Das ist der Titel von Ellen Geisers online verfügbaren Buch zu Johann B. Metz und Judith Butler. Michael Schüßler hat es mit Gewinn gelesen.
Wer zählt, wessen Leben zählen, wessen Leben ist betrauerbar und wessen Leben zählen faktisch gerade nicht? Was könnte in unseren Zeiten der Kriege und Krisen wichtiger sein als diese Fragen, die Ellen Geiser in ihrer Doktorarbeit von der jüdischen Philosophin Judith Butler abliest[1].
Judith Butler in drei Wellen
Im deutschen Sprachraum hat es in der Wahrnehmung von Butler drei Wellen gegeben. Alle drei sind, vorsichtig gesagt, höchst kontrovers. Am bekanntesten ist Butlers Theorie der verkörperten (performativen) Geschlechtsidentitäten und deren queere Verflüssigung. Damit ist Butler zum bizarren Feindbild des Antigenderismus katholischer und neurechter Akteure geworden. In ihrem neuesten Buch (bisher nur auf Englisch) „Who´s afraid of Gender“ geht sie ausführlich darauf ein. Zugleich ist anspruchsvolle theologische Genderforschung ohne ihre macht- und diskurskritischen Argumente heute nicht mehr wirklich gut zu denken.[2] Die dritte und jüngste Welle besteht in der Empörung, die ihrer israelkritischen und nicht-zionistischen Position als jüdisch sozialisierte US-Amerikanerin seit dem Hamas-Terror vom 7. Oktober 2023 entgegenschlägt.[3] Beide Skandalisierungen verdecken ein wenig den noch fehlenden, zweiten Themenschwerpunkt, nämlich Butlers Politische Philosophie und Ethik.[4] Natürlich hängen alle drei Themen miteinander zusammen – Ellen Geiser würde wohl sagen entlang des gefährdeten Lebens und des menschlichen Leidens in der Frage: Wer zählt.
Beide teilen das Vermissen von Gerechtigkeit
Unter diesem Motto folgt Geiser der Neuen Politischen Theologie von Johann B. Metz und eben Judith Butler. Beide „teilen sie das Vermissen von Gerechtigkeit sowie den Blick auf Ungerechtigkeiten und deren Folgen“ (15). Beide teilen die leidenschaftliche Suche nach einer Welt, in der alle Menschen anerkannt sind und ein gleichermaßen lebbares Leben führen können. Das aber ist eigentlich schon ein Ergebnis der Arbeit, die zwischen Metz und Butler hin- und herwandert und dabei praktisch-theologische Fährten findet. So heißt jedenfalls das zentrale zweite Kapitel. Wichtige gemeinsame Konzepte werden aus beiden Perspektiven nachgezeichnet und in Ähnlichkeiten wie Differenzen ausgewertet: Die gar nicht so einfache Anerkennung von Anderen | Subjektwerdung zwischen Handlungsmacht bei Metz und der postsouveränen Gestaltung relationaler Verbundenheit bei Butler | Ungleichheit als Option für die leidenden Opfer bei Metz und prekär gemachtes Leben in basaler Verwundbarkeit bei Butler | Wie über Leid zu sprechen wäre und was dabei immer offen bleiben muss | Wie uns Leid und Gefährdetheit in Verantwortung rufen | Wie universale Menschenrechte und die Autorität der Leidenden ihren kulturellen Formulierungsrahmen einbeziehen müssen, um den eigenen Ansprüchen gerecht zu werden | Die Bedeutung gefährlicher Erinnerung für heilsame Unterbrechungen herrschender Diskurse. Wer das alles interessant, aber auch etwas unverständlich und zu knapp findet, gerne auf die freie Open Access Datei klicken und nachlesen: es lohnt sich.
Wo erzählt und nicht nur gezählt wird, da gelingt Weiterleben
Den Ertrag dieser Untersuchungen präsentiert Geiser im letzten Kapitel als eine textliche Galerie. Wer zählt, das erinnert an Tätigkeiten des Messens und Gewichtens, des wirtschaftlichen Ordnens und Verwaltens. Aber wie der Dissertationsbetreuer Jörg Seip zitiert wird: „Wo erzählt und nicht nur gezählt wird, da gelingt Weiterleben“ (213). Mit Derrida kann Gerechtigkeit nie ganz allein durch Recht hergestellt werden (das freilich notwendig ist), weil im Letzten „Gerechtigkeit zwar nicht messbar ist, aber dennoch zählt“ (214). Gut, mehr Geld für arm gemachte Menschen und Familien hilft natürlich nachweislich zum besseren (Über)Leben. Aber das Prozedere legt eben auch fest auf diskriminierende Kategorien der sozialen Hilfe und der Bedürftigkeit. „Wie ist es möglich zu zählen, ohne gezählt zu werden? Wie kann einem Leben Bedeutung zugemessen werden, ohne es dabei festzuschreiben?“ (215).
