Eine Geburt ist zumeist ein freudiges Ereignis. Umso grösser ist die Trauer, wenn der Tod dem Leben des erwarteten Kindes zuvorkommt. Seelsorgliche Begleitung in dieser Situation ist anspruchsvoll. Die Krankenhausseelsorgerin Kerstin Rödiger schildert ihre persönlichen Erfahrungen.
Himmelszeichen
Sie sitzen am Zimmerfenster, rechts und links vom Tisch. Beide schauen hinaus über den Spitalgarten in den Himmel. Es ist still im Raum. Eine Stille, die aufgeladen ist mit Ausrufezeichen, Fragezeichen und einer Tiefe, die sich nur in solchen Momenten erhebt. Sie wächst aus einer umwälzenden Erfahrung, die vieles bisherige in den Schatten stellt. Es ist eine tiefe Trauer spürbar, Fassungslosigkeit. Aber da ist noch etwas anderes, ganz fein und zart: Eine kleine Knospe ist am Wachsen, etwas ganz Wertvolles und Zerbrechliches, das kaum in Worte zu fassen ist: Ich umschreibe es als «Trauer, die dabei ist, einen Platz zu finden».
Sie waren offen für ein Gespräch.
Ich betrete dieses Zimmer im Spital vorsichtig und aufmerksam. Die Eltern, die um ihr Kind trauern, sehen mich an. Dieses Paar hatte nach der Diagnose, dass ihr Kind nicht lebensfähig ist, in wenigen Tagen einen weiten Weg zurückgelegt… Ich kam dazu, als der ärztlich indizierte Abbruch der Schwangerschaft bereits umgesetzt war. Sie waren offen für ein Gespräch.
Ich fragte die Eltern nach ihren Erfahrungen mit dem Kind am Anfang und im Verlauf der Schwangerschaft. Sie erzählten von dem einen Mal, als sie Bewegungen gespürt hatten. Sie hatten ihm Musik vorgespielt und da war dieses Treten im Bauch. Sie versuchten in Worte zu fassen, wie schwer die Ohnmacht und Hilflosigkeit wiegen. Sie hatten nach Zeichen gesucht. Und nach einem Moment des Schweigens erzählten sie: Vor einigen Tagen waren sie eben an diesem Fenster gesessen und hatten in den Himmel geschaut. Plötzlich sahen sie einen Kinderwagen in den Wolken, dieser wurde zu einem Herzen – und neben dem Wolkenherz erschien eine Formation, die wie ein Engel aussah. Das hörte sich selbst für mich fast unglaublich an, aber sie zeigten mir die Handybilder. Und ich staunte.
Fragen und Antworten
Ich staune immer wieder über diese unglaubliche Schwerstarbeit, die Eltern, Paare, Mütter und Väter und deren Familien leisten, um mit dem frühen Verlust eines Kindes umgehen zu lernen. Sie haben keine Wahl, dieses umwälzende Ereignis fordert in ihrem Leben Platz und Raum. Dieses Paar hatte es geschafft, der Erfahrung Form zu geben. Der Verlust, die Trauer, die Fragen und Zweifel wurden von ihnen in einer innerlichen Arbeit wiedergekäut, formuliert, geformt und in den Himmelszeichen nicht erklärt, aber «aufgehoben».
Antworten auf die Frage «Wie weiter?»
Auch wenn es keine Antwort auf das «Warum» geben mag, so braucht es Antworten auf die Frage «Wie weiter?». Dabei ist jede Geschichte anders und einmalig. Aber immer braucht es diese innere Arbeit, damit die Erfahrung ihren Platz im Leben der Betroffenen finden kann. Auch das ist schwer in Worte zu fassen. Ich benutze dafür das Bild der «Perle» und des «Bodens»: Wenn die Erfahrung zu einer Perle geformt wird, auch wenn es eine dunkle sein mag, so findet sie ihren Platz auf der Lebenskette und lässt auch wieder Platz für andere Perlen daneben. Oder im Bild vom Boden: Die «Trauer findet einen Boden» meint in diesem Fall also, sie findet eine Form, einen Platz und damit Begrenzung. Die umwälzende Erfahrung verliert ihre Bodenlosigkeit. Diese Bilder helfen mir, die Wege der Eltern zu begleiten und meine Arbeit situativ anzupassen, das Suchen nach Formen und Bildern etwa.
Die Trauer findet einen Boden.
Doch es sind die Paare, die diese Trauerarbeit leisten und ihren ganz eigenen Weg finden müssen. Sie sind dabei begleitet und getragen von den Familien, von Freunden, Bekannten. Ich staune über diese intensiven inneren Auseinandersetzungen und diese unglaubliche Kraft in den Menschen, die diese zarte Knospe um die Trauer herum wieder wachsen lässt. Jede Geschichte, die davon erzählt, dass Geburt und Tod zusammenfallen können, verlangt diese persönliche, einmalige Deutungsarbeit.
Staunen auf vielen Ebenen
Mein Staunen hat noch mehr Ebenen. Ich bewundere die Hebammen, ÄrztInnen und PflegerInnen, die in diesen ersten Momenten dem Unglück so nahe sind und es aushalten, sorgfältig begleiten wollen und dabei selbst vor vielen grundlegenden Fragen stehen: Warum darf dieses Kind nicht leben? Wer entscheidet das? Was kann und darf ich tun?
immer und immer wieder
Das Unglaubliche ist, dass sie dies immer und immer wieder meistern müssen! In unserem Krankenhaus sind diese Erfahrungen eben keine Ausnahme. Es gibt Zahlen, dass etwa jede 5. Schwangerschaft mit dem Tod des Kindes endet. Für die Eltern ist es ein Schicksalsschlag, für die professionell Begleitenden ist es auch eingebettet in die alltägliche Routine eines Spitals mit Formularen, Abläufen, Regeln. Diese Erfahrungen fordern jedoch persönlich heraus.
