In diesen Tagen jähren sich die Proteste von Studierenden und Bevölkerung, die in der Tschechoslowakei die friedliche Transformation herbeigeführt haben. Jiří Silný über die Samtene Revolution und was aus ihren Zielen geworden ist.
Anfang und Ende
Die sozialistischen Alternativen als Staatsregime entstanden meist unmittelbar nach einem verheerenden Scheitern der kapitalistischen Ordnung im Ersten und Zweiten Weltkrieg und in einer scharfen Konfrontation zu den gegnerischen Staaten. Beides führte zu einer Brutalisierung der Gesellschaft mit vielen Opfern und zum baldigen Aussetzen der demokratischen Prinzipien. Mangel an Freiheiten zeichnete den staatlichen Sozialismus auch in ruhigeren Zeiten nachhaltig aus und die Versuche, aus den Fehlern zu lernen, scheiterten meist an der Monopolisierung der Macht. Dies führte meines Erachtens auch zum Ende dieser Alternativen in Europa.
Aussetzen demokratischer Prinzipien
Immerhin – dieses Ende war mit keinen Katastrophen verbunden und verlief meist ziemlich friedlich und geordnet. Der Zusammenbruch war kein Bankrott, sondern eher ein Ermüden. Die Visionen waren ausgegangen. Und erst jetzt, mit Abstand, ist zu sehen, dass die so oft ironisierten Errungenschaften des Sozialismus in der Wohnungspolitik, im Gesundheits- und Schulwesen, im sozialen Bereich gar nicht so selbstverständlich und banal waren.
Die Visionen waren ausgegangen.
Die Erwartungen der Wende
Die Wende kam unerwartet und trotz der Unterschiede in einzelnen Ländern doch während einer kurzen Zeitspanne. Das Vertrauen in die kommunistische Führung schwand, die basale Loyalität oder Duldung – und damit die Angst vor ihr. Das heißt nicht unbedingt, dass damit auch überall das System des Sozialismus verworfen wurde. Trotz alledem hofften z. B. viele Menschen in der Tschechoslowakei auf demokratischen Sozialismus. Nach einer Meinungsumfrage Ende 1989, kurz nach der Wende, wünschten sich in der ČSSR nur 3% Kapitalismus, 45% wollten demokratischen Sozialismus und 47% etwas dazwischen. Das Buch Die Revolution mit menschlichem Antlitz des amerikanischen Historikers James Krapfl dokumentiert, dass die Menschen vor allem mitbestimmen wollten – auf dem Arbeitsplatz, im lokalen Gemeinwesen, im Staat. Gegen die Behauptung von Jürgen Habermas, dass die Wende nichts Originelles brachte, zeigt Krapfl, dass eine neue Qualität emanzipatorischer Kämpfe enstand: radikale Demokratisierung zusammen mit Forderungen von mehr Menschlichkeit, Gewaltlosigkeit und umfassender Gerechtigkeit. Das Erbe des Prager Frühlings war noch lebendig.
Eine neue Qualität emanzipatorischer Kräfte
Die Wende selbst war ein Werk von Bürgerforen (Občanské fórum), einer breiten, kreativen und spontanen Aktivität von unten. Bald haben aber statt dieser Räterepublik die nicht gewählten Zentren in Prag und Bratislava die Initative übernomen und die Art und Weise der Übergabe der Macht wurde zwischen ein paar Dutzend Dissident*innen und den Spitzenrepräsentant*innen der Kommunistischen Partei in Prag verhandelt. Die Absprache zwischen alten und neuen Eliten zog die Wende glatt, aber mit gravierenden Folgen.
Die Dissident*innen durften weiter über Menschenrechte reden, aber die Umgestaltung der Gesellschaft machten die Technokraten, meist ehemalige Kommunist*innen, die sich schnell mit der neuen Ideologie des Washington Konsensus – ähnlich primitiv wie der ausgelaugte Marxismus der Parteischulen – angefreudet haben. Daher die sonderbaren Ähnlichkeiten zwischen dem alten und dem neuen System. Die Partei sprach nach dem Zerschlagen des Prager Frühlings über Normalisierung, über eine Rückkehr zu den normalen Verhältnissen, um in Ruhe an der Steigerung des Lebensstandards zu arbeiten. Auch nach der Wende sprach man über eine Rückehr, weg von dem sozialistischen Experiment zur europäischen Normalität der Demokratie und der Marktwirtschaft (noch lange war das Wort Kapitalismus tabu) und zu neuer Prosperität. Diese kam aber real leider nicht für alle.
