Was haben Hartmut Rosa, Simone Weil und die Corona-Zeit miteinander zu tun? Thomas Sojer wagt eine Antwort.
Mit einer Prognose bevorstehender Verlusterfahrungen beendet Andreas Reckwitz sein jüngstes Buch, Das Ende der Illusionen und macht sich dabei unfreiwillig zum vorzeitigen Propheten. Er zeichnet die stetig anbahnende Entwicklung eines jahrzehntelangen Strukturwandels in Politik, Ökonomie und Kultur, allesamt Domänen autonomer Subjekte. Eingelöst haben sich die kollektiven Verlusterfahrungen jedoch massiver und abrupter als Reckwitz selbst erwartet hätte, als eine Gewalt, die uns weder als autonom noch kontrollierbar entgegenpeitscht, unsichtbar klein und gleichzeitig potenziell omnipräsent.
Monströse Unverfügbarkeit
Hartmut Rosa spricht in diesem Kontext von einer ‚monströsen Unverfügbarkeit‘, wenn er am Ende seines letzten Buches, Unverfügbarkeit, an die gesellschaftlichen Ohnmachtserfahrungen mit atomarer Verstrahlung erinnert. Während Rosa Unverfügbarkeit in den vorausgehenden Kapiteln als unverzichtbare Voraussetzung aller Resonanzbeziehungen und -momente setzt, sieht er deren monströse Mutationen mit Buchende rückhaltlos Selbst-Weltbeziehungen vernichten. Als eine zerstörerische Kraft trifft uns monströse Unverfügbarkeit, indem sie uns Menschen, materielle wie ideelle Gegebenheiten und Formen des In-der-Welt-seins gewaltsam entreißt, die uns etwas bedeutet und Sinn gestiftet haben, bzw. die wir uns vielleicht schon als organische Verlängerung anverleibt haben. Wer betroffen ist, ringt damit, Formen der Bewältigung zu finden. Ich kann mit einer Feststellung meines ohnmächtigen Unterworfenseins vor der Welt resignieren und in aufzehrende Melancholie abgleiten. Ich kann aber auch mit der Welt und der Wirklichkeit brechen, Verlust und Beschränkung verdrängen, und mir meine selbstermächtigte Gegenwelt schaffen, eine gefährliche Option, die ihre eigene Eskalation züchtet.
Subkutane Kontamination
Beide Wege sind selbsterklärend Sackgassen und die laufende Zunahme kollektiver wie auch individueller Verlusterfahrungen der gegenwärtigen Krisis, lassen ein weiteres Verweilen am Scheideweg nicht mehr lange zu. Resonanz, wie sie Hartmut Rosa versteht ist die Bedingung der Möglichkeit vom ‚guten Leben‘ und benennt die Erfahrung einer inneren, wechselseitigen Transformation, die mir immer widerständig bleibt, ja, eine subkutane Kontamination, in der Haut des Andern zu laufen, etwas, das nicht von Oberfläche zu Oberfläche übertragen wird, sondern auf geheimer Frequenz den Geliebten von Herz zu Herz ansteckt. Dabei hat Rosa schnell bemerkt, dass bestehende Vokabularien, die zum begrifflichen Standardinventar im Wortfeld ‚Transformation‘ zählen, das gegenseitige Verwandlungsgeschehen resonanter Begegnungen in ihrer Radikalisierung der Beziehungsidee nicht mehr adäquat oder nur einseitig ausdrücken. Eben in diesem Unvermögen der Sprache stößt er auf eine Haltung des Mediopassiv. Sie ist weder nur aktiv noch ausschließlich passiv und denkt Autonomie oder Heteronomie nicht mehr als losgelöste Zustände. Stattdessen blickt die Haltung des Mediopassiv auf menschliches Leben im ‚Dazwischen‘, einem unsichtbaren Raum der permanenten Verwandlung.
