So viele Konflikte hierzulande und weltweit wurzeln darin, dass Menschen vor allem die Mitglieder der eigenen ethnischen Gruppe als Menschen – als Mit-Menschen – verstehen, während sie sich gegenüber anderen abgrenzen und sie sogar bekämpfen. Hubertus Lutterbach fragt danach, wie diese Logik durchbrochen werden kann.
Erstaunlicherweise findet sich die Verteidigung der gemeinsamen Herkunft bis hin zum gemeinsamen Blut bisweilen sogar in der aktuellen bundesdeutschen Politik – seit 2010 besonders am politisch rechten Rand. In diesem Kontext hebt der Kulturjournalist Peter von Becker exemplarisch hervor, dass die Rede von „Biodeutschen“ die Idee einer von genetischen Veränderungen unberührten „reinen“ deutschen Abstammung vermittele. Wörtlich: „Die Nazis hätten dazu gesagt – das Ideal vom ‚arischen Blut‘.“[1]
Ethnozentrische Tendenzen finden sich in Europa aktuell in vielen Ländern. Sie bezeichnen die Voreingenommenheit eines Menschen gegenüber Gruppen, denen man keinen Anteil an den (biologischen) Vorzügen der eigenen Ethnie zuschreibt. Beispielsweise behauptete der ehemalige russische Kulturminister Wladimir Medinski jüngst allen Ernstes, die Russen hätten „ein zusätzliches Chromosom“[2] und damit einen legitimen Anspruch auf die Beherrschung von Ukrainern und Nicht-Ukrainern, die sie allenfalls noch als Halb- und Untermenschen geringschätzen[3]. Der russische Kulturhistoriker Michail Schischkin erläutert kritisch: „Die Mehrheit der russischen Bevölkerung lebt mental noch in der Vergangenheit. Man identifiziert sich mit dem Stamm und ist vom Rudelführer, dem Häuptling, Khan oder Zar vollkommen abhängig. (…) Die meisten Russen leben noch in einem Zeitalter, in dem der eigene Stamm immer recht hat. Und die Staatsmacht nagelt ihnen seit Generationen das ‚Russki mir‘-Weltbild in die Gehirne: Das heilige Vaterland ist eine Insel, umgeben von einem feindlichen Ozean, und nur der Zar im Kreml könne dieses Land und sein Volk retten und mit eiserner Hand die Ordnung in Russland bewahren.“[4]
Wie ist die vielfältige Rede von der Abstammungsgemeinschaft und vom implizit oder explizit vorausgesetzten gemeinsamen Blut historisch einzuschätzen? Für die Antwort auf diese Frage lassen sich erstens hilfreiche Anhaltspunkte im Frühmittelalter mit seinen zahlreichen ursprungsmythischen Überzeugungen finden. Zweitens: Welche alternativen – eben universalen – Erklärungsmuster für das menschliche Miteinander gibt es? Drittens ist zu erwägen, was es heißt, wenn sich in unserer Welt immer wieder ethnisch partikular orientierte sowie universal ausgerichtete Weltdeutungen gegenüberstehen.
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Die Abstammungsgemeinschaft als exklusiver Kosmos
Religionsgeschichtlich gilt, dass Ethnien, die mittels Kommunikation und Interaktion ein gentiles, ja sogar ein gentilreligiöses Bewusstsein entwickelt haben und dieses in kollektiven Ritualen und gemeinsamen Überzeugungen auch für Außenstehende fassbar machen, meist die Überzeugung hegen, dass ihr Urahn der erste Mensch auf Erden überhaupt war. Wie immer dieser Urahn ins Dasein gelangt ist – jedes Mitglied dieser Gemeinschaft sieht sich mit ihm in Kontakt: „Auf diese Weise ist eine kontinuierliche Abfolgebeziehung von der Urzeit bis zur Gegenwart konstituiert, stellt das eigene Ethnos das älteste, sozusagen das ‚erstgeborene‘ mit der längsten Geschichte innerhalb der Völkerfamilie der Gesamtmenschheit dar“, wie der Ethnologe Klaus E. Müller grundlegend unterstreicht[5]. Aus der Innenperspektive übertrifft es alle anderen Abstammungsgemeinschaften nicht nur an Alter, sondern auch an Reinheit und Qualität, so die zugrundeliegende Überzeugung.
Natürlich ist die Rede vom gemeinsamen Blut in urtümlichen Kulturen nicht naturwissenschaftlich gemeint; vielmehr steht die Vorstellung von der Blutsverwandtschaft hier für eine soziokulturelle Ausgestaltung von Beziehungen, die man in der Natur verankert sieht.
