Kollektive sind nicht überall gern gesehen. Was sind die Gründe dafür, und welches wären die Chancen gerade in unserer Zeit? Überlegungen von Anna Maria Riedl.
Das Kollektiv scheint der neue Buhmann zu sein. Alles was gerade so schief läuft – so könnte man die Lage beschreiben – hat ein Kollektiv verursacht. Da wäre in aller erster Linie die massive Kritik, die die kollektiv kuratierte documenta 15 in Kassel erlebt. Der österreichische Standard etwa titelt: „Kollektive in der Kunst: Zeitgeistiges Wohlgefühl ohne Verantwortung?“[1] Die mit dem Kollektiv einhergehende „Ideologie des Kontrollverzichts dürfte in vielen Kulturinstitutionen auf diffuse Sympathie stoßen“ heißt es in der Süddeutschen Zeitung.[2] Und die Welt stellt die documenta 15 unter das Motto „Kollektiv gegen den Westen“[3].
Untergang des Humanismus?
Noch weiter geht der emeritierter Professor für Ästhetik und Kulturvermittlung Bazon Brock, der mit dem kuratierenden indonesischen Kollektiv ruangrupa gleich den Untergang des Humanismus, des Westens und des Abendlandes eingeläutet sieht:
„Auch im Westen“ so sagt er „übernimmt man nun die Führerschaft von Kulturen und ihrer Herren gegenüber der Kunst. Das heißt, es wird auch im Westen nur noch das Kollektiv der Kulturen anerkannt. Es gibt nur noch Entscheidungen aus den Legitimationen des Kulturkontextes, vor allem der politischen Korrektheit innerhalb der Kulturen. Jede individuelle Äußerungsform, jede Autorität durch Autorschaft, die das Prinzip der westlichen Intellektuellen, der Schriftsteller, Philosophen und Künstler gewesen ist, wird ein für allemal liquidiert. Die jetzige documenta ist ja nichts anderes als eine Versammlung solcher kulturalistischer Formen.“[4]
Putin springt den Kritikern des Kollektivs bei.
Das Kollektiv, so legt es Bazon Brock nahe, ist die Organisationsform des Ostens, die absolute Totalität, die sich über die individuelle Freiheit stülpt, um sie zu unterjochen. Sollte das so sein, dann ist es mehr als verwunderlich, dass es gerade Putin ist, der den Kritikern des Kollektivs beispringt. Das aber in genau umgekehrter Wendung, in dem er nun grade dem Westen Kollektivismus vorwirft:
„Heute wirft man uns vor, wir hätten einen Krieg im Donbass, in der Ukraine begonnen. Falsch, es ist der kollektive Westen, der diesen entfesselt hat, indem er im Jahr 2014 einen verfassungswidrigen bewaffneten Umsturz in der Ukraine organisiert und unterstützt hat und anschließend den Genozid an den Menschen im Donbass befeuert und gerechtfertigt hat. Der kollektive Westen ist der unmittelbare Täter, er trägt die Schuld an dem, was heute geschieht.“[5]
Böse Zungen könnten jetzt sagen, dass es verdächtig oft die alten weißen Männer sind, die das Unbehagen mit dem Kollektiv verspüren. Das zu tun greift zwar in der Analyse zu kurz, legt aber doch eine Spur des Verdachts: Denn das Kollektiv ist weniger das Produkt einer bestimmten Region der Erde, also des Westens oder des Ostens, sondern vielleicht einfach ein Kind seiner Zeit. Es ist ein Enkel der Bazon Brocks und Putins dieser Welt. Es ist die Ausdrucksform derer, die anders leben wollen als ihre Väter und Großväter.
Auflösung der Hierarchie
In einem Kollektiv gibt es keinen Chef, kein Alphatier, keinen Einzelnen, der sagt wie es läuft, sondern Entscheidungen müssen gemeinsam und basisdemokratisch getroffen werden. Das Unbehagen am Kollektiv beginnt bei vielen bereits hier. Dabei muss mit der Auflösung von Hierarchie nicht Kontrollverlust und Verantwortungslosigkeit verbunden sein, es sind nur andere und u.U. auch langwierigere (aber damit eventuell auch überlegtere) Prozesse, die diese ermöglichen. Spätestens die Generation Internet weiß um die Vorteile von Schwarmintelligenz. Jener kollektiven Intelligenz die entsteht, wenn sich Einzelne oder Gruppen durch Interaktion und Kommunikation zu einem Superorganismus zusammenschließen. Da stellt sich doch die Frage, welches Potenzial sich bietet, wenn sich Kirche nach diesen Prinzipien des Kollektivs organisieren würde?