Zeitgenossenschaft mit Simone Weil
Mit dieser jüngsten Denkbewegung sehe ich Hartmut Rosa in einer Weg-, und Zeitgenossenschaft mit Simone Weil entlang des Mäanders spätmoderner Zivilisation. Anachronistisch gelesen besingt die dickköpfige Mittelschullehrerin, wenn Rosa resonante Weltbeziehung ruft, das Verwurzelt-sein, verkündet, wenn er das ‚Dazwischen‘ des Lebens betont, Platons metaxy [gr. zwischen] und mahnt zur ‚Aufmerksamkeit en hypomonē‘ [gr. im Warten] als Performanz des Mediopassiv. Mit Rosa und Weil können wir lange Memory spielen, so viele semantische Paarungen finden sich in den jeweiligen Wortspielen und Metaphern. Dennoch würden am Ende immer zwei verdeckte Kärtchen ohne Entsprechung übrigbleiben: Rosas Idee vom ‚guten Leben‘ und Weils Niemals-nur-Wort malheur, das die äußersten Formen menschlichen Leidens markiert. Diese offensichtliche Unvereinbarkeit entpuppt sich als paradoxal-ambivalent, wenn wir bedenken, dass beide Denkfiguren die wechselseitige Transformation in ihrer radikalen Form bezeichnen. Sind das ‚gute Leben‘ und malheur zwei Seiten derselben Medaille?
Das Feinschwarz nuancieren
Ich glaube, dass uns ein dualistisches Denken in Schwarz und Weiß wenig weiterführt und es, um noch in dieser Metapher bleiben zu können, Not tut, das Feinschwarz zu nuancieren: Die äußersten Formen von Leiden, malheur, beinhalten in den Augen Simone Weils ein latentes Resonanzangebot. Dabei handelt es sich jedoch um einen nicht steuerbaren Ausnahmezustand von Resonanz, der selbst mit den fluidesten Grenzen des ‚guten Lebens‘ rückhaltlos bricht: Der leidende Mensch erfährt sich seiner Persönlichkeit beraubt, zum Ding degradiert. Damit gehen die Ungeheuerlichkeit, Brutalität und Absurdität monströser Unverfügbarkeit einher und stellen die Hiobsgestalten vor eine Art letzte Entscheidung: Nie mehr zu lieben oder aber trotz allem weiter zu lieben, nur, ab jetzt absurd ins Leere hinein. Menschen, die sich trotz allem für die folie d’amour [Wahnsinn der Liebe] entscheiden, erfahren und bewirken (mediopassiv) eine radikale Wandlung, ja Transsubstantiation von gleichermaßen Subjekt und Welt.
Selbstzerstörerisches Mediopassiv
Weil setzt Verzicht als selbstwirksamen, welterzeugenden Akt vormals Ohnmächtiger, ein Handeln, das sie im ‚schöpferischen Verzicht‘ Gottes in seiner Beziehung zur Welt vorgeformt findet. Die Lehrerin betont zwar unermüdlich, dass ein ‚schöpferischer Verzicht‘ ausschließlich vom freien Subjekt selbst ausgehen muss und geißelt alle Formen äußerer Beeinflussung als Unterdrückung und Ideologie. Dennoch scheitert ihr Denken und ihre Lebensform, nicht zuletzt durch ihren anorektischen Tod mit 34 Jahren. Blind aus Glauben an eine dekontaminierte Innerlichkeit verkennt sie ihre eigene Ansteckung mit symbolischer Gewalt, welche sie ihr selbst zur gnadenlosen Sklaventreiberin werden ließ (im selbstzerstörerischen Mediopassiv).
Beziehung ambivalent-paradoxal denken
Trotz allem lohnt es sich mit einer thanatophilen Simone Weil weiterzudenken, auch in Rahmen der lebensbejahenden Resonanztheorie. Rosa denkt in seinen bisherigen Schriften das gegenseitige Verwandlungsgeschehen als synchrone Bezogenheit: Resonanz kalibriert, eint und bildet Resonanzachsen. Was geschieht aber nun, wenn die wechselseitige Verwandlung nicht synchron, parallel und auf eine gemeinsame Zukunft hin verläuft? Was geschieht, wenn die Transformationen, sei es durch äußere Umstände, Gewalt oder durch die freie oder natürliche Eigendynamik der Verwandelten selbst am Ende eine Trennung bedeutet? War das dann nie Resonanz, sondern ihr Gegenteil, Entfremdung? Transformation zwingt uns ‚Beziehung‘ ganz neu, ja ambivalent-paradoxal zu denken. Gilt Beziehung nur, wenn sie unsere Sehnsucht nach bleibender Anwesenheit befriedigt?
