dichteren Ort des Zusammenhangs von Gott und Gewalt als dieses Flugzeug zu diesem Zeitpunkt. Es war, soweit man wissen kann, ein Ort voller Gebete. Zumindest von einer Gruppe weiß man recht sicher, dass sie betete: von den Attentätern im Cockpit. Von der anderen Gruppe, von jenen, die zusammengepfercht im hinteren Teil der Maschine waren, kann man es annehmen. Denn sie wussten von ihrem bevorstehenden Schicksal als Opfer auf dem Altar einer Religion.
Die Attentäter brachten ein „sacrificium“, brachten sich, vor allem aber viele Tausend andere als Opfer. Sie beteten, wie man es tut, wenn man opfert. In der „Geistlichen Anleitung“ der Attentäter heißt es für jenen Moment, kurz vor dem Einschlag:
„Wenn sich dann die wahre Verheißung nähert und die Stunde Null erreicht ist, zerreiße dein Gewand und lege deine Brust frei, um den Tod auf dem Wege Gottes willkommen zu heißen, und sei ständig Gottes eingedenk. Entweder schließt du mit dem Ritualgebet, wenn das möglich sein sollte, das du einige Sekunden vor dem Ziel beginnst, oder deine letzten Worte sollen sein: ‚Es gibt keinen Gott außer Gott, und Muhammad ist sein Prophet‘. Und wenn Gott will, folgt danach das Treffen im Höchsten Paradies mit der Erlaubnis Gottes.“
Für ein frommes Land, wie es die USA sind, kann man realistischerweise annehmen, dass auch die Passagiere, zumindest viele, kurz vor dem Aufprall beteten. Dann aber stellt sich eine Frage: Ist der Gott der Gebete jener, die opferten im Cockpit, der gleiche wie jener in der Kabine? Ist es der gleiche Gott, der Gott derer, die geopfert wurden, also „victims“ waren, und der Gott jener, die sich selbst und viele andere opferten? Und welchen von beiden gibt es?
Ist es der gleiche Gott, der Gott derer,
die geopfert wurden, also „victims“ waren,
und der Gott jener,
die sich selbst und viele andere opferten?
Es geht nicht um den Gegensatz Islam – Christentum, es geht um den Kampf zwischen einem Gott, der das Opfer anderer fordert, und einem Gott, der sich selber opfert – und bestenfalls von seinen Gläubigen dieses Selbstopfer für andere erhofft. Diesen Kampf gibt es, so ist zu vermuten, in jeder Religion, im Christentum jedenfalls gibt es ihn.
III. Nicht derselbe Gott
Für einen Christen, eine Christin ist spätestens seit dem 11.9.2001, ist spätestens mit jenen beiden Göttern, zu denen gebetet wurde in Cockpit und Kabine, die Frage nicht mehr länger verdrängbar: An welchen Gott glaubst Du? Welchen gibt es: Keinen? Beide? Und wenn beide: Wie unterscheiden sie sich? Oder ist es nicht der eine und gleiche Gott, der einmal sich selbst opfert und einmal Opfer produziert? Der einmal sich opfert und einmal opfern lässt? Die Geschichte der Religionen scheint das nahe zu legen.
Die Theologie kommt hier in ein Dilemma, das für ihre Profession ganz eigentümlich ist. Die Logik des Handelns fordert bei dieser Frage Entscheidung, die Logik des Gegenstandes erst einmal Vorsicht. Die Theologie weiß, dass sie immer nur Versuch ist. Das liegt an ihrem Gegenstand. Gott gegenüber bleibt jedes Reden notwendig und unausweichlich unzulänglich. Denn Gott ist offenkundig kein Gegenstand unter den Gegenständen der Welt. Theologie verfügt nicht über ihr Thema, hat es aber zu bearbeiten. Das stellt Theologie in eine für sie ganz unausweichliche Spannung.
In dieser Spannung aber muss die christliche Theologie Stellung beziehen – zuletzt auf eigenes Risiko. Dieses Risiko heißt: Glauben. Dann aber ist zu sagen: Der Gott, zu dem Bernhard von Clairvaux in seiner Kreuzugspredigt und jener Gott, zu dem die Attentäter im Cockpit des Flugs UA 175 riefen, er ist der gleiche Gott. Er aber unterscheidet sich in allem und um alles von jenem Gott, zu dem die Opfer beteten: die Opfer der Hexenverbrennungen, die Opfer in der Kabine vom UA 175, die Opfer des IV. Kreuzzuges in Konstantinopel im April 1204: Sie alle beteten zum gleichen Gott, und es war ein anderer als jener der Täter.
Vor allem aber: Der Gott der Täter war nicht der Gott Jesu. In ihm, so muss die christliche Theologie festhalten, hat Gott sich nämlich mit den Opfern dieser Welt identifiziert, inklusive ihrer Schuld, ihrer Verlassenheit und ihres Todes. Der Ort, an dem das geschah: das Kreuz.
Der Gott der Täter war nicht der Gott Jesu.
Von Gott ist diesseits des Glaubens letztlich nur eines sicher: der Begriff von ihm. Der aber wird erkennbar in den Folgen des Handelns, die er bei jenen entwickelt, die an ihn glauben.
Jene, die im Namen Gottes morden, und jene, die ermordet werden und in dieser Not zu ihrem Gott um Rettung flehen oder gar wie Pater Christian de Chergé noch um die Rettung ihrer Mörder beten: Sie rufen wahrlich nicht zum selben Gott. An welchen man glaubt, entscheidet über unser Leben, welchen Gott es gibt, über alles.
(Rainer Bucher; Bild: 9/11-Memorial by Sylvia Krahl /pixelio.de)