Eine große Zahl der evangelischen Kirchen in Deutschland ist in der „Leuenberger Konkordie“ verbunden. Sie sind in der Gemeinschaft evangelischer Kirchen Europas (GEKE) seit 1973 miteinander international organisiert. Im Gespräch stellt Georg Plasger als neu gewähltes Mitglied des Präsidiums grundlegende Herausforderungen unter den evangelischen Kirchen vor.
Die Gemeinschaft der evangelischen Kirchen Europas (GEKE) hat Anfang September 2024 ein neues Präsidium gewählt. Gerade in der Diskussion um die Frauenordination mit der Evangelisch-lutherischen Kirche Lettlands und in unterschiedlichen Positionierungen im Umgang mit queeren Menschen wurden in der jüngeren Vergangenheit Spannungen unter den beteiligten fast 100 Kirchen lutherischen, reformierten, methodistischen und unierten Bekenntnisses sichtbar. Gewählt wurden nun bei der Vollversammlung der GEKE in Sibiu (Hermannstadt) in Rumänien Pfarrerin Rita Famos aus Zürich (Schweiz), Prof. Dr. Georg Plasger aus Gießen (Deutschland) und Bischof Marko Tiitus (Estland) als Leitungsteam und Präsidium. Am Tag nach der Vollversammlung gibt Georg Plasger im Gespräch mit Wolfgang Beck einen ersten Ausblick auf die künftige Arbeit.
Kritische und hilfreiche
Beteiligung der Jüngeren
Feinschwarz: Sie wurden als Team bei der GEKE-Vollversammlung, die bis zum 2. September 2024 in Sibiu in Rumänien getagt hat, als neues Präsidium gewählt. Können sie erste Themen benennen, die aufgrund der jüngeren Entwicklung in der GEKE und ihren Mitgliedskirchen ihre Arbeit bestimmen werden?
Plasger: Der Name unseres europäischen Verbundes evangelischer Kirchen wurde im Englischen vor einiger Zeit von „Community“ zu „Communion“ verändert. Das markiert für uns ein erstes wichtiges Anliegen: Was heißt Gemeinschaft für uns? Dazu gehört auch, was Konfessionalität für diese Gemeinschaft künftig bedeuten kann? Das ist übrigens auch aus röm.-kath. Sicht immer wieder eine Anfrage an uns. Ansonsten hat die Covid-Pandemie seit der letzten Vollversammlung vieles in unserer Kommunikation verändert, so dass unsere Arbeit durch digitale Elemente erleichtert werden kann, ohne dass wir ein rein digitales Netzwerk werden. Immer wichtiger ist für uns auch die Beteiligung jüngerer Christenmenschen. Das wurde zuletzt auch bei einzelnen Prozessen sichtbar. Wir haben gesehen, dass die Jüngeren, die auch einen eigenen Kreis in der GEKE bilden, wichtige Anliegen einbringen, etwa bei dem Dokument „Christliches Reden von Gott“, bei dem ich auch mitgearbeitet habe. Da gab es eine sehr kritische und hilfreiche Beteiligung der Jüngeren, die wichtige Aspekte eingebracht haben. Und dann gibt es ein grundlegendes Element im Blick auf die kirchliche Praxis in den europäischen Kirchen. Für uns werden die Herausforderungen immer deutlicher, die sich mit neu entstehenden Diasporasituationen oder der Verlust der Mehrheitsposition ergeben. Sie werden zu Kirchen, die gesellschaftlich deutlich marginaler sind als bislang. Das verändert auch das Miteinander der unterschiedlichen Kirchen deutlich, bis hin zur Amtsfrage, die etwa in Deutschland und auch in der Schweiz aufgeworfen wird.
Auch die Entwicklung im Baltikum
wird weitergehen
Feinschwarz: In den letzten Jahren hat gerade die Auseinandersetzung mit der ev.-luth. Kirche Lettlands und ihr Austritt für Aufmerksamkeit gesorgt. Da gab es Auseinandersetzungen um die Frage der Frauenordination. Können sie zum Stand der Gespräche etwas sagen?
Plasger: Im Moment ist die Situation durch den Austritt der ev.-luth Kirche Lettlands zwar geklärt, leider. Wir sind aber nach wie vor am Gespräch interessiert und wollen den Dialog nicht von unserer Seite aus beenden. Immerhin: Ein neues Mitglied ist die Deutschen Evangelisch-Lutherische Kirche in Lettland (DELKL) , so dass wir durch diese Kirche ein Gespräch signalisieren können. Ein neues Präsidiumsmitglied ist Bischof Tiitus aus Estland, durch den auch die Themen der Kirchen im Baltikum gut repräsentiert sind. Ich sehe aber keine schnelle Veränderung, auch wenn die Entwicklung im Baltikum auch weitergeht, hoffentlich auch im Blick auf die Frauenordination, die für alle anderen Kirchen in der GEKE nicht zur Diskussion steht und sogar notwendig ist. Die Diskussionen gibt es ja auch in der röm.-kath. Kirche. Im Moment ist es ein Selbstausschluss, aber wir haben auch deutlich gemacht, dass wir ein deutliches Problem darin sehen, wenn sie weiterhin keine Frauen zur Ordination zulassen.