Die Leerstellen benennen
Geiser problematisiert das theologische „Erkennen“, das eben immer auch eine machtvolle Praxis des „Benennens“ beinhaltet. Die „Stimme der Sprachlosen“ sein zu wollen, kann die Stummheit von Betroffenen ebenfalls fortschreiben. Hier fordert Butler die Politische Theologie zu einer größeren diskurskritischen Sensibilität auf: Wer spricht? Von wo her wird gesprochen? Wer kommt erst gar nicht vor? Auch wenn Matthias Sellmann selbst noch einmal eine weitere Position vertritt, für Geiser ist seine Intervention bei der vierten Versammlung des Synodalen Weges ein konstruktives Beispiel. Sellmann machte nach dem Scheitern des Reformtextes zur Sexualmoral darauf aufmerksam, dass queere Teilnehmende den Saal verlassen hatten, jetzt also fehlen. Die ganze Veranstaltung habe nun ein Sinn- und Autoritätsproblem. Nach Geiser wird damit benannt, „dass bestimmte Personen nicht mehr da sind, also nicht sprechen können, ohne für diese Personen zu sprechen. Es handelt sich also um ein Repräsentieren des Fehlens“ (225). Der Hinweis auf Leerstellen und unsichtbar gemachte Positionen wird zu einer subversiven Praxis des Wahrsprechens.
Reflexivitätsschub für die wichtige Politische Theologie
Insgesamt macht Geiser mit ihrem Buch zwei Punkte deutlich. In den (heute) scheinbar alten Texten von Metz steckt unaufgebbares Potenzial für eine Politische Theologie im Heute: „Es kann keine Rede von Gott mit dem Rücken zu den Leidenden geben“ (235). Zweitens aber zeigt sie, nachmoderne Positionen wie von Butler „stehen dabei nicht im Widerspruch zum Anliegen der Neuen Politischen Theologie, sondern können deren Blick im besten Sinne des Wortes schärfen“ (236). Beide Ansätze, so Geiser, gehen nicht von vorgängiger Freiheit aus. „Freiheit ist nicht einfach gegeben, sondern muss in Form von Widerstand gegen Unterdrückung performiert und eingefordert werden“ (38). Mit Butler wird aber ein Reflexivitätsschub möglich, nämlich faktische Ambivalenzen und implizite Ausschlüsse auch in jenen Theologien mitzudenken, die sich explizit für Ausgeschlossene und Leidende einsetzen wollen.
Eigentlich wünscht man sich am Ende des Buches vor allem eins: Man wünscht sich Band zwei, wo an konkreten Beispielen ausgetestet wird, wie mit Metz-Butler anderes Erkennen und Benennen möglich wird und damit vielleicht auch andere Praxismöglichkeiten. Der Text selbst legt die Fährten dafür aus, etwa wenn das theologische Schweigen zu Rassismus oder die Rede von Armut beispielhaft aufgegriffen werden (219; 223).
Warnhinweise für öffentlich bzw. kirchlich eingeschliffenen Sprachgebrauch
Dass die letzten Seiten einen Fragenkatalog zur Praxisreflexion präsentieren, verdichtet das abwägend selbstreflexive Programm. Erzwungene Abgrenzungen mit der rhetorischen Brechstange wird man im Text nicht finden. Eher schon feine Unterschiede, gegenseitige Ergänzungen und kleine Warnhinweise zu manch öffentlich bzw. kirchlich eingeschliffenem Sprachgebrauch. Butlers Frage „Wer zählt“ inspiriert bei Geiser zu besseren Antworten auf die schon guten Fragen bei Metz: „Wer treibt – wann und wo – für wen und in welcher Absicht Theologie?“ (40).
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Bild: Verlag transcript
Michael Schüßler ist Praktischer Theologe an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Tübingen.
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[1] Ellen Geiser, Wer zählt? Praktisch-theologische Fährten zwischen der Neuen Politischen Theologie und Judith Butler, Bielefeld 2024 [Religionswissenschaft | Bd. 40] (online: https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-7113-1/wer-zaehlt/). Alle Zitate ohne weitere Angaben sind dort entnommen.
[2] Saskia Wendel, Die ‚Leib Christi‘-Metapher. Kritik und Rekonstruktion aus gendertheoretischer Perspektive, Bielefeld 2023 [Religionswissenschaft | 32], sowie in diesem Feuilleton: https://www.feinschwarz.net/die-leib-christi-metapher-ein-patriarchaler-hokuspokus/.
[3] Die Arbeit wurde vor dem Massaker des 7.10.2023 geschrieben. In einer kurzen Passage distanziert sich die Autorin von Butlers Position in dieser Frage (S. 18).
[4] Vgl. aber als wichtigen Grundlagentext für die Pastoraltheologie: Ute Leimgruber, »Unsere Chance … menschlich zu werden«. Anstöße aus der Lektüre Judith Butlers für die pastoraltheologische Rede von Menschen und Macht, in: Bernhard Grümme / Gunda Werner (Hg.). Judith Butler und die Theologie. Herausforderung und Rezeption, Bielefeld 2020, 43-62.
https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-4742-6/judith-butler-und-die-theologie/.