Sexuelle Gewalt und die Offenbarung des Johannes. Von Joachim Kügler
Die Johannes-Apokalypse mag für Lesende heute schwierig sein. Zum einen, weil jetzt „Apokalypse“ die Angst vor dem katastrophalen Zusammenbruch einer Weltordnung ausdrückt, während in der Offenbarung die Opfer der bestehenden Weltordnung sprechen. Für sie war das Ende dieser Welt eine Hoffnung auf Befreiung. Zweites ist das letzte Buch der christlichen Bibel so vollgepackt mit Gewalt, dass es friedliebende Menschen einfach nur abschrecken muss. Zu den exzessiven Gewaltfantasien des Textes gehört auch genderbezogene Gewalt, ja sogar Vergewaltigungsfantasien sind zu finden – ebenso wie ein frauenfeindliches Askese-Ideal des „unbefleckten“ Mannes.
Die erzählte Gewalt
Zunächst ist festzuhalten: Die Johannesoffenbarung ist fiktionale Literatur und erschafft mit überraschender Fantasie eine surreale Welt, die über die Alltagserfahrung weit hinausgeht. In einem solchen Text sind alle Dinge und Personen fiktional. Wenn wir also fragen, wer welche Art von Gewalt von wem erlebt, dann sollte ein moralisches Urteil zurückgestellt werden, egal wie brutal die erzählten Handlungen auch sein mögen.
Christusgläubige erleben individuelle körperliche Gewalt: Gefangenschaft und Tod (Offb 13,10). Das Reich des Bösen hat bereits so viele Menschen getötet, dass die Frau, die die imperiale Göttin Roma verkörpert, vom Blut der Märtyrer betrunken ist (Offb 17,6). Das Blut der Opfer verbindet ihr Schicksal mit dem Schicksal Jesu. Er ist das erste blutende Opfer (Offb 1,5), das „geschlachtete Lamm“ (Offb 5,6.12).
Christusgläubige erleben kollektive psychische und ökonomische Gewalt durch wirtschaftliche und gesellschaftliche Marginalisierung. Die Nichtteilnahme an den öffentlichen Zeremonien, die mit dem Kaiserkult – der römischen Religion der loyalen Unterordnung – verbunden sind, schließt die Christen vom Wirtschaftsleben aus und marginalisiert sie, da sie keine produktive Rolle in der Gesellschaft spielen können. Alle müssen das „Zeichen des Tieres“ auf ihrem Körper tragen (Offb 13,16-17). Verweigerung bedeutet, ein Feind des Imperiums zu sein, was Verletzlichkeit und Risiko bedeutet.
Feinde Gottes und der Gläubigen werden kollektive und individuelle körperliche Gewalt erfahren – auch sexuelle. Die Vollstrecker dieser Gewalt sind Gott und seine Vertreter (Engel, Christus). Dabei werden die Bösen nicht einfach getötet: Ihr Fleisch wird den Vögeln als »das große Abendmahl Gottes« (Offb 19,17) gegeben; Und alle Bösen sterben qualvoll in einem brennenden Schwefelsee: das Tier und sein Prophet (Offb 19,20), der Teufel (Offb 20,10), Tod und die Totenwelt (Offb 20,14), alle Untreuen und Bösen (Offb 20,15; 21,8). Im Text sind diese Akte äußerster Grausamkeit Manifestation der höchsten Gerechtigkeit Gottes und deshalb der Grund himmlischer Freude (Offb 19,1-7).
Die beiden bösen Frauen
Unter den Feinden Gottes werden zwei böse Frauen besonders hervorgehoben. Die erste ist Isebel (Offb 2,20-21) die den Symbolnamen einer verworfenen Königin Israels trägt, die in den beiden Königsbüchern entschieden verurteilt wird. Der Prophet kritisiert sie neue Isebel als falsche Prophetin, die durch ihre Lehre die Mitglieder der Gemeinde in Thyatira dazu verführt, „Unzucht“ zu begehen und Nahrung von den Tempelmärkten zu essen. „Unzucht“ bedeutet wohl viel mehr als nur verbotenes sexuelles Verhalten. Es steht für die Nachfolge der falschen Götter, was nur zu einem falschen und unreinen Leben führen kann – religiös und sexuell. Die alttestamentliche Königin Isebel brachte dieses Übel nach Israel, indem sie König Ahab heiratete. Daher dürfte auch die Isebel der Johannesoffenbarung durch ihre Heirat das Übel gebracht haben. Eventuell war sie eine Christin, die mit einem Nichtchristen verheiratet war. Zudem lehrte und praktizierte sie offensichtlich ein konfliktfreies Zusammenleben mit der römischen Umwelt. Dann bezieht sich „Unzucht treiben“ speziell auf die eheliche Sexualität mit einem nichtchristlichen Partner und verbindet diese eng mit dem Verzehr heidnischer Speisen und der Religionskultur (Tempelschlachtung, Mahlgebete und Begleitriten), die sie umgab. Ein wenn auch nur oberflächlicher Kontakt mit paganer Religion war etwa bei den gemeinsamen Mahlzeiten innerhalb einer „gemischten“ Familie fast unvermeidlich.
Die böse Frau von Babylon
Darüber hinaus verbindet das Thema „Unzucht“ Isebel mit der bösen Frau von Babylon. Sie wird in Offenbarung 17 dargestellt und in Kapitel 18 bestraft (mit dem himmlischen Beifall in Offb 19,1-3). Schon die Textmenge, die dieser Personifikation des bösen Imperiums gewidmet ist, deutet darauf hin, dass sie für den Text viel wichtiger ist als Isebel. Die Frau in Offb 17-18 steht für das Zentrum des Reiches des Bösen. Obwohl ihr Name als „Babylon, die Große, die Mutter der Huren und der Gräuel der Erde“ (Offb 17,5) wiedergegeben wird, bezieht sich die Figur sicher auf Rom, die Hauptstadt des Reiches. Ihr Name – eine satirische Perversion von Ehrentiteln – ist „auf ihre Stirn geschrieben“ (17,5), was an die Tätowierungen erinnert, die Sklaven markierten.
