Am Beitrag der christlichen Kirchen zur Zukunft unserer globalisierten Zivilisation wird sich entscheiden, ob die Kirchenspaltung heute Segen oder Fluch ist. Von Hans-Joachim Sander und Rainer Bucher.
1517
Die protestantischen Kirchen feiern 500 Jahre Reformation und Luthers epochale theologische Leistung. Die katholische Kirche ist sich unsicher, ob sie mitfeiern oder doch nur gedenken soll, die heutige Menschheit aber fragt, was die 500 Jahre seit der Reformation für ihre Zukunft bedeuten.
Wollen die beiden Konfessionen darauf antworten können, müssen sie das Beste einsetzen, was ihnen ihre Konfessionalität zur Verfügung stellt: die Bibel als Menschheitserbe und das Papsttum als globaler spiritueller Referenzpunkt. Dazu müssen sie dieses Beste freilich jenseits ihrer Konfessionalität wahrnehmen: die Bibel mit dem vor-polemischen, noch katholischen Luther, das Papsttum im Horizont des nach-apologetischen II. Vatikanums.
Spätestens Luthers Verhör in Augsburg zeigte: Religion, Glauben und Spiritualität sind grundsätzlich entkoppelbar. Luther positionierte gegen die Macht der römischen Religion erfolgreich die spirituelle Autorität des Glaubens.
Hinter der Trias Religion, Glauben und Spiritualität stecken aber noch andere Größen: Macht-Wahrheit-Freiheit etwa oder Gesellschaft-Gemeinschaft-Individuum. Mit Luther wurde deutlich: Auf keiner Ebene ist mehr eine umfassende Harmonie zwischen den drei Größen herzustellen; zu jeder möglichen positiven Wechselwirkung von zweien stellt sich die jeweils dritte quer. Das markiert 1517.
1965
Die katholische Tradition hat Luthers Entkopplung von Spiritualität, Glauben und Religion im II. Vatikanum vollzogen, wenn auch auf einer anderen Basis, jener einer „pastoralen“ oder „pragmatischen Wende“, zentral repräsentiert in der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ und prominent markiert im Zeichen der Zeit-Begriff (GS 4).
„Pastoral“ bedeutet im II. Vatikanum: Das Heil ist zuerst das Heil der anderen, denn es kommt von Gottes universalem Heilswillen. Darum sind Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders jener, die Heilserfahrung besonders benötigen, die Armen und Bedrängten aller Art, Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger(innen) Christi (GS 1).
An den säkularen Zeichen der Zeit entscheidet sich die Gegenwärtigkeit des Christentums, an ihnen muss sich der christliche Glaube praktisch bewähren, will er zu sich selbst kommen.
Dann aber sind die dramatischen säkularen Spaltungen der Gegenwart, etwa jene in Reiche und Habenichtse, der Ort, an dem die Kirchenspaltung bewältigt werden muss und kann. An ihm scheitern die geteilten spirituellen Traditionen des Christentums, es sei denn, sie entdecken in der Auseinandersetzung mit ihnen die religiöse Bedeutung ihrer Differenz.
2017
Weder die protestantische Utopie, auf der Basis des Bündnisses von Spiritualität (als Freiheitsanspruch des Individuums) und Glauben (als Wahrheitsanspruch einer Gemeinschaft) den religiösen Machtanspruch konzipieren zu können, noch die katholische Utopie auf der Basis des Bündnisses von Wahrheitsanspruch der Gemeinschaft und religiösem Machtanspruch den Freiheitsanspruch des Individuums steuern zu können, funktioniert mehr. Das ist auch nicht weiter schlimm: Gott und sein Evangelium übersteigen jede Kirche, allen Glaubensstreit und jeden und jede einzelne sowieso.
Die Konstellation von Religion-Glauben-Spiritualität wird in der aktuellen Dynamik des globalisierten Kapitalismus freilich noch einmal grundlegend neu kontextualisiert und dekonstruiert. Der Dynamisierungsprozess globaler gesellschaftlicher Entwicklung provoziert zum Beispiel „die Wahrnehmung einer richtungslosen Bewegung und damit eines ‘rasenden Stillstandes‘, der sich sowohl in seiner Erstarrungs- als auch in seiner Veränderungsdimension der intentionalen Gestaltung entzieht und damit dem Autonomieversprechen der Moderne widersetzt“. [1] Und dies ist nur eines von vielen verstörenden „Zeichen der Zeit“.
Wenn tatsächlich der Beitrag der christlichen Kirchen zur Zukunft unserer globalisierten Zivilisation das Feld ist, auf dem sich entscheidet, ob die Kirchenspaltung heute Segen oder Fluch ist, ob man sie feiern darf oder ihrer nur mit Schrecken gedenken muss, dann stellt sich die Frage: Wie steht es damit?
Hans-Joachim Sander ist Professor für Dogmatik an der Universität Salzburg, Rainer Bucher Professor für Pastoraltheologie an der Universität Graz und Mitglied der feinschwarz-Redaktion.
[1] Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt/M. 2005, 479.
Photo: Rainer Bucher