Schafft den Sonntagsgottesdienst ab! Der Sonntagsgottesdienst ist das einzig Wahre! Aber von welchem Gottesdienst reden wir überhaupt? Von Kerstin Menzel
In wenigen Stunden hat sich die Ultimativforderung von Hanna Jacobs im kirchlichen Raum verbreitet, die Kommentare in pastoralen Foren und in den Timelines gehen in die Hunderte. „Schafft den Gottesdienst am Sonntag ab!“ Nur polemische Zuspitzung? Für eine innerkirchliche Diskussion wäre das in einem anderen Medium vielleicht ein interessanter Aufschlag, in der ZEIT aber ist es eine öffentliche Generalabrechnung, die viele Pfarrer:innen und beruflich oder ehrenamtlich für Gottesdienst Verantwortliche verletzt. Heikel sind in dieser Öffentlichkeit aber auch die soziologischen, historischen und v.a. liturgiewissenschaftlichen und theologischen Kurzschlüsse dieses Textes.
eine öffentliche Generalabrechnung, die viele Pfarrer:innen und beruflich oder ehrenamtlich für Gottesdienst Verantwortliche verletzt
Der evangelische Sonntagsgottesdienst erreiche nur 2% der Kirchenmitglieder, die ohnehin – siehe ihre Haarfarbe – bald aussterben würden, so Jacobs. Das Festhalten dieser Minderheit am Sonntagsgottesdienst sei „Oligarchie“. Dabei ist das doch ein statistischer Kurzschluss. Die 2% sind der Durchschnitt aus der Anzahl der Teilnehmenden an den zwei Zählsonntagen der EKD-Statistik: der Sonntag Invokavit als vermutlich eher schwach besuchter und der erste Advent als vermutlich eher gut besuchter Gottesdienst, Invokavit doppelt gewertet. Es ist also ein fiktiver Durchschnitt. Die Mitgliedschaftsuntersuchungen machen darüber hinaus deutlich, dass die allerwenigsten jeden Sonntag in die Kirche gehen. Es sind also sonntäglich wohl immer unterschiedliche 2%, die dort sitzen, auch wenn es natürlich bei den ganz treuen Kirchgänger:innen eine stabile Grundgröße gibt.
immer unterschiedliche 2 Prozent
Und es sitzen da wohl an manchen Sonntagen auch mal 10% – etwa wenn die Kita den Gottesdienst mitgestaltet, eine Taufe stattfindet oder eine Kantate musiziert wird – und an anderen weniger als 1% der Mitglieder. Damit wäre ein zweiter empirischer Fehlschluss schon angedeutet: es gibt nicht „den“ Gottesdienst am Sonntagmorgen. Kürzlich in einem Pfarrkonvent habe ich als Referentin die Teilnehmenden mal aufzählen lassen, was sie da alles an Gottesdiensten feiern. Da war viel Anlassbezogenes dabei, aber auch die Gottesdienste am Sonntagmorgen nahmen eine ganze Menge Zeit in Anspruch. Die Vielfalt tatsächlich gefeierter Gottesdienste und ihrer Klangfarben ist jeden Sonntag enorm – und gerade die unterschiedlichen familienbezogenen und musikalischen Formate werden in Jacobs Polemik unterschlagen.[1]
Die Vielfalt der Gottesdienstformen ist auch die Antwort auf die von Jacobs zu Recht gestellte Frage der Zugänglichkeit. Nicht erst die Wohnzimmerkirche, sondern bereits die Erfindung des Familiengottesdienstes in den 1980er Jahren verdankt sich der Wahrnehmung, dass Inklusion eine Frage der Gestaltung ist. Ein einziges Format schließt in einer ästhetisch und sozial ausdifferenzierten Gesellschaft immer Menschen aus. Und manches von Jacobs Polemik erinnert doch stark an Diskussionen vor zwanzig Jahren um das „zweite Programm“ und dessen Verhältnis zum agendarischen, traditionsgebundenen Gottesdienst. Der Blick in die Gottesdienstangebote vieler Städte verrät, dass wir hier schon deutlich weiter sind und Gottesdienste zu anderen Zeiten ebenso normal sind wie verschiedene Profile um 10 oder 11 Uhr. Sie alle bewegen sich übrigens in Konkurrenz zu den zahlreichen Alternativangeboten einer Freizeit- und Erschöpfungsgesellschaft!
Gottesdienste zu anderen Zeiten sind ebenso normal wie verschiedene Profile.
