Auch in der Theologie wirken Machtverhältnisse auf die Wissensproduktion ein. Aber wie werde ich mir meiner eigenen blinden Flecken bewusst? Verena Suchhart-Kroll schlägt eine Adaption des Bechdel-Tests vor.
Manchmal muss es schnell gehen: Für eine Lehrveranstaltung zum Studienanfang suchten wissenschaftliche Mitarbeiter*innen unserer Fakultät unter Zeitdruck einige theologische Texte zusammen. Maßgabe war, dass diese als bedeutende einführende Texte in die Theologie gelten sollten.
Nach der Lehrveranstaltung wurde die Auswahl – offen für Ergänzungen – bei einem Treffen wissenschaftlicher Mitarbeiter*innen vorgestellt und fand breite Anerkennung. Die Textauswahl schien uns nur zu offensichtlich, bestand sie doch aus Beiträgen, die wir alle im Studium gelesen und die uns als Theolog*innen geprägt hatten.
Die Autor*innen der Texte, die wir für unsere Lehrveranstaltung als angemessen betrachtet haben, sind alles andere als divers.
Erst auf den zweiten Blick fiel uns auf: Die Autor*innen der Texte waren bis auf zwei Ausnahmen alle Männer. Dazu kommt, dass einer der beiden von Frauen verfassten Beiträge durch das Prädikat „feministisch-theologisch” explizit als „anders als der Mainstream” hervorgehoben war. Alle Autor*innen waren weiß und bis auf einen Franzosen alle Deutsche.
Es wäre spannend, weitere Diversitäts-Kategorien, wie z.B. die Frage nach der sozialen Herkunft, zu prüfen. Der flüchtige Blick scheint jedoch nahezulegen: Die Autor*innen der Texte, die wir als wissenschaftliche Mitarbeiter*innen für unsere Lehrveranstaltung als angemessen und naheliegend betrachtet haben, sind alles andere als divers.
In meinem Seminar legte ich meinen Studierenden die Textauswahl und die Bilder der Autor*innen mit der Frage vor, ob ihnen etwas auffalle. Die erste Reaktion auf die fehlende Diversität war sinngemäß die Wortmeldung: „Wenn die Texte doch gut sind, was ist das Problem? Es geht doch um die Qualität der Texte, nicht darum, wer sie geschrieben hat!”
Von ihrem eigenen Selbstverständnis her setzt sich in der Wissenschaft nur das beste Argument durch – ohne Ansehen der Person.
Einerseits trifft diese Aussage den sprichwörtlichen Nagel auf den Kopf: Von ihrem eigenen Selbstverständnis her setzt sich in der Wissenschaft das durch, was Erkenntnis generiert, die Wissensbestände erweitert, von Kompetenz und Qualität zeugt – ohne Ansehen der Person, im freien Austausch, in dem am Schluss nur das beste Argument überzeugt.
Andererseits weist die Wissenschaft insgesamt und damit selbstverständlich ebenso die Theologie ungleiche Zugangsvoraussetzungen auf. Auch in der Theologie wirken Machtverhältnisse auf die Wissensproduktion ein. So betont Judith Gruber unter Einbezug postkolonialer Theoriebildungen:
Ist d[er] Kanon theologischer Kernthemen […] einmal etabliert, informiert und steuert er die weiteren Politiken theologischer Wissensproduktion, wie sie etwa in Berufungsverfahren, den Auswahlprozessen renommierter Publikationsforen und den Bestückungen von Bibliotheken greifbar werden; Wissensstrukturen, Machtstrukturen und Infrastrukturen greifen ineinander und verstärken sich wechselseitig – das Zentrum regeneriert sich selbst.[1]
Es ist keine rein objektive Entscheidung, wen ich (nicht) zitiere.
Es ist also keine rein objektive Entscheidung, wen ich (nicht) zitiere, welche Fragestellungen ich (nicht) rezipiere und auch welche Ansätze ich in ihren wissenschaftlichen Standards (nicht) für selbstverständlich halte.
Die Unausweichlichkeit, mit der Macht und Wissen miteinander verbunden sind, wird besonders zum Problem, weil die deutschsprachige Theologie „eine Tendenz zur Ausblendung von Machtverhältnissen in der theologischen Wissensproduktion“[2] aufweist, so Gruber weiter. Der Zusammenhang von Wissen und Macht ebenso wie die Kontextgebundenheit der vorherrschenden Diskurse – worin diese nicht anders als alle anderen kontextuellen Theologien sind – müssen jedoch bewusst erinnert werden.[3]
Dann nehme ich in Kauf, dass andere Wissenschaftler*innen mit hilfreichen Perspektiven nicht in der gleichen Weise gehört werden.
Dies erinnert an den von Homi Bhabha geprägten Begriff des „right to narrate“ (Link: harvarddesignmagazine.org). Demnach besteht ein elementares Recht, in der menschlichen Kommunikation und in der gesellschaftlichen Wissensproduktion mit seinen Themen und seiner Geschichte gehört zu werden und diese so mitzugestalten.
