Im Zentrum der politischen Theologie von William T. Cavanaugh, in dessen theologischen Entwurf Stephan Tautz einführt, steht die Annahme, das Heilige sei in die Sphären von Politik und Ökonomie migriert.
Wir leben in postsäkularen Gesellschaften. Vor gut 20 Jahren hat Jürgen Habermas diese Zeitdiagnose im Nachgang zu 9/11 geprägt, als er anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels ein neues Zeitalter der „kooperativen Übersetzung religiöser Gehalte“[i] einläutete. Nicht mehr „feindliche Übernahme“ der Religion durch säkulare Vernunft, sondern Kooperation unter dem Dach einer „pluralisierten Vernunft“ sei das Gebot der Stunde. Angesichts dieses Paradigmenwechsels war von religiöser und theologischer Seite eine deutliche Euphorie wahrnehmbar. Gar von der „Wiederkehr der Götter“[ii] war die Rede. Das rief wiederum einen „Neuen Atheismus“ auf den Plan, deren Vertreter:innen vor allem durch die recht „alte“ Warnung vor dem unkontrollierbaren Gewaltpotential irrationaler religiöser Überzeugungen auffielen.
Dichotome Gegenüberstellungen aufbrechen.
Vor dem Hintergrund des „Kriegs gegen den Terror“, den seinerzeit George W. Bush ausrief, hat der US-amerikanische katholische Theologe William T. Cavanaugh (* 1962) demgegenüber kritisch angefragt, inwieweit sich die Adjektive „säkular“ und „religiös“ eignen, um angemessen über Gewalt(legitimation) zu sprechen. Analog zu Habermas’ Rede über Postsäkularität will Cavanaugh die dichotome Gegenüberstellung von säkular-vernünftig vs. religiös-irrational aufbrechen, wenn er mit sarkastischem Unterton bemerkt:
„In foreign policy, the myth of religious violence serves to cast nonsecular social orders, especially Muslim societies, in the role of villain. They have not yet learned to remove the dangerous influence of religion from political life. Their violence is therefore irrational and fanatical. Our violence, being secular, is rational, peace making, and sometimes regrettably necessary to contain their violence. We find ourselves obliged to bomb them into liberal democracy.“[iii]
Migrationsprozesse des Heiligen
Formulierungen wie diese zeigen Cavanaughs Freude an so mancher Provokation gegenüber liebgewonnenen Gewissheiten. Dabei dürfte gerade dieses Markenzeichen des (selbst-)kritischen Hinterfragens der westlich-säkularen Deutungshoheit Cavanaugh zu einer der führenden Stimmen im Feld der politischen Theologie im englischsprachigen Raum gemacht haben. Gewiss ersetzen noch so gelungene Zuspitzungen nicht die ernsthafte und detaillierte Analyse. Genau darin liegt jedoch die größte Stärke in Cavanaughs Werk. In zahlreichen Studien hat er verdeutlicht, inwiefern das Narrativ der zwangsläufigen Säkularisierung moderner Gesellschaften unter postsäkularem Vorzeichen selbst in Verdacht gerät, ein (irrationaler) Mythos zu sein.
Damit ist zugleich der Kern von Cavanaughs eigener Zeitdiagnose benannt: Anstatt von einer Säkularisierung und anschließender Wiederkehr der Religion spricht er von „Migrationen des Heiligen“[iv]. Im gleichnamigen Buch, das im September dieses Jahres auch in deutscher Sprache erschien, analysiert er die Migrationsprozesse des Heiligen, die sich im Verlauf der Neuzeit zugetragen haben. Das Heilige steht hier für eine letztbegründende Autorität, anhand derer das gemeinschaftliche Zusammenleben organisiert wird.
Doch mit dieser Migration des Heiligen in die politische Sphäre haben Christentum und Theologie für Cavanaugh nicht einfach ausgedient. Im Gegenteil: Theologie wird zur politischen Theologie, die vermeintlich rein säkulare politische Institutionen, Visionen und Praktiken als implizite säkularisierte politische Theologie analysiert und ggf. kritisiert. Prägnant bringt das Cavanaugh wie folgt auf den Punkt:
„Politik im Zeitalter der Moderne ist zweifellos anders, doch lässt sie sich vielleicht besser verstehen, wenn wir nicht einfach die Götterdämmerung hervorheben, sondern sie auf Anzeichen der uralten Sünde des Götzendienstes untersuchen.“[v]
Gefahr des Götzendienstes
Die theologische Kategorie – beinahe so etwas wie die theologische „nukleare Option“ – des Götzendienstes auf moderne Politik und Ökonomie anzuwenden, wirkt auf den ersten Blick prekär – gerade wenn ein solcher Verdacht von katholischer Seite geäußert wird. Unterstellte man allerdings Cavanaughs Ansatz vorschnell einen religiösen oder katholisch-regressiven Triumphalismus, würde man dessen Kernanliegen grundsätzlich missverstehen, denn auch Christentum und Kirche(n) sind in seiner Sicht beständig der Gefahr des Götzendienstes ausgesetzt.