gemeinsam mehr Verantwortung
Dass das Unbehagen am Kollektiv schon einsetzt, wo sich Menschen anders organisieren – nicht-hierarchisch, basisdemokratisch, dezentral, solidarisch – zeigt, wie weit der Weg noch ist für diejenigen, die längst von einer ganz anderen Welt und ganz anderen Kollektiven träumen: Von kollektiv verwalteten und genutzten commons, von Menschen, die sich als Halobionten verstehen, weil wir mit all den Mikroorganismen und Bakterien auf und in uns ein komplettes Ökosystem bilden, und von einer vernetzt-kollektiven Partnerschaft mit allem was uns umgibt und mit uns den Lebensraum teilt. Das würde bedeuten, dass wir auch die Erde nicht länger beherrschen müssten, sondern uns als Teil des Systems verstehen, zu einem Symbionten werden. Mit Verantwortungslosigkeit hat das wenig zu tun. Im Gegenteil, es würde – so stellt nicht zuletzt Papst Franziskus in Laudato si´ heraus – mehr Verantwortung bedeuten:
„Diese Verantwortung gegenüber einer Erde, die Gott gehört, beinhaltet, dass der Mensch, der vernunftbegabt ist, die Gesetze der Natur und die empfindlichen Gleichgewichte unter den Geschöpfen auf dieser Welt respektiert, ‚denn er gebot, und sie waren erschaffen. Er stellte sie hin für immer und ewig, er gab ihnen ein Gesetz, das sie nicht übertreten‘ (Ps 148,5b-6). Daher kommt es, dass die biblische Gesetzessammlung sich damit aufhält, dem Menschen verschiedene Vorschriften nicht nur in Beziehung zu den anderen Menschen, sondern auch in Beziehung zu den anderen Lebewesen zu geben: ‚Du sollst nicht untätig zusehen, wie ein Esel oder ein Ochse deines Bruders auf dem Weg zusammenbricht. Du sollst dann nicht so tun, als gingen sie dich nichts an […] Wenn du unterwegs auf einem Baum oder auf der Erde zufällig ein Vogelnest mit Jungen oder mit Eiern darin findest und die Mutter auf den Jungen oder auf den Eiern sitzt, sollst du die Mutter nicht zusammen mit den Jungen herausnehmen‘ (Dtn 22,4.6). […] Auf diese Weise bemerken wir, dass die Bibel keinen Anlass gibt für einen despotischen Anthropozentrismus, der sich nicht um die anderen Geschöpfe kümmert.“ (Laudato si´, Nr. 68)
Warum nicht Unbehagen vor einer Welt, in der nicht kollektiv agiert wird?
So alt die Botschaft dieser guten Schöpfung auch ist, in unseren Tagen ist sie erstaunlich aktuell. Eigentlich sollte es längts klar sein, dass der Klimawandel nicht von Einzelnen verhindert werden kann, dass er kein national zu lösendes Problem ist, nicht durch individuelle Äußerungsformen, die Autorität durch Autorschaft oder einen Geniekult. Warum also das Unbehagen vor dem Kollektiv und nicht das Unbehagen vor einer Welt, in der nicht kollektiv agiert wird? Vielleicht einfach, weil es und fremd ist. Dass es gerade die Naturwissenschaften sind, die hier beispringen und zeigen, dass kollektive Organisation, Symbiose und Superorganismen nicht etwas ganz Neues und Fremdes sind, sondern immer schon vorhanden waren, ja wohlmöglich sogar den größeren Evolutionären Erfolg bringen, macht Mut. Vielleicht ein Anfang für ganz neue Kollektive zwischen den Disziplinen auf dem Weg zu einer vernetzteren, gemeinsameren Welt. Wer noch mehr Inspiration für diese kollektive Welt sucht, dem sei bis zum 25.09.2022 noch ein Besuch auf der documenta 15 in Kassel empfohlen.
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Anna Maria Riedl, Dr. theol., Juniorprof’in für Christliche Sozialethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn
Bild: geralt / pixabay.com
Zur Documenta 15 vgl. auch:
[1] Ruster, Katharina: Der Standard vom 30. Juni 2022. Online unter: https://www.derstandard.de/story/2000137026942/kollektive-in-der-kunst-zeitgeist-mit-fehlender-verantwortung (17.08.2022).
[2] Laudenbach, Peter, Matthiesen, Kai; Muster, Judith: Kollektiv und Desaster. In: Süddeutsche Zeitung 10. Juli 2022. Online unter: https://www.sueddeutsche.de/kultur/documenta-kulturbetrieb-kollektiv-und-desaster-1.5618342?reduced=true (17.08.2022).
[3] https://www.welt.de/kultur/kunst-und-architektur/plus239475541/Die-Documenta-und-der-neokoloniale-Paternalismus-Denn-Ruangrupa-weiss-nicht-was-sie-tun.html.
[4] Brock, Bazon (2022): https://bazonbrock.de/werke/detail/?id=3996.
[5] Rede von Präsident Putin bei einer Zusammenkunft mit der Leitung der Staatsduma und den Fraktionsführern am 7.7.2022, https://zeitschrift-osteuropa.de/blog/vp220707.