Maria-Elisabeth Aigner erklärt, warum diese Debatte auch die Theologie angeht.
Die Welle, die aus Hollywood angerollt ist, reißt auch hierzulande nicht mehr ab. Mit der Hashtag MeToo-Debatte wurde medial eine Diskussion angestoßen, die es historisch gesehen in dieser Form noch nicht gegeben hat. Sexuelle Übergriffe und Gewalt existieren seit Menschengedenken. Jetzt zögern die Betroffenen jedoch nicht mehr, an die Öffentlichkeit zu treten und von Dingen zu berichten, die bislang totgeschwiegen und wissentlich toleriert wurden. Hier kommen Übergriffe ans Tageslicht, die bislang als selbstverständlich gehandelt wurden, obwohl sie unsägliches Leid über jene gebracht haben, die sich aufgrund von Abhängigkeitsstrukturen nicht wehren konnten. Es scheint, der Geist ist aus der Flasche entwichen und nun wird man ihn gesamtgesellschaftlich nicht mehr los.
Der Geist ist aus der Flasche entwichen.
Das hat immense Bedeutung. Durch den Mut der Betroffenen aufzustehen, und zu erzählen, wie dies jüngst im Filmbusiness oder Sport geschehen ist, haben abstrakte Zahlen und Statistiken plötzlich ein Gesicht bekommen und in der Folge Reaktionen ganz unterschiedlicher Art hervorgerufen. Medial gesehen erinnert diese Welle an den Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche und seine im Anschluss bis heute nicht enden wollenden neuen Enthüllungen.
Debatten lösen Reflexionsprozesse aus und schaffen Bewusstsein. Es ist wichtig, dass Fragen gestellt werden dürfen, schärfer wahrgenommen wird, dass umsichtiger nachgedacht werden darf. Dabei geht es nicht nur um Nachdenkprozesse, sondern auch um die Beobachtung von eigenen und fremden Haltungen und Handlungen. Die Diskussionen provozieren, sich zu positionieren und zwar medial, gesellschaftlich, kirchlich, aber auch individuell – im Beruf, oder im Privaten. Die Betroffenen nehmen sich Raum und wagen es, sich auch öffentlich mit ihrem Schmerz zu zeigen. Sie muten Kirche und Gesellschaft ihr Stigma, ihre Verletzung, und die damit verbundene Herabwürdigung zu. Damit erzwingen sie Auseinandersetzung um jeden Preis.
Sie muten Kirche und Gesellschaft ihr Stigma zu.
Das Thema ist kompliziert und diffizil, weil es die menschliche Sexualität betrifft und damit etwas berührt, das immer im Verborgenen stattfindet und mit intimen Situationen zu tun hat. Im Grunde geht es dabei um die Wahrnehmung des Gegenübers und das Wissen um die eigenen Grenzen. Das Verhältnis von Nähe und Distanz zu gestalten, verlangt eine hohe Selbst- und Fremdwahrnehmungsfähigkeit. Begegnung mit Intimität erfordert die Pflege eines sehr vorsichtigen Umgangs. Die gegenseitige Kommunikation funktioniert nicht ohne „Ja“ und „Nein“ – und zwar verbal, aber auch nonverbal, auf der körperlichen Ebene. Intimität gibt es aber eben nicht nur in der Sexualität, sondern auch im Spirituellen und Religiösen. Die Gefahr dabei ist, dass hier Grenzüberschreitungen häufig unter dem Deckmantel seelsorglicher Anteilnahme stattfinden. Religiosität sucht explizit nach Überschreitendem im Sinne der Transzendenz, weshalb Verführungen sich in diesem Bereich besonders subtil zeigen.
Intimität gibt es auch im Spirituellen und Religiösen.
Wo aber beginnen Missbrauch und Übergriff? So diffizil, komplex und individuell sich die Grenzziehungen im Miteinander auch gestalten, Grenzverletzungen lassen sich sehr klar definieren. Die Definitionsmacht darüber, was als Übergriff empfunden wird, liegt bei den Betroffenen. Sie erleben Demütigung, Schmerz, Unterwerfung und Unterdrückung und vor allem eine Minderung ihres Selbstwertes. Sexuelle, beziehungsweise sexualisierte Belästigung ist keine Annäherung, die gemeinsam verhandelt wird und auf Gegenseitigkeit beruht. Sie geschieht immer gegen den Willen eines Gegenübers und ist eine Form der Gewalt und des Missbrauchs. Es handelt sich dabei um physische oder psychische Gewalt, bei der die Würde der Person verletzt wird. Grenzverletzungen dieser Art gehen meist mit Abhängigkeitsverhältnissen einher und lassen die Opfer handlungsunfähig werden. Sexualisierte Gewalt will darauf hinweisen, dass die Motive für eine solche Form des Übergriffs nicht vorwiegend der Sexualität zuzuordnen sind, sondern vor allem Demonstrationen von Überlegenheit und Macht darstellen. Hierarchien, Ungleichheit und Abhängigkeitsstrukturen begünstigen das Ausspielen von Macht in einer missbräuchlichen Form. Sie sind die Hintergrundfolie sexualisierter Gewalt, die gesellschaftlich – oder eben auch kirchlich zum System wird. Angst, Scham, Ressentiments und Feindseligkeiten tragen das ihre dazu bei.
Grenzverletzungen lassen die Opfer handlungsunfähig werden.
Die Debatte ist zu führen, sie ist weder zu bagatellisieren noch zu banalisieren, weil sie uns alle betrifft. Hier geht es eben nicht um Tugendterror, sondern um eine Sensibilität für die Einmaligkeit, Schönheit und Heiligkeit der Geschöpflichkeit und den ihr geschuldeten Respekt. Hashtag MeToo soll nicht die Freude am Flirt oder die gewisse Spannung im zwischenmenschlichen Umgang miteinander trüben. Sexismus hat nichts mit einer erotischen Alltagskultur zu tun, die unsere Kreativität befördert und die wir brauchen, um als Menschen nicht zu eintönig spröden, humor- und herzlosen Gestalten zu verkümmern.
Hashtag MeToo soll nicht die Freude am Flirt trüben.
Die Stimme der Betroffenen aus Film-, Theater- oder der Sportwelt suggerieren womöglich einen elitären Diskurs. Sie stehen aber auch für die Stimmen eines viel größeren Teils der Bevölkerung dieser Erde. Es geht um jene, die permanent und wiederholt Übergriffen ausgesetzt sind, jedoch nicht so einfach an die Öffentlichkeit gehen können, weil ihnen die Mittel, wie Sprache, Bildung, Geld oder Ansehen dazu fehlen, wie dies beispielsweise bei Frauen aus armen Ländern oder aus bildungsfernen Schichten der Fall ist. Den Mut zu haben, aufzustehen und die eigene Geschichte zu erzählen, ist eine Form der Selbstermächtigung, die Würde verleiht und ist zugleich Ausdruck von Solidarität. Solidarität kann auf der zwischenmenschlichen-individuellen Ebene zu einem ungeheuer wichtigen Trost- und Ermutigungsfaktor werden. Sie kommt aus dem Herzen und ist zugleich politisch, weil sie nicht nur die Zärtlichkeit der Völker, sondern der ganzen Schöpfung repräsentiert.
Solidarität kommt aus dem Herzen und ist zugleich politisch.
Text und Bild: ao. Univ.Prof. Maria Elisabeth Aigner lehrt Pastoraltheologie und Pastoralpsychologie an der Universität Graz.