Theologische Abgründe und Brücken
Ich gehöre in diesem Sinne auch zur professionelle Begleitung. Ich staune und natürlich stolpere ich dabei über den theologischen Abgrund der Theodizee. Wie kann ein guter Gott Leid und Tod zulassen? Mein Anfang im Spital war geprägt von meiner inneren Arbeit, um darauf für mich Antworten zu finden. Nun, ich habe auf die Frage nach dem «Warum Kinder nicht leben dürfen» auch keine gute Antwort, so wenig wie darauf, warum eine junge Mutter an Krebs oder eine geliebte Oma bei einem Fahrradunfall sterben muss. Schon seit Menschengedenken stellen wir uns diese Frage, warum Leid auf der Welt existiert. Auch ich suchte Formen, Bilder, Geschichten, die mir helfen die Tatsache von Leid und Tod in mein Leben zu integrieren. Manchmal fragen mich auch die PatientInnen: «Wie halten sie das aus?»
Seit Menschengedenken stellen wir uns diese Frage, warum Leid auf der Welt existiert.
Ich suchte nach Brücken über den Abgrund, Raum, in dem dies alles nicht beantwortet, aber irgendwie aufgehoben ist. So ist mir der erste Name Gottes, den Mose mühsam erfragt, sehr wichtig geworden: «Ich bin da.» Das ist ja schon viel. Aushalten, ohne das Leid zu überspielen, es gut reden oder weg reden zu wollen. Da sein heisst manchmal auch, die Trauer aus dem Innersten hervorholen, damit sie überhaupt Raum bekommt, damit Tränen fliessen können und die Trauerstarre überwunden werden kann.
Und ich staune immer wieder, wie in diesen Momenten die göttliche Kraft da ist, in der Schwäche, in den Tränen, in dem Raum der sich zwischen diesen so wahrhaftig fühlenden Menschen eröffnet. Da breitet sich das aus, was ich Ruach nenne. Gott dazwischen. Gott ist da, nicht als mächtiger Donnerschlag, sondern im sanften Wehen.
Da breitet sich das aus, was ich Ruach nenne.
Ich muss es aushalten, dass ich keinen Zauberstab habe, mit dem ich alles gut zaubern kann. Wir leben nicht im Paradies. Ich trage einen kleinen Beitrag dazu bei, wenn ich meinen Boden im «Ich bin da» spüren kann, wenn ich ohne Zauberstab die Wahrheit und Unsicherheit aushalte und damit Räume eröffne, in denen sich das Ausbreiten kann, was ist: Trauer, Schmerz, Glück, Wut, Getragen sein, Hilfe erfahren, Hilflosigkeit.
Auf die Probe gestellt
Wenn Geburt und Tod zusammenfallen sind dies sehr persönliche Lebensgeschichten, die kein Rampenlicht brauchen. Aber ich vermute, dass diese intensivsten Erfahrungen einige Bereiche auf die Probe stellen und damit eine gewisse öffentliche Aufmerksamkeit verdienen.
Ich meine, dass diese Erfahrungen das Gesundheitssystem sehr kritisch auf Menschlichkeit hin durchleuchten. Die Eltern durchlaufen viele Stationen und Hände, wissenschaftliches Know-how und Spitalroutine werden von der Intensität dieser Erfahrungen auf die Probe gestellt. Was dient dabei den betroffenen Eltern, was den professionellen BegleiterInnen und wie ist das in diesem Gesundheitssystem möglich?
Die spirituelle Sprachfähigkeit einer Gesellschaft gerät in den Blick.
Aber auch – nennen wir es mal – die spirituelle Sprachfähigkeit einer Gesellschaft gerät durch diese Fragen in den Blick. Was trägt Menschen im Leid? Welche Räume, Formen, Rituale, Worte braucht es für diesen Moment? Jede Geschichte ist individuell, aber wenn eigene Worte noch fehlen, helfen «alte» Worte, die in sich die Offenheit tragen, neu angepasst zu werden. Angesichts der sich leerenden Kirchen frage ich mich einerseits, inwiefern unsere individualisierte Gesellschaft diese Räume weniger braucht und andererseits, welche neuen Räume die Institutionen anzubieten hätten, die alte Worte und Zeichen bisher gehütet und weitergegeben haben.
Ich erlebe im Spital auf jeden Fall immer noch die Suche nach solchen Räumen, in denen sich wahrhaftige Gefühle ausbreiten können und eine Gemeinschaft entstehen kann, die gegenseitig trägt.
Nicht zuletzt fordern diese Erfahrungen mich selbst und meine Theologie heraus. Schlaue Erklärungen habe ich nicht. Das Paradies liegt nicht in meiner Macht. Ich bin aber gefordert, das Reich Gottes immer wieder im kleinen Senfkorn hier und jetzt zu sehen. Ein Bild das mir dieses Jahr dafür neu geschenkt wurde: Ich schneide in unsrem Garten einen Rosenstock radikal zurück, weil er mit seinen Dornen die Fahrradreifen verletzen würde. Doch um den abgeschnittenen Zweig herum brechen gleich drei neue Knospen auf. Und ich staune über die Kraft des Lebens. Ich bin nur ein Teil davon.
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Text und Bild: Dr. Kerstin Rödiger, Seelsorgerin am Universitätsspital Basel.
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