Liturgie, die zu Gemeinschaft unter Menschen führt.
Ein Blick auf die Genese seiner politischen Theologie verdeutlicht dies. Am Anfang stand die Erfahrung, die Cavanaugh als Sozialarbeiter in Santiago de Chile zur Zeit der Militärdiktatur Pinochets machte und in seiner Dissertation „Torture and the Eucharist“[vi] verarbeitete. Darin interpretiert Cavanaugh die staatlich organisierte Folter als eine Art „Anti-Liturgie“, die zum Ziel hat, Menschen voneinander zu isolieren und in eine absolute Abhängigkeit gegenüber dem Staat zu zwingen. Als Gegenbewegung hierzu spricht sich Cavanaugh für eine „echte“ Liturgie der Kirche aus, die im Zeichen der Eucharistie zu Solidarität und Gemeinschaft unter den Menschen führt und – mit kritischem Blick auf das Versagen der Kirche – ein dezidiert politischer Akt ist, nicht eine semi-private Veranstaltung ohne konkrete politische Konsequenzen.
Produktiv mit der politischen
Dimension von Liturgie umgehen.
Selbstverständlich lassen sich die Situation unter dem Pinochet-Regime oder auch der US-amerikanische Kontext Cavanaughs nicht eins zu eins auf unsere eigenen gesellschaftlichen Kontexte übertragen. Die „Integration“ von Cavanaughs theologischem Entwurf in unseren Diskurs über das Verhältnis von Politik und Religion birgt allerdings die Chance, grundsätzlich zu reflektieren, nach welchen Kriterien wir theologisch über Politik sprechen wollen bzw. inwiefern die strikte Unterscheidung zwischen „theologisch“ und „politisch“ aus christlicher Sicht sinnvoll ist. Unterliegen wir einem Loyalitätskonflikt? Und wie können wir produktiv mit der politischen Dimension von Liturgie und Eucharistie umgehen? Cavanaughs Ansatz kann ein erster Aufschlag für die Diskussion sein, was es heißt, „[to] put[] theology back into political theology”[vii]. Seine Ermutigung, die christlichen Ressourcen für Hoffnung immer wieder neu zu erschließen und diese solidarisch und global zu teilen[viii], ist dabei sicherlich eine Motivation, die von vielen geteilt werden kann.
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Stephan Tautz, Dr. theol., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Liturgiewissenschaft der Kath.-Theol. Fakultät der Universität München.
[i] Vgl. Jürgen Habermas, Dankesrede. Glauben und Wissen, 9–15, hier: 12–14, https://www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de/alle-preistraeger-seit-1950/2000-2009/juergen-habermas, abgerufen am 3.11.2023.
[ii] Siehe z.B. Wilhelm Friedrich Graf, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 2004.
[iii] William T. Cavanaugh, The Myth of Religious Violence, Secular Ideology and the Roots of Modern Conflict, Oxford 2009, 4.
[iv] William T. Cavanaugh, Migrationen des Heiligen. Gott, der Staat und die politische Bedeutung der Kirche, übers. u. hrsg. v. Barbara Hallensleben, Münster 2023.
[v] Ebd., 2.
[vi] William T. Cavanaugh, Torture and the Eucharist. Theology, Politics, and the Body of Christ, Oxford 1998.
[vii] William T. Cavanaugh, Field Hospital. The Church’s Engagement with a Wounded World, Grand Rapids 2016, 99.
[viii] Vgl. hierzu das bislang einzigartige Projekt eines tatsächlich globalen Kommentars einer Enzyklika unter: William T. Cavanaugh, Carlos Mendoza-Álvarez OP, Ikenna Ugochukwu Okafor, Daniel Franklin E. Pilario CM (Hg.), Fratelli Tutti. A Global Commentary, Eugene, Oregon (im Erscheinen).
Bildnachweise
Titelbild: Luzern / Wolfgang Beck
Porträtbild: Stephan Tautz; Autor/Rechte Stephan Tautz