Dürfen auch christliche Palästinenser:innen die biblischen Klagepsalmen beten? Ottmar Fuchs erinnert an eine alte Auseinandersetzung im Kontext des Weltgebetstags der Frauen 1994.
Biographischer Kontext[1]
Ich denke an meine ersten intensiven Lektüreerfahrrungen hinsichtlich der Shoa, die weit in meine frühe Jugendzeit zurückgehen. In mir rumorte das hilflose Gefühl der Nachfahren der Täter, hilflos, weil man nicht mehr in die Vergangenheit eingreifen und etwas verändern kann. Diese Ohnmacht suchte sich ein besonderes Ventil relativer „Wiedergutmachung“ darin, sich mit dem neuen Staat Israel rückhaltlos zu solidarisieren. 1969 lebte und arbeitete ich im Kibbuz „Mischmar David“, etwa auf halber Strecke zwischen Tel Aviv und Jerusalem.
Die Palästinenser ließen mich kalt
Ich freute mich mit den Israelis über den erfolgreichen Sechs-Tage-Krieg und ließ mir die ausgebrannten jordanischen Panzer zeigen. Die Araber waren für mich als Feinde Israels auch meine Feinde, die, in einer eigenartigen projektiven Übertragung, die Juden genauso vernichten wollten wie die deutschen Nazis es grauenhaft taten. Die Israel habe deshalb ein Recht darauf, das eigene, biblisch verbriefte Land umfassend zu besiedeln und mit Gewalt zu erobern, zu verteidigen und zu vergrößern. Die arabischen Palästinenser, die nichts mit der Shoa zu tun hatten, mussten in meiner Imagination als Sündenböcke dafür herhalten, was Deutsche verbrochen hatten. Dass auch ihnen Gewalt angetan wurde, erreichte mein Wahrnehmungsbewusstsein nicht sonderlich und lies mich relativ kalt.
Doppelte Solidarität
Erst in den achtziger Jahren, bei verschiedenen Aufenthalten in Israel und Palästina, bekam meine bisherige Einstellung erst feine, und dann immer tiefere Risse. Insbesondere in direkten Begegnungen mit palästinensischen Christ:innen erlebte ich die andere Seite, verbunden mit einigen wirklich erschreckenden Einzelerfahrungen in diesem Zusammenhang.[2] Kein noch so berechtigtes Schutzbedürfnis des Staates Israel kann eine solche Besatzungspolitik rechtfertigen. Seitdem hat sich mein Wahrnehmungsradius verändert, mit der Konsequenz, dass ich oft zerrissen bin in dieser „doppelten Solidarität“ für das jüdische Volk wie auch für das palästinensische Volk.[3]
Weltgebetstag 1994
1994 hatte sich der Weltgebetstag der Frauen an den Erfahrungen palästinensischer christlicher Frauen orientiert und deren Gebetsordnung weltweit zur Grundlage für die Gottesdienstfeier am ersten Freitag im März gemacht. Die Frauen des Weltgebetstages hatten sich von den Betroffenen her selbst belehren lassen, einige von ihnen konnten auf verschiedenen Reisen in den besetzten Gebieten intensiv wahrnehmen, wie sehr das palästinensische Volk Unterdrückung, Not und Rechtlosigkeit erfährt.
Erbitterte Diskussion
In der Gottesdienstordnung beteten die Palästinenserinnen Verse aus dem Psalm 142, einem Klagepsalm. Gerade darum gab es hierzulande eine zum Teil erbitterte Diskussion insbesondere in den evangelischen Kirchen,[4] mit dem Vorwurf: Dass die palästinensischen Frauen einen jüdischen Klagepsalm beten, sei eine Enterbung des jüdischen Volkes, weil Gebete, die sich vom Herkunftstext auf das Land des jüdischen Volkes und seine Geschichte bezogen, nun von Nichtjüdinnenen, also Fremden, im eigenen Land gegen die Juden selbst verwendet werden. Aber was heißt hier eigenes Land? Die Westbank gehört völkerrechtlich nicht dazu. Und: Wenn palästinensischen Frauen derart über den Mund gefahren wird, zwingt man sie zu einer Enterbung ihrer palästinensischen christlichen Identität, und zwar gerade in ihrer auf die jüdische Gebetskultur rekurrierenden Spiritualität. Hätte der Weltgebetstag gar keinen Psalm gebetet, hätte man ihm Israelvergessenheit vorgeworfen?