Heute ist bekannt, dass in unseren Breiten vor allem frühmittelalterliche Menschen zwischen 500 und 1000 n. C. ihre kleinräumig geprägten Vorstellungen für menschliches und gesellschaftliches Zusammenleben meist von der Abstammungsgemeinschaft ableiteten. Für die Beteiligten war damit eine Sicherheit nach innen und eine Abgrenzung nach außen gegeben: Innen ist Leben, außen ist Tod; innen ist Kosmos, außen ist Chaos.
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Die Geistliche Familie als Kosmos
Im Unterschied zu gentilen Abstammungsgemeinschaften setzte das Christentum seinen Akzent von vornherein anti-familiar. So verstand Jesus diejenigen als seine wahren Geschwister, die das Doppelgebot der Liebe befolgen. Gott selber redete er als liebenden Vater an. – Wenn sich schon im 1. Jahrhundert n. C. auch die Christinnen und Christen Gott als ihrem Vater anvertrauten, griffen sie zwar auf die traditionsreiche Grundidee vom Familienoberhaupt und der väterlich-häuslichen Herrschaft zurück, übertrugen die damit verbundenen Befugnisse jedoch – und hier verließen sie die griechisch-römischen Traditionen – vom irdischen auf den göttlichen Vater.
Wer sich also zum Christentum hin bekehrt, geht damit die neutestamentlich übermittelte Verpflichtung ein, seine „blutsfamiliären Bindungen“ zugunsten der größeren Gemeinschaft unter dem Gottvater hintan zu stellen. Ob mit letzterer allein die Glaubensgemeinschaft gemeint ist oder sogar die Menschheitsfamilie, bleibt in der Forschung umstritten. Auf die zweite Möglichkeit deutet hin, dass das Christentum – in Anknüpfung an Dtn 14,1 – den einzigen Ursprung aller Menschen in Adam vertritt: Unter diesem Vorzeichen sind alle Menschen miteinander verwandt, untereinander Geschwister und im Bedarfsfall füreinander zur Unterstützung angehalten.
Keine Frage, dass dieser hohe Anspruch trotz aller Bemühungen (Installation von Inzestvorschriften oder Klöstern, caritativer Einsatz etc.) oft nicht oder nur unzureichend eingelöst wurde. Zudem ist an die zahlreichen christlich initiierten gewaltsamen Konflikte zu erinnern! Nicht zuletzt spricht der Historiker David W. Sabean noch im Blick auf das 19. Jahrhundert für hiesige Breiten mahnend von einer „kinship-hot society“[6].
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Aktuelle Herausforderung: Abbau von (ethnischen) Grenzen
In der Spur ihres jüdischen Lehrers Franz Boas (+ 1942), der die Erforschung des je besonderen Blutes und Wesenscharakters bestimmter Ethnien (bis hin zur Verwendung des Rassebegriffs) als unwissenschaftlich verworfen hatte, optierte seine Schülerin Ruth Benedict (+ 1948) erstens für eine Geschichtsschreibung, die Völker nicht nach ihrem „Blut“ oder ihrem Wesen klassifiziert, sondern nach dem zivilisationsgeschichtlichen Level ihres Soziallebens bewertet: „Man mag verblüffende Errungenschaften oder geistige und gefühlsmäßige Charakteristika zusammentragen, wie man will, nichts von alledem wird durch das ‚Blut‘ eines Volkes über den Lauf der Zeit hinweg verewigt. All das wechselt rasch mit dem sozialen Wechsel von politischer und wirtschaftlicher Sicherheit zu deren Gegenteil.“[7] Zweitens antwortet sie auf die Frage, was eine moderne Zivilisation ausmache, dass die Grenzen des Stammes weiter und weiter ausgedehnt werden: „Der einzige wesentliche Beitrag, den die moderne Zivilisation geleistet hat, war die Erweiterung des Umfangs der geschlossenen Gruppe. Darin sind unvergleichliche Erfolge erzielt worden.“[8]
Tatsächlich markieren die beiden Hervorhebungen von Ruth Benedict zivilisationsgeschichtlich einen großen Sprung. Vor allem die Initiierung und der fortdauernde Einsatz für die UN-Charta der Menschenrechte suchen diese Errungenschaften zu sichern. Das regelmäßige „Weltgebetstreffen für den Frieden“ – erstmalig 1986 in Assisi – oder der seit 2003 zusammenkommende „Kongress der Führer der Weltreligionen und der traditionellen Religionen“ können dieses Mühen um die eine Menschheitsfamilie religiös unterstützen.
