Für die evangelische Theologie ist die moderne Mystikerin Madeleine Delbrêl eine Entdeckung. Friedemann Magaard findet in der unbequemen Katholikin eine heilsame Inspiration.
Madeleine Delbrêl kannte sich mit gesellschaftlichen Abbrüchen wirklich aus. Sie lebte von 1904 bis 1964, wirkte im Umfeld der Bewegung französischer Arbeiterpriester. Eine spannende Zeit. Sie war Sozialarbeiterin, Poetin, Mystikerin. Erst spät fand sie zu ihrem christlichen Glauben. Zunächst studierte sie Kunst und Philosophie, war erklärte Atheistin. Später suchte sie das Reizklima einer zutiefst säkularen und mitunter feindseligen Umgebung. Als Christin wählte sie bewusst das Leben in einer Pariser Vorstadt. Die Bevölkerung bestand fast ausschließlich aus Arbeiterschaft, die örtlichen Institutionen waren kommunistisch geprägt. Delbrêl beschrieb es selbst so: Eine Welt ohne Gott. Genau dort ergriff sie beherzt Partei für die Armen und stellte sich dem Diskurs mit einer materialistischen Weltanschauung. Persönliche Freundschaften und politische Bündnisse eingeschlossen. Sie hat viel bewegt und hat viele bewegt, mit weitem Herzen und großer Klarheit. Und mit Mut.
Zellen der Liebe
„Je kirchenloser die Welt ist, in die man hineingeht, umso mehr muss man Kirche sein“[1]. Der sozialen Not und der Hoffnungslosigkeit begegnen und als Christin erkennbar sein, das war ihre Mission. Dafür brannte sie. In einer kirchlichen Sozialstation. In der Zuwendung zu alleinerziehenden Müttern, in der Schularbeitenhilfe, in der Suppenküche. Eine Mystikerin der Straße.
„Die Welt braucht nichts anderes als (…) winzige Zellen der Liebe, von ausschließlicher Liebe. Denken Sie nicht, dass Sie in den Phasen, wo alles noch so unsicher ist, Ihre Zeit vertun. Seien Sie eine kleine Zelle der Liebe da, wo Sie sind, und Sie werden für die Sache Gottes mehr bewirken als eine ganze Armee.“[2]
Zellen der Liebe. Wenn sie sichtbar werden, können sie Antwort geben auf die großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Einer Zeit, in der die Individualisierung dramatisch zunimmt. Mehr „ich“, weniger „wir“. Schwer ist das für alle Formen der Verbindlichkeit, für Großorganisationen wie die Kirche allemal. Es steht ein notwendiger Umbau der Kirche an, wobei aktuell weniger die Bauabteilungen gefragt sind. Es geht um Kirche aus lebendigen Steinen. Es geht um die Menschen, die brennen, wie Madeleine Delbrêl. Es geht um Haltung. Darum, praktisches Tun zu verweben mit tiefer Spiritualität. Die Zellen der Liebe werden einiges aushalten müssen.
Ekklesiologie der Straße
Delbrêl erkannte, dass sich kirchliches Leben gravierend verändern müsste, um in der Zeit zu bestehen. Sie schrieb vor zwei Generationen:
„Wir sind nicht die Ersten, die als Christen eine ‚neue Zeit‘ zu bestehen haben. Andere mussten vor uns auf unbekanntem Boden wandern, ohne einen Vorläufer, einen Weggefährten nachahmen zu können.“[3]
Nachfolgende Generationen werden nicht die letzten sein, die der Aufbruch ins Unbekannte herausfordert. Bezieht sich Delbrêl auf das wandernde Gottesvolk, spricht sie von „Landstreichern“,
„Leute, die die Straße als ihr Zuhause gewählt haben, den Weg Christi eingeschlagen haben, nicht um darauf irgendeinem bestimmten Ziel zuzustreben, etwas von A bis Z zu erledigen, sondern um den ganzen Weg entlang die Gebärden Christi zu wiederholen“[4].
Leute, die in den großen Unsicherheiten ihren Halt in der Imitatio Christi finden. Eine attraktive geistliche Variante zum üblichen Prozessdesign im Changemanagement. Erstaunlich: Während selbst viele Insider im Jahr 2023 an der Kirche zweifeln und an ihrer Fähigkeit zur Wandlung, wird die Stimme des Glaubens mehr gebraucht denn je. Menschen sehnen sich nach Halt. Und nach Segen.
In jedem Gesicht etwas Heiliges.
Die Herausforderung heißt: sich heraus-locken lassen, hinein in das Alltägliche. Gott begegnet im Busbahnhof, das lehrt Madeleine Delbrêl, in der Suppenküche. In jedem Gesicht sah sie etwas Heiliges. Die Straße als Zuhause der Kirche.
Kirchengemeinden und diakonische Projekte sind über sich hinausgewachsen in der Arbeit mit Geflüchteten ab 2015. Da waren Christenmenschen kreativ und schnell. Und etliche machten mit, die zuvor nichts oder wenig mit ihrer Gemeinde zu tun hatten. Ein Glücksfall für die, die Aufnahme suchten und empathische Unterstützung. Für die, die angepackt haben. Ein Glücksfall für das Gemeinwesen, anerkannt von den Kommunen, die Kirche und Diakonie als verlässliche Partnerinnen erlebten. Und ein Segen für die Kirchen und christlichen Gemeinden selbst.