Sonderbare Ähnlichkeiten zwischen dem alten und dem neuen System
Die Ergebnisse der Transformation
Die Lage nach dreissig Jahren seit der „Samtenen Revolution“ ist nicht blendend. Tschechien gehört zu der kleinen Gruppe der postsozialistischen Länder, in denen es wenigstens einen kleinen Zuwachs an Bevölkerung gibt (aus vielen Ländern laufen die Leute weg). Dank den Zaubertricks der Statistik sieht es so aus, als ob es im Vergleich mit anderen EU Staaten relativ wenig Armut gibt. In Bezug auf die Kaufkraft hat Tschechien schon Portugal überholt. Aber die Kluft im Lebensniveau zu Westeuropa ist praktisch gleichgeblieben. Die Gehälter bei Škoda VW liegen immer noch bei einem Drittel dessen, was die Kolleg*innen in Deutschland verdienen – für gleiche Arbeit. Die Preise sind vergleichbar, manchmal sogar höher – auch die Mieten. Die Transformation der Wirtschaft führte in Tschechien zu dem Zustand, den die kritische Ökonomin Ilona Švihlíková durch den Namen ihres Buches beschreibt: Wie sind wir eine Kolonie geworden. Legaler Ausfuhr der Profite der Auslandsinvestoren macht etwa 30 000 CZK pro Person im Jahr (ein Druchschnitsmonatsgehalt). Wenigstens noch mal so viel verschwindet in Steueroasen oder durch „Steueroptimierung“.
Die Verlierer*innen der Transformation
Heute kann man etwa ein Fünftel der Bevölkerung zu den eindeutigen Gewinner*innen der Transformation rechnen. Ein anderes Fünftel lebt in sehr prekären Verhältnissen. In einem Land mit 10 Millionen Einwohner*innen gibt es zur Zeit 4,5 Millionen Pfändungsfälle von rund 800.000 Personen. Für viele ist ein persönliches Insolvenzverfahren wegen sehr harter Bedingungen kaum erreichbar oder durchfürbar. Etwa 50.000 sind obdachlos und es werden praktisch keine Sozialwohnungen gebaut. Die Menschen in der Mitte können einigermaßen gut leben, haben aber meist keine Reserven für Krisenfälle und sind besonders durch steigende Mieten oder einen Ausfall der Zahlungsfähigkeit bei einer Hypothek bedroht. So sieht die Lage trotz guter Konjuktur und einer sehr niedrigen Arbeitslosigkeit aus.
Politisch ist Tschechien nicht so stark wie andere Länder von der postsozialistischen Plage des rechten Populismus befallen. Aber das Übel der korrupten Systeme, in denen die Grenze zwischen wirtschaftlicher und politischer Macht verwischt wird, teilt sie. Durch lauter Demokratie sind wir zur Vorherrschaft von Oligarchen gekommen.
Korruption und Oligarchie
Und jetzt?
Der ehemalige Premierminister von Tschechien, der Historiker Petr Pithart, heute Christdemokrat, damals Mitglied der Kommunistischen Partei, sagte vor ein paar Wochen in einem Interview, dass die Zeit des Prager Frühlings die einzige Zeit in seinem Leben war, in der er glaubte, „dass die Welt besser werden und dass sich jeder Mensch daran beteiligen kann“. Nach dreißig Jahren Freiheit, Demokratie und Marktwirtschaft würde man von einem prominenten Protagonisten der Wende etwas anderes erwarten. Aber Petr Pithart ist ein aufrichtiger Mensch.
Verlust der Hoffnung auf eine menschlichere Welt?
Erneut sieht es nach einem Verlust von Visionen aus. Im Grunde ist das noch schlimmer, weil der Verlust der Hoffnung auf eine menschlichere Welt heute kombiniert ist mit der Angst, ob es überhaupt eine Zukunft geben wird. Unzählige Filme und Bücher überzeugen uns, dass die Zukunft nur Kampf, Zerstörung und unsagbares Elend bringen wird. Selbst die Reichen und Mächtigen bereiten sich auf eine Flucht in Festungen in abgelegenen Gegenden oder gar auf andere Planeten vor. Ja, die naturgegebenen Grenzen des Überlebens sind schon sichtbar und die Zeit wird knapp.
Gleichzeitig mit dem stumpfen Weiter-So der Herrschaft, der Ausbeutung und der Zerstörung formiert sich eine neue Gegenwelle der Großen Transformation, wie sie Karl Polanyi vorschwebte. Diese Strömungen sind in Tschechien und in anderen postsozialistischen Ländern noch nicht sehr stark. Ähnlich wie im Westen nur noch viel mehr hat sich die ganze politische Debatte nach rechts verschoben und die notwendige Systemkritik wird weiterhin tabuisiert.
Eine neue radikale Generation
Aber es ändert sich, vor allem bei den jungen Menschen. Die Klimaveränderung und die Umweltzerstörung aktivieren und politisieren eine neue radikale Generation. Hoffentlich rüttelt sie die Gesellschaft wach, damit wir nach dreissig Jahren in Richtung Sackgasse mit der richtigen Transformation endlich anfangen.
—
Jiří Silný ist Projektkoordinator der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Prag. Vorher arbeitete er als Pfarrer, Übersetzer und Journalist und leitete zwanzig Jahre die Ökumenische Akademie in Prag.
Bild: MD / WikiCommons (CC BY-SA 3.0)