Treffend hat Carolin Emcke, Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels von 2016, angesichts des Terrors in Nahost soeben beschrieben, wie sich der Unterschied zwischen einem gentilen und einem universalen Verstehensmuster alltagskonkret auswirkt: „Es gibt tote Winkel der Empathie, Zonen, in die hinein nicht gedacht oder gefühlt werden will, weil es um Menschen geht, die als Feinde, als Fremde, als bloßes Kollektiv, nicht als Individuen gedacht werden.“[9] Freilich fällt die von Carolin Emcke angemahnte inklusive Perspektive nicht einfach vom Himmel, sondern muss beständig eingeübt und vertieft werden: beispielsweise durch das Erlernen von Sprachen, durch das Interesse an anderen Kulturen, durch interreligiöses Lernen oder durch die Inspiration von religiösen und nicht-religiösen Brückenbauerinnen und Brückenbauern. Gewiss können sich hier auch Menschen aus den drei abrahamitischen Religionen hilfreich einbringen, die davon überzeugt sind: „Gott ist Barmherzigkeit“ – und zwar für alle Menschen.
Immerhin haben Städtepartnerschaften oder Bistumspartnerschaften schon so vielen Menschen persönliche und horizonteröffnende Begegnungen ermöglicht. Gleiches gilt für kirchlich (mit-)getragene Freiwilligendienste im In- und Ausland für Junge und für Ältere. Solche zwischenmenschlichen Erfahrungen erleben viele Menschen als prägend für ihre Berufswahl und als einen Stimulus für ihre persönliche Zufriedenheit. Auch insofern stehen hinter der besonders hohen Zahl dezidiert religiös rückgebundener Ehrenamtlicher viele Einzelgeschichten, die veranschaulichen, dass sie die „universale Geschwisterschaft“ als ein horizonterweiterndes Erfolgsmodell erleben. Käme eine derart umfassend-humanistische Überzeugung unter allen Menschen guten Willens noch mehr zum Zuge, könnte niemand mehr als Halb-, Unter- oder Nicht-Mensch behandelt werden. Vielmehr gilt dann: Jeder Mensch ist Mensch. Und „Wir“ – das ist die eine Menschheitsfamilie!
[1] Peter von Becker, Gedankenlose Begriffe. Integration oder Ausgrenzung – es beginnt mit der Sprache. Freie Worte bedrohen Diktaturen, falsche Worte die Demokratie. Eine Kolumne, in: https://www.tagesspiegel.de/politik/integration-oder-ausgrenzung–es-beginnt-mit-der-sprache-3982111.html (29.08.2018, abgerufen am 10.10.2023).
[2] Nikolai Klimeniouk, Russland hat sich befreit vom Druck der Moral, in: NZZ 03.08.2022, S. 16.
[3] Putin bündelte diese Überzeugung 2016 in dem Slogan: „Russlands Grenzen enden nie.“ Zitat aus Nikolai Klimeniouk, Russland hat sich befreit vom Druck der Moral, in: NZZ 03.08.2022, S. 16.
[4] Michail Schischkin, Wann bekommt Russland seine Seele zurück?, in: FAZ 02.07.2022, No. 151, S. 16. – Mit persönlicher Betroffenheit erläutert auch der israelische Historiker Yuval Noah Harari, Gewinnt die Hamas diesen Krieg?, in: SZ 26.10.2023, No. 247, S. 9: Israels Kabinette unter Netanjahu „verfolgten [mehr als ein Jahrzehnt] eine zunehmend kämpferische Politik bei der Besatzung in den umstrittenen Gebieten und machten sich sogar die rechte messianische Idee der ‚Jewish Supremacy‘ zu eigen, der Überlegenheit des jüdischen Volkes.“
[5] Klaus E. Müller, Das magische Universum der Identität. Elementarformen sozialen Verhaltens. Ein ethnologischer Grundriss, Frankfurt – New York 1987, S. 95.
[6] David W. Sabean, Kinship and Class Dynamics in 19th-Century Europe, in: Jon Mathieu u. a. (Hrg.), Kinship in Europe. Approaches to Long-Term Development (1300-1900), New York 2007, S. 301-313.
[7] Ruth Benedict, Rassenforschung und Rassentheorie, Göttingen 1947, S. 32.
[8] Ruth Benedict, Die Rassenfrage in Wissenschaft und Politik, Bergen (Oberbayern) 1947, S. 135.
[9] Carolin Emcke, Die toten Winkel, in: SZ 21./22.10.2023, No. 243, S. 6.
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Hubertus Lutterbach, Prof. Dr. Dr., geb. 1961, lehrt Christentums- und Kulturgeschichte am Institut für Katholische Theologie der Universität Duisburg-Essen. Zahlreiche monographische Publikationen, zuletzt: „Urtümliche Religiosität in der Gegenwart„, Freiburg: Herder Verlag 2022“.
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