Regina Polak sieht angesichts des Weltflüchtlingstags am 20.6.2022 Entmutigendes und Hoffnungsvolles: Beunruhigende Entwicklungen, Zeichen der Zeit – und einen Papst, der realistisch an Wunder glaubt.
Am 20. Juni 2022 ist Weltflüchtlingstag. Dieser Tag soll an die Millionen Menschen erinnern, die gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen. Seit Jahren steigt laut UNCHR die Zahl der weltweit geflüchteten Menschen. Heuer hat diese „zum ersten Mal in der Geschichte die erschütternde Marke von 100 Millionen überschritten“. Filippo Grandi, der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, spricht von einem „Weckruf“, der dazu führen muss, die zerstörerischen Konflikte zu lösen, die Verfolgungen zu beenden und die Ursachen zu bekämpfen, die Menschen zur Flucht zwingen.
Beeindruckende Solidarität mit schalem Beigeschmack
Die entschlossene Aufnahme der bisher sieben Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine zeigt, wozu die Europäische Union in der Lage ist, wenn die Mitgliedsstaaten den politischen Willen dazu haben. Obwohl die Zahl der ukrainischen Flüchtlinge jene der Geflüchteten der vergangenen sieben Jahre übersteigt, erhalten erstere die sofortige Anerkennung als Flüchtlinge und damit Zugang zu sozialer Unterstützung, zu Bildungs- und Gesundheitssystemen und für einen Zeitraum von drei Jahren auch zum Arbeitsmarkt. Anders als 2015, hört man bisher weder von der Gefahr einer Desintegration der Europäischen Union noch von Konflikten um Verteilungsschlüssel. Dies ist erstaunlich angesichts der politischen Hysterie rund um die deutlich geringere Zahl der Flüchtlinge aus dem Irak und Afghanistan, die voriges Jahr an der polnisch-belarussischen Grenze gestrandet sind. Auch wenn dort bis heute Menschen sterben, hat man diese Menschen vergessen – ebenso wie jene, die aus Äthiopien, Burkina Faso, Myanmar, Nigeria, Syrien, und der Demokratischen Republik Kongo flüchten. Nicht-ukrainische Personen aus Drittstaaten, die in der Ukraine gelebt, studiert oder gearbeitet haben, sind überdies vom Recht auf temporären Schutz ausgenommen. Insbesondere Roma, Sinti und farbige Menschen haben immer wieder Probleme beim Grenzübertritt. Dies hinterlässt einen schalen Beigeschmack.
Es entsteht der Eindruck einer rassifizierten Flüchtlingspolitik.
So darf bezweifelt werden, dass die EU auf den „Weckruf“ von Millionen Flüchtlingen hört, der dazu anhalten müsste, endlich entschiedener an einer internationalen Migrations- und Flüchtlingspolitik auf der Basis universaler Solidarität und der Menschenrechte zu arbeiten (vgl. UN Global Compact). Eher entsteht der Eindruck einer rassifizierten Flüchtlingspolitik, die zwischen „den Unsrigen“ und „den Anderen“ unterscheidet. Zu befürchten ist, dass sich die Mehrheit der Bevölkerung in der EU an den alljährlichen Superlativ der Flüchtlingszahlen gewöhnt hat und ungebrochen eine restriktive Asyl- und Flüchtlingspolitik befürwortet. Nach wie vor herrschen negative Einstellungen gegenüber Migrant*innen – oder besser: gegen als ökonomisch nutzlos und kulturell minderwertig wahrgenommene Menschen. Denn gut ausgebildete Flüchtlinge, Pflegekräfte oder migrantische Arbeiter für den Niedriglohnsektor werden ja durchaus benötigt. Und die sozialen und ökonomischen Folgen der kumulativen Krisen – Energiekriese, Inflation und Teuerung – werden eine menschenrechtlich basierte Solidarität wohl eher nicht stärken.
So wird es wohl eine Minderheit bleiben, die den „Weckruf“ hört und mit den Flüchtlingen erkennt, dass die Welt und auch der immer noch reiche Westen vor der Aufgabe stehen, ein Wirtschaftssystem und einen Lebensstil zu verändern, die unsere natürlichen Grundlagen und Menschenleben zerstören. Wenn nicht ein Wunder geschieht, ist anzunehmen, dass Flüchtlinge weiterhin als Bedrohung wahrgenommen und zu Sündenböcken politisch-ökonomischer Interessen gemacht werden. Indikatoren für diese Vermutung gibt es zuhauf.