Die Krise forderte neue Konstellationen. So entstanden Kraftorte. Relevanz erweist sich nicht aus Masse und Größe, sondern an der Intensität, die Menschen erfahren. Aus der Tiefe, die sich ereignet. Relevant ist die Kirche doch nicht, wenn sie groß ist, sondern wenn sie an einem großen Werk mittut. Verstrickt in einer der großen Liebesgeschichten Gottes. Umgekehrt: Würde sie das verfehlen, dann könnte eine Kirche noch so groß sein – dann wäre sie irrelevant.
Wer schweigt, bezieht Stellung
Diese Verstrickung ist riskant. Sie fordert Parteinahme. Ungerechtigkeit muss klar benannt werden, denn auch „wer schweigt, bezieht Stellung… Wenn wir nicht sprechen – weder durch Worte noch durch Taten – verweigern wir dem anderen ein wichtiges Gut: Die Aufklärung darüber, was der Glaube von den Gläubigen fordert, um Unrecht zu meiden und für Gerechtigkeit zu kämpfen.“[5]. Im Unterschied zu 2015 hat sich der politische Diskurs in Deutschland nach rechts verschoben. Selbst vermeintlich progressive Politik redet dem Boot, das voll sei, das Wort. Abschottung als politische Raumgestaltung. Wer dazu schweigt, bezieht auch Stellung. Würde Madeleine Debrêl dazu schweigen?
Gott zur Welt bringen
Delbrêls Kraftquelle für diese aufreibende Parteilichkeit ist das Gebet. Die Herzensverbindung mit der Liebe, die alles verwandeln kann und will. Dieser Liebe liefert sie sich aus, mit Haut und Haar. Das meint für sie, Gott zur Welt zu bringen: „…ihn dahin bringen, wo man ist: In seine Gruppe, in seiner Stadt, in sein Land und in die Kirche“[6]. Das tiefe mystische Motiv, mit dem sie sich selbst zum Werkzeug göttlicher Zuwendung machen lässt.
„Meine Augen, meine Hände, mein Mund sind dein.
Diese so traurige Frau mir gegenüber: Hier ist mein Mund, damit du ihr zulächelst.
Dieses Kind, das vor lauter Bleichsein ganz grau ist: Hier sind meine Augen, damit du es anschaust.
Dieser müde, so müde Mann: Hier ist mein Leib, damit du ihm meinen Platz gibst“[7].
Glauben ist wie Fahrradfahren
Die evangelische Rezeption nimmt einen poetischen Vergleich der frommen Dichterin Madeleine Delbrêl wie ein ökumenisches Geschenk an, es ist großartig und von wunderbarer Leichtigkeit: Dass nämlich christliche Existenz wie Fahrradfahren sei.
Glauben hat offenbar etwas mit Übung zu tun, Einübung in Balance und in Bewegung. Etwas, was du erst erlernst, dann aber steht es dir zur Verfügung, kannst du es abrufen, im Vollzug. Vielleicht gar nicht so spektakulär. Aber es „funktioniert“ in der alltäglichen Treue einer liebgewordenen geistlichen Gewohnheit. Vorausgesetzt, der Schwung bleibt erhalten. Heilsames Rezept gegen das Grüblerische, Zögerliche und die in Krisen weit verbreitete toxische Selbstentwertung:
„‘Immer weiter!‘ sagst du zu uns
In allen Kurven des Evangeliums.
Um die Richtung auf dich zu behalten,
müssen wir immer weitergehen,
selbst wenn unsere Trägheit verweilen möchte.
Du hast dir für uns
ein seltsames Gleichgewicht ausgedacht, ein Gleichgewicht,
in das man nicht hineinkommt
und das man nicht halten kann,
es sei denn in der Bewegung.
Im schwungvollen Voran.
Es ist wie mit einem Fahrrad,
das sich nur aufrecht hält, wenn es fährt;
ein Fahrrad, das schief an der Wand lehnt,
bis man sich darauf schwingt
und schnell auf der Straße davonbraust.
…
Wir können uns nur aufrecht halten,
wenn wir weitergehen,
wenn wir uns hineingeben
in den Schwung deiner Liebe.“[8]
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Friedemann Magaard (58) ist Pastor in Husum (Schleswig-Holstein) und Co-host des Lyrik-Podcast Seelenfutter und EKD-Synodaler.
Poträtfoto: Thomas Lorenzen
Titelbild: Pexels / pixabay.de
[i] S. Madeleine Delbrêl: Deine Augen in unseren Augen. Ein Lesebuch. Hg. Von Annette Schleinzer, Verlag Neue Stadt, 2022, S. 214
[ii] S. 189, zitiert aus einem Brief an eine Freundin, datiert 11.10.1939
[iii] S. 244
[iv] S. 85
[v] S. 165
[vi] S. 189
[vii] S. 186f
[viii] S. 246f