Erschließungskraft des Mitleids
Gnade hat in der Bibel damit zu tun, dass sich Gott der Menschen erbarmt. Dafür gibt es eindrucksvolle Texte (vgl. Hos 11). In den Evangelien begegnet Jesus als ein Mensch, der diese Barmherzigkeit Gottes in seinem eigenen Handeln widerspiegelt. Das griechische Wort, das meist mit „Mitleid haben“ übersetzt wird, meint, dass sich die Gedärme, dass sich alles im Bauch herum dreht, weil man bis in die körperliche Tiefe hinein so erschüttert ist von dem, was andere Menschen an Leid und Schicksal trifft (vgl. Lk 15,2o; Mt 9,36ff.). Mitleid hat Durchbruchcharakter gegen alle Grenzen des Strafenwollens und der Rache, gegen alle Ideologien, Vorurteile und sogenannte Gesetzmäßigkeiten, in Spannungen, Konflikten und Feindschaften. Ein solches Mitleid ist nicht mehr hintergehbar, weil es unmittelbar auf Magen, Herz und Nieren durchschlägt und jeder Verhärtung widersteht, indem man vorübergeht und indem man Begründungen sucht, sich nicht treffen zu lassen. In der unmittelbaren Evidenz des Mitleids spiegelt sich die unmittelbare Evidenz des Leidens.
Verwundbar bleiben
Das Mitleid hat in unserer gegenwärtigen Gesellschaft allerdings keine allzu große Konjunktur. Horst Eberhard Richter formulierte schon 1999: „Das Mitleid ist leider zum Spottbegriff geworden. In Wirklichkeit ist es die lebenserhaltende Anlage überhaupt.“[5] Auf eine neue Kultur des schöpferischen und lebensstützenden Mitleidens zu achten, bedeutet nicht, dass man sich immer und überall mit einer radikalen Gefühlstiefe engagieren könnte. Wichtig ist allerdings, dass man in dieser Tiefe der eigenen Existenz verwundbar bleibt, dass die Weichteile nicht verhärten. Um die Offenheit für diese affektive Tiefe geht es, ohne die alles kalt bliebe, auch der Glaube. Denn Mitleid ist emotionaler Grund der Barmherzigkeit und damit auch des Glaubens an einen barmherzigen Gott.[6]
Sozialkritische Hermeneutik
In der Bibel ist aus der Perspektive armer und leidender Menschen mit privilegierter Evidenz zu erkennen, was es mit der Gerechtigkeit Gottes auf sich hat. Damit wird die Universalität der biblischen Botschaft nicht geschmälert, vielmehr gewinnt sie dadurch erst die Fähigkeit, so mit den unterschiedlichen und widersprüchlichen Situationen der Menschen in Beziehung zu geraten, dass sie darin „greift“ (und diese nicht oberflächlich verkleistert).
Offen für alle Noterfahrungen
Diese Steuerung in der Rezeption biblischer Texte benötigt die komparative Situationsanalyse zwischen den innerbiblisch erzählten Personen und den außerbiblisch damit umgehenden Personen. Wenn sich Jesus Christus in Mt 25,35-40 mit den Fremden und Kranken identifiziert, dann können sich mit diesen angesprochenen Personengruppen nur die identifizieren, die selbst mit entsprechenden Erfahrungen zu tun haben. Und nur diejenigen können sich mit den zum Reich Gottes Zugehörigen identifizieren, die ihrerseits die Kranken, die Fremden und die Armen in die Bestimmung ihres Glaubens und ihres Handelns aufnehmen. Hätte sich Franz von Assisi nicht mit dem reichen Jüngling in Mk 10,17-31 identifiziert, wäre seine Bekehrung ausgeblieben. Der soziale Status hat hermeneutische Qualität, insofern sich Lesen und Sein gegenseitig entsprechend erschließen. Von daher ist es eine ausgrenzende Reduktion der universalen Offenheit biblischer Klagegebete für alle von Noterfahrungen betroffenen Menschen, wenn diese Gebete den Palästinenserinnen abgesprochen werden. Auch der angesprochene und angeklagte Gott ist nicht nur der Gott Israels, sondern der ganzen Menschheitsgeschichte. Die christlichen Palästinenserinnen werden damit auch noch in ihrer eigenen Spiritualität zum Schweigen gebracht.