Das Verhältnis von Theologie und Kirche
in gegenseitiger Verantwortung
Feinschwarz: In den letzten Tagen gab es Diskussionen um ein Statement des Geschäftsführers der GEKE, wonach die „Stellung der Theologie“ in vielen Teilkirchen angefragt sei und für die ökumenischen Gespräche eine veränderte Rolle spielen müsse. Können sie erläutern, was das für die Rolle der evangelischen Theologie bedeutet?
Plasger: Das Verhältnis von Theologie und Kirche ist im evangelischen Bereich seit vielen Jahrzehnten von Nähe und Distanz geprägt. Diese Überlegungen sind eigentlich nichts Neues. Deshalb wird es auch in der gegenwärtigen Zeit Weiterentwicklungen brauchen und beide sind immer wieder neu ins Gespräch zu bringen. Die Intensität dieser Gespräche ist in den Teilkirchen und verschiedenen Ländern unterschiedlich ausgeprägt, z.B. bei den Verfahren zur Besetzung von universitären Lehrstühlen. In manchen Ländern ist dieses Verhältnis durchaus enger als wir das in Deutschland kennen. Und die Theologie ist mancherorts auch in rein kirchlichen Kontexten angesiedelt. Wichtig scheint mir bei diesen unterschiedlichen Konzepten: Es gibt eine wichtige gegenseitige Verantwortung sowohl der Kirche für die Theologie und ihre Freiheit, wie auch der Theologie für die Kirche. Die Theologie ist eben keine Dienstmagd für die Kirche. Aber ich selber bin in vielen kirchlichen Zusammenhängen tätig, worin sich für mich auch diese gegenseitige Verantwortung ausdrückt.
Die wichtige Frage
nach dem Verständnis des Menschen
Feinschwarz: Gibt es theologische Themen, die unter den verschiedenen Kirchen der GEKE derzeit intensiver diskutiert werden? Oder ist auch hier zu konstatieren, dass konfessionelle Spezifika vor allem in westlichen Gesellschaften kaum noch zu plausibilisieren sind und an Bedeutung verlieren?
Plasger: Wir haben bei der Vollversammlung ein gemeinsames „Lehrgespräch“ mit dem Thema Konfessionalität angestoßen. Aber dabei soll es nicht einfach darum gehen, die Bekenntnisse der Reformationen neu zu beleben. Es ist eher ein Versuch, Vielfalt und Verschiedenheit zu bestimmen. Sie liegen nicht nur in der Geschichte seit der Reformation oder in der Mentalität der Länder, sondern betreffen auch den eigenen Glauben und dessen Artikulation. Wir wollen die Frage intensiv bedenken, wie wir gerade theologisch mit der Multikonfessionalität umgehen. Die „Leuenberger Konkordie“ ist kein Bekenntnis. Gleichzeitig ist zu überlegen, wie wir mit Wahrheitsansprüchen umgehen und die „Leuenberger Konkordie“ weiterentwickeln. Wir haben immer die Einheit zu stärken versucht – nicht die Einheitlichkeit – und die Verschiedenheit zu würdigen. In zwei Themenbereichen geht deshalb zunächst um die dogmatischen Fragenstellungen. Zugleich hat uns die Abwesenheit der ungarischen-reformierten Kirche gezeigt, wie wichtig die sozialethischen Fragestellungen sind. Deshalb ist ein zweiter Impuls aus der Vollversammlung die Anthropologie, also die Sicht auf den Menschen. Vor dem Hintergrund der klassischen Rechtfertigungstheologie ist der Mensch zunächst als Sünder zu sehen, wenn dann auch als ein gerechtfertigter. Daneben wird vielleicht seit 200 Jahren betont, dass die Gottebenbildlichkeit des Menschen eng mit der Menschenwürde zu verbinden ist. Wie hängt beides zusammen? Das scheinen abstrakte Fragen zu sein, die aber wichtig sind für das kirchliche Leben.
Das Bemühen,
im Gespräch zu bleiben
Feinschwarz: Können sie noch etwas zu den Differenzen mit der reformierten Kirche von Ungarn sagen, die diesmal keine Delegierten zur GEKE geschickt hat?
Plasger: Wir bedauern, dass die Ungarisch-reformierte Kirche die Teilnahme in diesem Jahr abgesagt hat bzw. keine Delegierten geschickt hat. Wir bemühen uns sehr um die Gemeinschaft. Sie haben jetzt die Entscheidung getroffen, keine Delegierten zu schicken, aber die Gemeinschaft der GEKE nicht zu verlassen. Das erste bedauern wir, das zweite begrüßen wir. Wir haben hier in Ost- und Westeuropa unterschiedlichen Umgang mit queeren Menschen und Lebensentwürfen. Es gibt Angst, klassische festgefügte Verständnisse der Ehe in Frage zu stellen und etwa im Gespräch mit den Kirchen der orthodoxen Tradition zu erschweren. Es ist eine Mischung aus gesellschaftlichen und theologischen Themen. Da gibt es das Bemühen, im Gespräch zu bleiben. Es gibt gar keinen Versuch einen einheitlichen Kurs der GEKE unter den verschiedenen Kirchen herzustellen. Es bleibt eine große Verschiedenheit in diesen sozialethischen Themen bestehen.