Wenn die Literatur, die ich zitiere, fast nur von bestimmten Personengruppen stammt, dann nehme ich auch in Kauf, dass andere Wissenschaftler*innen mit hilfreichen Perspektiven nicht in der gleichen Weise gehört werden. Sie werden darin eingeschränkt, mit ihren möglicherweise innovativen Ansätzen (Theologie-)Geschichte mitzuschreiben.
Wenn sich stets das überzeugendste Argument durchsetzt, war die eigene Arbeit dann einfach nicht gut genug?
Mögliche Auswirkungen fehlender Rezeption auf das Selbstwertgefühl veranschaulichte Anne-Claire Mulder eindrucksvoll bei einem Vortrag der diesjährigen Tagung der European Society for Women in Theological Research.
Am Beispiel der begrenzten Aufnahme feministisch-theologischer Beiträge im niederländischen Diskurs beschrieb sie den für die eigene Selbstwahrnehmung nachhaltigen Eindruck: Wenn der theologische Diskurs so fair sei und sich stets das überzeugendste Argument durchsetze, dann müsse wohl die eigene Arbeit als Frau und als feministische Theologin einfach nicht gut genug gewesen sein.
Wie werde ich mir selbst meiner eigenen blinden Flecken in meiner Literaturauswahl bewusst?
Vor dieser Folie analysiert, wirft die Anekdote vom Anfang für mich vielfältige Fragen auf: Wie z.B. vermittele ich meinen Studierenden den Wert eines diversitätssensiblen Blicks, der immer nochmal über die im Studium vorgegebenen Wissens-Kanones hinausfragt? Wie mache ich dies zugleich auf eine Art und Weise, die nicht den Eindruck erweckt, ich wolle ihre freie Literaturauswahl beschränken? Und noch viel weitergehender: Wie werde ich mir selbst meiner eigenen blinden Flecken in meiner Literaturauswahl bewusst?
So hat mich erschreckt, dass ich selbst in der Arbeitsstelle für Theologische Genderforschung in Münster arbeite und damit quasi von Beruf das Anliegen der Diversitätssensibilität habe – und trotzdem die Textauswahl zunächst so stimmig und nicht weiter ergänzungsbedürftig fand. Was also tun?
Ich möchte einen anfanghaften Vorschlag machen, der selbstverständlich ergänzungsbedürftig und aus vielen Perspektiven zu diskutieren ist. Er ist jedoch leicht zu prüfen und erweist sich daher für meine eigene Arbeit als hilfreich, die eine oder andere Lücke in der Wahrnehmung von Literatur sichtbar zu machen.
Vorschlag: Bechdel-Test für wissenschaftliche Arbeiten.
Mein Vorschlag ist, den Bechdel- bzw. Bechdel-Wallace-Test (Link: Cambridge Dictionary) für das Verfassen von wissenschaftlichen Arbeiten zu adaptieren. Ursprünglich wird dieser Test genutzt, um die Repräsentation von Frauen in Filmen zu prüfen. Der Test fragt, ob in einem Film mindestens eine Szene vorhanden ist, in der zwei Frauen – vorzugsweise mit Namen – miteinander ein Gespräch führen und zwar über etwas anderes als einen Mann.
Übertragen auf meine wissenschaftliche Arbeit und ausgeweitet über die Geschlechterfrage hinaus, heißt das: Setze ich mich in einem Artikel, einem Kapitel meiner Dissertation o.Ä. mit Texten von mindestens zwei Frauen bzw. zwei Menschen auseinander, die nicht aus Westeuropa oder vielleicht noch den USA stammen? Setze ich die zitierten Beiträge vielleicht sogar in Beziehung zueinander? Und geht es dabei inhaltlich um etwas anderes als die Gedanken und Arbeiten eines Mannes bzw. einer Westeuropäerin oder eines Westeuropäers?
Unser eigener wissenschaftlicher Horizont ist nicht weit genug.
Nicht immer ist diese Erwartung umsetzbar. Manche Texte sind sehr kurz. Andere Themen sind sehr speziell. Aber sich immer wieder die Frage zu stellen, ob ich in dieser Hinsicht nicht doch nochmal auf die Suche nach zwei weiteren Literaturtiteln gehen sollte, scheint mir auf jeden Fall lohnenswert zu sein. Wir verbauen uns viel, wenn wir davon ausgehen, unser eigener begrenzter Horizont sei wissenschaftlich weit genug.
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Verena Suchhart-Kroll ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Arbeitstelle für Theologische Genderforschung in Münster.
Bild: CoWomen / unsplash.com
[1] Judith Gruber, „Wider die Entinnerung. Zur postkolonialen Kritik hegemonialer Wissenspolitiken in der Theologie“, in: Andreas Nehring, Simon Wiesgickl (Hg.), Postkoloniale Theologien, Bd. 2. Perspektiven aus dem deutschsprachigen Raum, Stuttgart 2018, S. 23-37, hier S. 24-25.
[2] Ebd., S.24.
[3] Vgl. ebd., S.27.