Wie geht gerecht sein? Und glücklich sein? Was davon kann man lehren und lernen? Helga Kohler-Spiegel über einen Band, der diesen Fragen der Wertebildung nachgeht.
Manchmal lese ich Bücher von hinten nach vorne. Keine Krimis, aber Fachbücher. Manchmal werden diese gegen Ende konkreter. Hier ist es anders: Das Buch, erwachsen aus einem Symposium einer interdisziplinären Werte-Forschungsgruppe an der Universität Osnabrück im Sommersemester 2014, beginnt mit Good-Practice-Beispiele zur Wertebildung. Danach diskutieren Armin Regenbogen, Reinhold Mokrosch und Ulrike Graf diese und andere Konzeptionen der Wertebildung systematisch, bevor das Thema in verschiedenen schulischen und fachdidaktischen Perspektiven ausgefaltet und dann gebündelt wird. Der Band ist peer-reviewed und als Band 5 der Reihe „Werte-Bildung interdisziplinar“ erschienen, herausgegeben von Martina Blasberg-Kuhnke, Eva Gläser, Reinhold Morkosch, Susanne Müller-Using und Elisabeth Naurath.
Wie geht Bildung in den Werten Frieden, Gerechtigkeit und Glück?
Wie geht Bildung in den Werten Frieden, Gerechtigkeit und Glück, innerhalb und außerhalb von Schule? „Die Beiträge beschreiben, wie Frieden als ‚Gewaltfreie Kommunikation‘, wie Gerechtigkeit in ‚Just Communities‘ und wie Glück in Jugendzentren und in christlichen und muslimischen Gemeinden praktiziert werden“, so Heiner Bielefeldt, UN-Sonderberichterstatter über Religions- und Weltanschauungsfreiheit, im Vorwort (10). Expertinnen und Experten zeigen, wie dieses Werte-Lernen in den Erziehungswissenschaften, im Kunst-, Musik- und Philosophieunterricht, im christlichen und islamischen Religionsunterricht, im Deutsch-, Sport-, Biologie- und Sach-Unterricht sowie in der politischen Bildung diskutiert und eingeübt wird.
„Wertebildung beginnt in der Regel damit, dass wir in der Begegnung mit Anderen selbst Wertschätzung erfahren.“ (Armin Regenbogen, 13) Wie also geht gerecht sein? Und glücklich sein? Was davon kann man lehren und lernen? Ist es denn sinnvoll, glücklich sein zu unterrichten? Und ist es überhaupt erlaubt, ohne Menschen zu entmündigen? Wie kann solche Bildung stattfinden, wenn es nicht um Vermittlung, sondern um Urteilen- und Handeln-Lernen sowie um das Erproben von Meinungsbildung und ihren Standards geht?
Ein paar Blitzlichter…
Ein paar Blitzlichter: Eine Mädchengruppe im 3. Grundschuljahr setzt sich im Kunstunterricht mit dem Bild von Diego Velazquez: Las Meninas, 1656, kooperativ malerisch auseinander. Die zentrale Figur der Infantin wird versehentlich übermalt, und die Mädchen reagieren mit der Erzählung, dass die Prinzessin ein „böses Mädchen“ sei, „das in einer Laune seine ganze Familie umgebracht habe…“ (173) Die Gruppe übernimmt die Deutung, mit Lust wird das ganze Blatt rund um die Prinzessin mit roter Farbe bemalt (174), auch die Mädchengruppe konnte sich so freimachen vom braven und sauberen und geordneten Malen. Es war anregend, den Beitrag von Andreas Brenne zu lesen. So ging es mir mit zahlreichen Beiträgen in diesem Band.
Oder, um ein weiteres Beispiel zu nennen: Haben Sie bereits konkret bedacht, wie das „Ressourcen-Nutzungs-Dilemma“ in der Region, in der Sie leben, gelöst werden soll? Wie gehen Sie mit dem Konflikt zwischen Ökologie und Ökonomie und Sozialem um? Fallbeispiele und Reflexionen, didaktische Möglichkeiten und Systematisierungen – der Band ist anregend, erhellend, strukturierend, vertiefend. Zentral bleiben die Fähigkeit zum Perspektivwechsel und zur Mehrperspektivität. Dann ist Bildung die Fähigkeit, die Welt aus verschiedenen Perspektiven sehen zu können.
Wie Ethik praktisch werden kann.
Am Schluss des Buches zitiert Sonja Angelika Strube die Frage von Susanne Klinger: „Was hindert Ethik daran, praktisch zu werden?“ (309) Vier Problemanzeigen und vier Lösungsperspektiven runden das Buch ab. Die Lösungsperspektiven:
- „Ein erweitertes Konzept von vernunftgemäßer Urteilsfindung“ (311), Emotionen selbst sind Informations- und Erkenntnisquellen, Mitgefühl ist bedeutend für die Wertebildung (vgl. Elisabeth Naurath 2010).
- „Wahrnehmung und Integration von Emotionen“ (312f). „Ein wesentlicher Gesichtspunkt von Wertebildung besteht somit im Unterstützen der Wahrnehmung eigener Gefühle und innerer Regungen und im Anregen und Schulen intrapersonaler Kommunikation.“ (313) Dies betrifft auch Lehrerinnen und Lehrer und andere Wertebildner/innen.
- „Emotionale Freiräume und Just Communities“ (315), Spielregeln und der Umgang mit Widerstand sind hilfreich.
- „Wege aus der Sackgasse des Dualismus“ (316f). Die Arbeit mit dem Werte- und Entwicklungsquadrat zeigt den guten Kern, die Einseitigkeit und die Gefahr der Übertreibung eines Wertes, einer Tugend, diese Arbeit „ermöglicht ein tolerantes Denken in Kontrasten und einen persönlichkeitsgerechten Umgang mit Tugenden.“ (317)
Ich kann mit dem Schlusssatz von Heiner Bielefeldt enden: „Ich wünsche dieser Publikation eine interessierte Leserschaft, die ihrerseits für eine Realisierung von Menschenrechten, Frieden, Gerechtigkeit und Glück eintritt.“ (11)
Ulrike Graf / Susanne Klinger / Reinhold Mokrosch /Armin Regenbogen / Sonja Angelika Strube (Hg.), Werte leben lernen. Gerechtigkeit – Frieden – Glück, Universitätsverlag Osnabrück bei V&R unipress Göttingen 2017. 325 Seiten mit 8 Abbildungen, ISBN 978-3-8470-0694-7.
45 Euro.
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Helga Kohler-Spiegel ist Professorin für Pädagogische Psychologie und Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Vorarlberg und Redakteurin von feinschwarz.net.