Gefahr, sich
gegenseitig zu verletzen
Feinschwarz: Neben den theologischen Diskussionen unter verschiedenen Kirchen und Konfessionen gibt es meist auch ein Ringen mit unterschiedlichen Mentalitäten. Hier kommen nicht nur bei den evangelischen, sondern analog auch bei den katholischen und orthodoxen Kirchen die Freude am Reichtum von Traditionen und Mentalitäten und das Ringen damit zusammen. Wie erleben Sie das Miteinander der verschiedenen Mentalitäten?
Plasger: Bereichernd finde ich die Vielfalt der Mentalitäten erstmal in allen Fällen. Und es ist ein bisschen wie bei Igeln im Tierreich: Je näher sie sich kommen, desto mehr Vorsicht braucht es. Und umso größer ist die Gefahr, sich gegenseitig zu verletzen. Die Versammlung der GEKE in Sibiu hat diesen Reichtum gezeigt. Viele Sprachen zeigen den Reichtum an, bedeuten manchmal aber auch Schwierigkeiten, einander genau zu verstehen. Auch die vielen unterschiedlichen gottesdienstlichen Traditionen zeigen das an: Sie zeigen eine wunderbare schöne Vielfalt, bleiben uns aber vielleicht doch in manchem auch fremd. Insgesamt gilt aber auch: Die kulturellen, gesellschaftlichen Prägungen sind generell im Wandel und das merken wir an unseren Gliedkirchen natürlich auch. Daraus ergeben sich intensive Selbstreflexionen, und schon die sind sehr wertvoll. Da wir ja keine hierarchische Struktur haben und eine große Vielfalt, sind wir eher national von der Tradition geprägt. Das hat Vorteile, aber nicht nur.
Klare Positionierung
zum Krieg Russlands
Feinschwarz: Gerade die Gesellschaften der östlichen EU-Staaten stehen unter den intensiven Eindrücken des Kriegs in der Ukraine. Daraus ergeben sich nicht nur die Konflikte der unterschiedlichen orthodoxen Kirchen in der Ukraine. Auch die evangelischen Kirchen im Baltikum und in verschiedenen östlichen EU-Ländern positionieren sich hinsichtlich des Konflikts. Wie nehmen Sie den Umgang in den Mitgliedskirchen wahr?
Plasger: An dieser Stelle ist die Gemeinschaft größer als die Unterschiedlichkeit. Es gibt eine gemeinsame Positionierung zum Krieg Russlands. Der Wunsch nach Frieden ist überall klar vorhanden. Unterschiede gibt es in der Einschätzung, ob wir Einsätze von Waffen befürworten, unterstützen oder zumindest verstehen. Die Vollversammlung hat auch noch mal angeregt, über das theologische Verständnis von „war and peace“ nachzudenken, weil die Fragestellung nicht ausgeblendet werden soll. Die Sorge um das Gebet und die Veränderung der Herzen, dass die Gewalt ein Ende finden möge, ist dominant. Das Thema war also sehr stark in der Vollversammlung 2024 präsent. Das ist auch schon ein längerer Prozess seit einigen Jahren.
Gespräche mit anglikanischen
und baptistischen Kirchen
Feinschwarz: Gibt es Dinge, die ihnen zusammen mit dem Team des neuen GEKE-Präsidiums für die nächste Zukunft wichtig erscheinen?
Plasger: Als evangelische Kirchen ist uns wichtig, dass wir nicht nur den Blick nach innen haben und auf die Mitgliedskirchen. Uns liegt gerade an dem Blick nach außen, auch zu anderen Kirchen und kirchlichen Verbünden, um das Miteinander in der einen Kirche Jesu Christi ernst zu nehmen. Die Gespräche mit der anglikanischen Kirche und mit den baptistischen Traditionen rücken dabei ein wenig stärker in den Blick. Es gibt also einen Blick über die konfessionellen Grenzen hinweg. In alledem bin ich aber überzeugt, dass die Kultur des Gesprächs unter den verschiedenen Kirchen durchaus wächst und nicht abnimmt.
Feinschwarz: Vielen Dank für das Gespräch und alles Gute für ihre neuen Aufgaben im Team des Präsidiums und in den skizzierten Schwerpunkten.
Plasger: Sehr gerne.
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Georg Plasger, Prof. Dr. theol., Lehrstuhl für Systematische und Ökumenische Ev. Theologie an der Universität Siegen. Seit 2024 Mitglied im Präsidium der GEKE.
Jüngste Publikation: Georg Plasger/Sándor Fazakas (Hg.), Autorität und autoritäre Strukturen. Reflexionen aus reformiert-theologischer Perspektive, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2024.
Das Gespräch führte Wolfgang Beck als Mitglied der Redaktion von feinschwarz.net am 3. September 2024.
Titelbild: Wolfgang Beck (Ev.-Luth. Stadtpfarrkirche von Sibiu, Ort der GEKE-Vollversammlung 2024)