Beunruhigende Entwicklungen
So war beispielsweise Frontex, die Grenzbehörde der EU, zwischen März 2020 und September 2021 in mindestens 957 Pushbacks von Flüchtlingen in der Ägäis involviert. Die Zwischenfälle an der Grenze der EU wurden in der Datenbank „Joint Operation Reporting Application (JORA)“ minutiös festgehalten – allerdings nicht als Grund- und Menschenrechtsverletzungen, sondern als „Verhinderung der Ausreise“.
Auch Wladimir Putin nützt die Angst vor Flüchtlingskrisen: Der deutsche Botschafter Rüdiger von Fritsch warnt davor, dass Putin mit seiner Blockade von Getreide aus der Ukraine sowie der Zerstörung von Getreidesilos eine globale Versorgungskrise plant, um im Nahen Osten und in Nordafrika Fluchtbewegungen auszulösen, die im weiteren Europa politisch destabilisieren sollen. Dies könnte durchaus gelingen, denn laut Pankaj Mishra haben die Menschen im globalen Süden massive Vorbehalte gegen „den Westen“: In ihren Augen ist nicht Putins Angriffskrieg, sondern sind die Sanktionen der EU Ursache ihrer Versorgungskrise. Europa nützt in der Augen einer Mehrheit der Weltbevölkerung die Dominanz der Globalisierung als Waffe und riskiert ohne Rücksicht auf Verluste eine globale Inflation und Hungersnöte. Die klimatischen Entwicklungen in dieser Region kommen Putin dabei zu Hilfe: Aktuelle Hitzewellen und Dürren werden die klimabedingte Migration demnächst massiv beschleunigen.
Diese globalen Entwicklungen werden die Zahl der Flüchtlinge weiter hochtreiben. Sie werden in Europa weitgehend ignoriert. Von präventiver Politik ist derzeit wenig zu hören.
Internationale Migrationen – ein „Zeichen der Zeit“ für Katholik*innen?
Angesichts dieser Situation ist es mir noch nie so schwer gefallen, etwas Positives zum Weltflüchtlingstag zu schreiben. Meine langjährigen Hoffnungen, dass die internationalen Migrationen ein „Zeichen der Zeit“ (Erga migrantes 14) sind – d.h. „eine Herausforderung, die es beim Aufbau einer erneuerten Menschheit und in der Verkündigung des Evangeliums des Friedens zu entdecken und zu schätzen gilt“ und eine „günstige Gelegenheit“ bieten, „den Plan Gottes einer universalen Gemeinschaft zu verwirklichen“ – sind derzeit ziemlich gering. Nachgerade absurd klingt angesichts des Leids infolge von Kriegen und Klimakatastrophen die Aussage Marie-Dominique Chenus, der in „Zeichen der Zeit“ Orte möglicher Gnadenerfahrung Gottes wahrnimmt.[1]
Anti-migrantische Einstellungen sind auch kirchlich weit verbreitet.
Ja, solche Orte lassen sich im unermüdlichen Einsatz von Caritas-Organisationen, Ordensgemeinschaften und einzelnen Pfarren erkennen. Aber die Mehrheit der Katholik*innen in Europa scheint mir von diesem auch theologischen „Weckruf“ nicht erfasst zu sein. Anti-migrantische Einstellungen sind auch kirchlich weit verbreitet. Derzeit kann ich nur jener Passage der Instruktion Erga migrantes caritas Christi zustimmen, die die Migrationen als Folge und Ausdruck von globaler Ungleichheit und Ungerechtigkeit betrachtet und den „Riss, der durch die Sünde in die Menschheitsfamilie kam“ (EM 12) sichtbar machen. Der „schmerzhafte Aufruf zur Brüderlichkeit“ (12) wird nach wie vor nicht in dem Ausmaß gehört wie nötig. Das Problem scheinen mir aber weniger die theologischen Deutungen, sondern die Ignoranz, Taubheit und Blindheit einer großen Mehrheit in Europa.
Ja, viele Menschen in Europa sind überfordert von der Permanenz der Krisen und multiplen Ängsten. Aber was ist mit den Ängsten der Flüchtlinge? Ja, Armut breitet sich auch in Europa im Gefolge der Krisen aus. Aber warum richtet man die Angst vor Armut gegen Flüchtlinge statt laut aufzuschreien, dass gemäß des jüngsten Oxfam-Berichtes im Zuge der Pandemie multinationale Konzerne und Milliardäre ihr Vermögen teilweise verdoppelt haben, während 160 Millionen Menschen in Armut gestürzt sind?