Bilanz
Über alle Grenzen hinweg braucht es die Ethik einer radikalen Unbestechlichkeit und Unteilbarkeit in der Wahrnehmung von Menschen, die Armut, Ungerechtigkeit und Unterdrückung erleiden. Ihre Stimme ist prinzipiell überall zu hören, wo sie anzutreffen sind bzw. sich zu Wort melden. Diese prinzipielle Einstellung kann nicht durch ein Gefälle an volksbezogener, rationaler oder ethischer Qualität der Betroffenen konterkariert oder eingeschränkt werden.
Keine Opferkonkurrenzen
Menschen werden sich zwar für die Leidenden einsetzen, zu denen sie in irgendeiner Form eine kognitive Beziehung des Kennens bzw. der Kenntnis und eine affektive Beziehung des Mitleidens und des Mitwiderstehens haben. Gegenüber dieser faktisch unausweichlichen Einschränkung braucht es immer die prinzipielle Erweiterung, dass es auch außerhalb des eigenen Radius an Wissen und Emotionalität Opfer gibt, die genauso wert sind, dass ihnen geholfen wird. Dann wird nicht mehr Opfern im Gegensatz („Opferkonkurrenzen“) zu anderen Opfern beigestanden, sondern letztere bleiben im Horizont der eigenen solidarischen Einstellung. Und man wird auch ihr Leid nicht verschweigen und nicht unsichtbar machen wollen. Und man wird auch ihren Protest und den Protest für sie nicht nur nicht verhindern, sondern auch unterstützen wollen. Auch wenn man dabei zwischen die Fronten der cancel culture Strategien und der political correctness Zwänge gerät, mit den Algorithmen des Entweder-oder, gegenüber dem schwierigeren Sowohl-als-auch doppelter und mehrfacher Solidaritäten.[7] Unlädiert, unschuldig und unbeschimpft kommt man/frau da niemals raus.
Ottmar Fuchs ist em.Univ.-Prof. für Praktische Theologie (Bamberg und Tübingen) und wohnt in Lichtenfels.
[1] Dieser Beitrag geht zurück auf: Ottmar Fuchs, Wer darf die jüdischen Klagepsalmen beten?, in: Stephen Chapman, u.a. (Hg.), Biblischer Text und theologische Theoriebildung, Neukirchen-Vluyn 2001, 135-161.
[2] Vgl. dazu Ottmar Fuchs, Ortsbegehung palästinensischer Erfahrungen und Theologie, in: Pastoraltheologische Informationen 17 (1997) 79-98 Analog zu Norbert Blüm in: https://www.youtube.com/watch?v=J8ttmLikxho.
[3] Vgl. Ottmar Fuchs, Wie verändert sich die Pastoraltheologie, wenn sie ihren eigenen inhaltlichen und methodischen Kernbereich im Horizont der Geschichte und Gegenwart „Israel“ begreift?, in: Gerhard Langer, Gregor Maria Hoff (Hg.), Der Ort des Jüdischen in der katholischen Theologie, Göttingen 2009, 157-203.
[4] Die Auseinandersetzung ist dokumentiert in Stephanie Klein, Dokumentation zum Weltgebetstag 1994 aus Palästina, Düsseldorf 1995.
[5] In einem Fernsehgespräch mit Bettina Böttinger im WDR 1999. Vgl. auch: Dorothee Sölle, Sympathie. Stuttgart 1978.
[6] Vgl. Jahrbuch für Biblische Theologie, Bd. 30 (2015) Mitleid und Mitleiden, Neukirchen-Vluyn 2018, 353-377.
[7] Vgl. Ottmar Fuchs, Momente einer Mystik der Schwebe, Ostfildern 2023, 123-134.
Beitragsbild: Evangelisch-Lutherische Weihnachtskirche in Betlehem (Bildrechte privat)