Das Geschlecht der bösen Frau als Personifikation Roms und seines Reiches entspricht der Tradition, Städte als Frauen zu symbolisieren (z.B. Jerusalem in 2. Könige 19,21; Zef 3:14; Babylon in Jes 47; Ps 137,8). Darüber hinaus spielt auch römische Kultur eine wichtige Rolle. Die Göttin Roma war nicht nur eine symbolische Personifikation der Stadt, sie war eine Göttin, die auch kultisch verehrt wurde, oft zusammen mit dem göttlichen Herrscher.
So zeigt die berühmte Wiener Gemma Augustea die Göttin Roma (in Gestalt einer Jungfrau-Kriegerin wie Athene) Seite an Seite mit Augustus (als Jupiter), so wie sie in vielen Kaiser-Roma-Tempel thronten. Vergleicht man die Schönheit der Roma in der kaiserlichen Kunst mit der Beschreibung der bösen Frau in der Offenbarung, so wird klar, dass Offb 17 antirömische Propaganda ist, eine Parodie auf die Verehrung der Roma.
In Offb 18 wird die Frau, die das teuflische Römische Reich verkörpert, mit der Vernichtung bestraft. Der antikoloniale Text schwelgt in Bildern der Gewalt, ist aber im Vergleich zu biblischen Propheten fast gemäßigt. Während Jerusalem (Jer 13,20-27; Ez 16,35-39; 23,22-29) und andere Städte in Prophetenbüchern mit Vergewaltigung und sonstiger Gewalt bestraft werden, droht die Apokalypse der bösen Frau Babylon/Rom „nur“ mit Kannibalismus (Offb 17,16), Tod, Trauer, Hunger, Feuer (Offb 18,8) und Ertrinken (Offb 18,21). Sexuelle Gewalt kommt als erzwungene Nacktheit (17,16) vor, aber Vergewaltigung wird nicht explizit erwähnt.
Isebel und ihr Bett – der strafende Gottessohn als Vergewaltiger?
Bei der Bestrafung Isebels ist dagegen die sexuelle Dimension recht deutlich. In scharfem Gegensatz zum Konzept der männlichen Reinheit, das darauf beruht, Frauen nicht zu berühren (Offb 14,4), droht der Gottessohn damit, Isebel „aufs Bett zu werfen“ (Offb 2,22), womit – kaum verklausuliert – eine Vergewaltigungsstrafe angedeutet wird. Während Übersetzungen versuchen, die Anspielung auf sexuelle Gewalt zu vertuschen (z.B. „ich werfe sie auf das Krankenbett „, EÜ 2016), ist die Botschaft im griechischen Text recht klar. Auch wenn Bett (klinē) nicht nur mit Sexualität, sondern auch mit Essen, Schlafen, Krankheit und Sterben in Verbindung steht, hätten damalige Lesende nicht mit Abendessen, Schlafen oder Krankheit gerechnet, wenn ein Mann eine Frau auf das Bett wirft, um sie zu bestrafen. Die implizite Vergewaltigungsbotschaft wird durch mehrere Elemente des Kontexts verdeutlicht, die dem Muster der (kriegerischen) Vergewaltigung entsprechen: Komplizen als Ehebrecher; Tötung von Kindern; die Strafe spiegelt das Vergehen wider (2,22-23). Das heißt, die Bestrafung Isebels wird entlang biblisch-prophetischer Strafmuster als sexualisierte Gottesgewalt erzählt.
Gewalt durch den Text – ein biblischer Text und seine möglichen Opfer
Auch wenn die ungeheuerliche Vorstellung eines vergewaltigenden Christus uns aufschrecken und verstören muss, scheint mir das gravierendste Problem nicht die erzählte Gewalt, sondern die Wirkung der implizierten Misogynie auf religiös-affirmativ Lesende. Werden in der global am meisten verbreiteten, fromm-direkten Rezeption dann auch die frauenfeindlichen Muster der Offenbarung als direktes Gotteswort übernommen? Und wenn ja, was bedeutet es dann für die christliche Wahrnehmung von Frauen heute? Die möglichen Folgen solcher Lektüre können nur angedeutet werden, aber sie bedürfen der kritischen Diskussion. Fördert eine naive Rezeption der Apokalypse die Verhinderung von Gewalt gegen Frauen oder nicht? Und wenn das absolut Böse in Gestalt einer „Unzucht treibenden“ Frau erscheint, was bedeutet das für die christliche Wahrnehmung von promisken oder polyamorösen Frauen? Und am heikelsten: Wie passt das männliche Keuschheitsideal der Offenbarung (und der Kirche) mit einem vergewaltigenden Gottessohn (und missbrauchenden Gottesmännern) zusammen? Bilden Sexualität, Frauen und Sünde eine so abgrundböse Gegentrinität, dass sie jede Strafe verdienen?
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Joachim Kügler ist Inhaber des Lehrstuhls für Neutestamentliche Wissenschaften an der Universität Bamberg. Eine ausführliche Analyse zum Gewaltproblem in der Johannesoffenbarung erscheint im Herbst in: THE BIBLE AND VIOLENCE (Edited by Johanna Stiebert, Christopher Greenough, Mmapula Diana Kebaneilwe, Johnathan Jodamus), London: T&T Clark/ BLOOMSBURY