Papst Franziskus: Hoffentlich ein Realist
Papst Franziskus glaubt ungeachtet dieser Situation offensichtlich ungebrochen an Wunder. In seiner bereits jetzt veröffentlichten Botschaft zum 108. Welttag des Migranten und Flüchtlings, der am 25. September 2022 begangen werden wird, fordert er dazu auf, „mit Migranten und Flüchtlingen die Zukunft zu bauen“. Wie seit Antritt seines Pontifikats erinnert er auch in diesem Schreiben wieder an die biblische Verheißung vom Reich Gottes, das trotz seines eschatologischen Charakters jetzt schon bei uns ist. 2022 stellt er dabei die künftige „Stadt Gottes“ in den Mittelpunkt seiner Überlegungen – ein „Projekt“ freilich, das einen „intensiven Prozess des Aufbauens“ beinhaltet, an dem sich alle persönlich beteiligen müssen: „Es geht dabei um eine sorgfältige Arbeit an der persönlichen Umkehr und an der Umgestaltung der Realität, um immer mehr dem göttlichen Plan zu entsprechen. Die Dramen der Geschichte erinnern uns daran, wie weit wir noch von unserem Ziel entfernt sind, dem neuen Jerusalem, »der Wohnung Gottes unter den Menschen« (Offb 21,3). Wir sollten aber deswegen nicht den Mut verlieren. Die Bedrängnisse der letzten Zeit haben uns noch einmal deutlich vor Augen geführt, dass wir unseren Einsatz für den Aufbau einer Zukunft, die mehr dem Plan Gottes entspricht, und einer Welt, in der alle in Frieden und Würde leben können, erneuern sollten.“
Grundlegendes Element in diesem Projekt ist der Einsatz für Gerechtigkeit, denn „wir erwarten einen neuen Himmel und eine neue Erde, in denen die Gerechtigkeit wohnt“ (2 Petr 3,13). Um diese Gerechtigkeit zu verwirklichen, braucht es „Geduld, Opferbereitschaft und Entschlossenheit“ sowie die Bereitschaft „die Erlösung durch Christus, sein Evangelium der Liebe, an(zu)nehmen, damit die Ungleichheiten und Diskriminierungen der gegenwärtigen Welt beseitigt werden können“. Da dieses Projekt überdies inklusiv ist, betont der Papst, dass das Reich Gottes nur mit den Migranten und Flüchtlingen aufgebaut werden kann. Deshalb so der Papst, stellt deren Ankunft eine Bereicherung dar: „Die Fülle des Meeres wendet sich dir zu, der Reichtum der Nationen kommt zu dir.“ (Jes 60,5).
„Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist“
Insbesondere dieses Jesaja-Zitat, das Papst Franziskus zur Verdeutlichung wählt, klingt in meinen Ohren nachgerade fantastisch. Ob es uns in Europa gelingt, die Menschen, die über das Meer zu uns kommen, auf diese Weise wahrzunehmen? Die Zeichen dafür stehen derzeit nicht gut; ein Blickwechsel käme einem Wunder gleich. Aber wie David Ben Gurion, ebenfalls mit Bezug auf die Bibel, einst feststellte: „Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist.“ Und als Lateinamerikaner, der die Übel und Dramen der Migration aus erster Hand kennt, dürfte Papst Franziskus ein Realist sein: im bester biblischer, kontra-faktischer Tradition.
So lege ich meine etwas müde gewordene Hoffnung zum heurigen Weltflüchtlingstag in die Verheißungen der Heiligen Schrift und lassen den Papst stellvertretend für mich Mut zusprechen. Ich hoffe, er ist Realist. Mehr an Trost ist mir selbst derzeit nicht möglich.
[1] Marie-Dominique Chenu: Les signes de temps, in: Nouvelle revue théologique 87 (1965), 29-39.
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Autorin: Regina Polak ist Assoziierte Professorin und Leiterin des Instituts für Praktische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Sie ist seit 2016 Theologische Beraterin der Migrationskommission der Deutschen Bischofskonferenz und seit 2020 „Personal Representative des CiO der OSCE on Combating Racism, Xenophobia and Discrimination, also focusing on Intolerance and Discrimination against Christians and Members of Other Religions“
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