Das ‚gute Leben‘ verwundbarer Menschen
Betroffen von der Radikalität Simone Weils glaube ich, dass Loslassen, Verzichten und Verzichten müssen – etwas, das wohl in einem ‚guten‘ Leben verwundbarer, zerbrechlicher Menschen unvermeidbar ist – ebenso auf einer Form von Resonanz beruht: eine Resonanz, die mir erlaubt, mit dem Verlorenem als Verlorenes in Resonanz zu treten. Alles andere scheint mir in eine komplexe Verstrickung mit dem Verlorenen zu münden, ein Metier, das den psychoanalytischen Schulen gehört, aber von dem hier eingeschlagenen Weg abweicht. In Unverfügbarkeit, verneint Rosa, dass wir mit dem Tod in Resonanz treten können, weil dieser schlicht nicht zu uns sprechen kann. Mystikerinnen und Mystiker aller Glaubens- und Nichtglaubensrichtungen quer durch die Epochen hinterlassen uns dennoch Spuren von dieser seltsamen Form der Resonanz mit dem Abwesenden, dem Entrissenen, dem Verlorenen.
Loslassen-können als Resonanzbeziehung
Rückwärtssalto zum Anfang: Wie wollen wir umgehen mit den aktuellen Verlusterfahrungen? Hüpfen wir kopfüber in das Loch der Melancholie? Oder lassen wir den fehlenden Körper des auferstandenen Herzensbrechers zu uns sprechen, indem wir aufhören, statisch nach ihm zu greifen, und unseren Liebeskummer mediopassiv in eine Dynamik des Aufbruchs wandeln (lassen), oder, wie Simone Weil schreibt, wie Verrückte weiterlieben, das heißt in die Leere hinein. Weils apophatisches Lieben begegnet mir seltsamer Weise in meiner Lesart der Resonanztheorie, nämlich immer dann, wenn uns Rosa für innere Transformationen aufmerksam werden lässt: Für Weil bedeutet zu lieben, sich vom Fehlen des Geliebten transformieren zu lassen. Im Unterschied zur Manipulation, die eine Welt in Reichweite und Kontrolle verheißt, offenbart Transformation in ambivalent-paradoxer Weise Kontrollverlust und unabhängig aller physischen Bedingungen eine innere Distanz zum Geliebten. Wenn Loslassen-können, wie ich behaupte, eine ganz eigene, wenn auch seltsame Form von Resonanzbeziehung darstellt, mit wem oder was trete ich dann im Verlustfall in Resonanz? Mit meiner Erinnerung, mit dem Hinterbliebenen, mit den neuen Verhältnissen, die sich dadurch ergeben haben? Mit der Leere selbst?
Seltsame Form von Resonanz
Immer wieder ertappe ich mich, wie ich diese Fragen in stark essentialistischen Denkmustern betrachte und die von Rosa und Weil betonte Priorität der Transformationsprozesse vor ihren ‚Produkten‘ vergesse. Ich halte immer noch Ausschau nach dem Ding, versuche mich, so gut es geht daran zu erinnern, grüble nach, versuche verzweifelt Gestalt, Geruch und Geschmack, oder einfach nur das alte ‚Feeling‘ zu reproduzieren, aber ich übersehe meine liebgewordenen Dellen aus den Begegnungen, die Geschichten meiner Kontaminationen, ihre*seine Fußabrücke in meinen Herzen, das ‚Dazwischen‘, das wir wie steter Tropfen gemeinsam geformt haben, das Rhizom unendlicher Verflechtungen, dessen Sporen unter jeder Falte schlummern, und meine mediopassive Beschaffenheit vor diesem Kosmos der Kontamination, die nach dem früheren Beschenkt-sein der Gnade nun an die Grenze lähmender Ohnmacht monströser Unverfügbarkeit rührt. Mir wird immer mehr klar, dass diese seltsame Form von Resonanz, die uns erlaubt jemand oder etwas ‚wirklich‘ loszulassen, nichts Schönes ist, aber ganz auf den Grund meiner Existenz reicht. Dann, wenn klar wird, der Andere kommt nicht mehr, doch die Dynamik der gegenseitigen Kontamination das ‚Ich‘ sprengt und mich auf die Welt wirft.
Thomas Sojer ist Doktorand am Max-Weber-Kolleg Erfurt.
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