Die Uhrzeit des Sonntagsgottesdienstes erklärt Jacobs mit der Stallroutine traditionaler Gesellschaften. Da hätte ich tatsächlich fundiertere Kenntnisse zur Geschichte des christlichen Gottesdienstes erwartet. Bereits in der frühen Christenheit verbindet sich der Sonntagmorgen mit dem Gedenken an die Auferstehung Jesu – ein Gedanke, der sich sogar in die Lichtinszenierung durch die Ostung der Kirchengebäude einschreibt. Zugleich werden über weite Strecken der Geschichte nicht nur am Sonntagmorgen Gottesdienste gefeiert, sondern auch im Zyklus des Tages und über den gesamten Sonntag hinweg.
die Berechtigung des Gottesdienstes nicht von der Frage her definieren, wen oder wie viele er erreicht
Der größte Irrtum ist aber ein theologischer. Jacobs Artikel argumentiert durchgängig von der Zahl der erreichten Teilnehmenden her. Was sich für 50 vielleicht noch „lohne“, das sei doch für „ein trauriges Dutzend“ nicht mehr zu verantworten. Diesen Fehler, die Berechtigung des Gottesdienstes von der Frage her zu definieren, wen er erreicht, macht auch Justus Geilhufe in seiner etwas autoritär anmutenden Replik auf Jacobs auf chrismon. Hier mutiert der Gottesdienst unversehens zum missionarischen Instrument für die Kirchenfernen, denen nun eben doch etwas fehlt ohne den Glauben, und zur reinen Verkündigungsveranstaltung: „Monolog des Pfarrers? Ja, bitte.“ Das wollten auch die Kirchenfernen. Ist das aber der entscheidende Maßstab für den Gottesdienst?
Geilhufe zitiert immerhin Luthers grundlegende Bestimmung des Gottesdienstes bei der Einweihung der Torgauer Schlosskapelle, unterschlägt dann aber den dialogischen Aspekt. Ja, Gott redet nach Luther im Gottesdienst mit uns durch sein Wort (und das ist mehr als die Predigt), aber auch wir antworten in Gebet und Lobgesang. Die Confessio Augustana sieht in den beiden Angelpunkten gottesdienstlicher Ellipse – Wortverkündigung und Sakramente – die Mittel zur Erlangung des Glaubens.
Die Kirche konstituiert sich als die Gemeinschaft, die sie ist, im Gottesdienst – egal in welcher Form und an welchem Ort.
Zunächst also: die Kirche konstituiert sich als die Gemeinschaft, die sie ist, nämlich in Beziehung mit Gott, im Gottesdienst. Egal in welcher Form und an welchem Ort. Beten als Grundbewegung des Glaubens, Hören auf Gottes Wort, weil ich mir das Entscheidende nicht selbst sagen kann, Gott loben auch mitten in den Krisen der Zeit als Auftrag an Gottes Kinder, gesegnet werden für den Alltag und die Anfechtungen des Lebens. Dass dies geschieht – darauf kommt es an.
Eine Kirche, die ihren Anspruch auf Offenheit und Öffentlichkeit nicht aufgeben will, auch wenn ihre Zahlen kleiner werden, wird dies sichtbar und erwartbar tun. Dafür stehen die Gottesdienste am Sonntagmorgen „in der Fläche“ (wenn auch schon lange nicht mehr in jeder Kirche), an den großen Festtagen und auch in den öffentlichen Medien. Dass dies gesellschaftlich wahrgenommen wird, zeigt die Wirkung des Gottesdienstverbots im ersten Pandemie-Lockdown: wenn selbst Gottesdienste untersagt sind, ist wirklich Ausnahmezustand. Alle anderen kirchlichen Angebote hatten Mühe, in gleicher Weise öffentlich sichtbar zu werden. Nur so lassen sich Vorwürfe erklären, die Kirchen hätten die Menschen allein gelassen – denn faktisch haben sich viele große Mühe gegeben. Aber seelsorgliche Praxis und kleine Interaktionen können (und im Blick auf Seelsorge dürfen) nicht die gleiche öffentliche Sichtbarkeit erlangen wie Gottesdienste.
Eine Kirche, die ihren Anspruch auf Offenheit und Öffentlichkeit nicht aufgeben will, wird sichtbar und erwartbar Gottesdienst feiern.
Sichtbar und erwartbar Gottesdienst feiern heißt daher auch: sichtbar und erwartbar stellvertretend Gottesdienst feiern. Schon vor dreißig Jahren hat die amerikanische Religionssoziologin Grace Davie gezeigt, dass Menschen wichtig finden, dass Gottesdienst stattfindet, auch wenn sie nicht hingehen. Sie haben ein Gespür dafür, dass sie betrifft, was dort geschieht, auch wenn sie nicht dabei sein. Diese stellvertretende Dimension könnte wohl eine andere Perspektive auf kleine Feiern werfen – und an ihre Gestaltung noch mal eine andere Perspektive legen. Stellvertretendes Beten – das ist Ausdruck des volkskirchlichen Selbstverständnisses auch einer Minderheitskirche und nicht die vollständige Versammlung aller (Kirchen-)Vereinsmitglieder, die Jacobs als Gegenbild aufbaut.
Stellvertretendes Beten – das ist Ausdruck des volkskirchlichen Selbstverständnisses auch einer Minderheitskirche.
Dass Menschen in den Gottesdiensten erleben können, dass „Gott mit ihnen redet und sie Gott antworten“ ist das Entscheidende und daraufhin ist selbstverständlich das gottesdienstliche Angebot immer wieder kritisch zu prüfen. Dem können aber sowohl zur Routine erstarrte und aus Prinzip gefeierte Gottesdienste im Weg stehen wie auch gut gemeinte Aktionen, in denen man sich am Ende v.a. um die eigene Befindlichkeit dreht. Und an manchen Stellen täte mehr Ehrlichkeit über „Blutleere“ auf beiden Seiten gut.
In der kirchlichen Außendarstellung müsste es aber statt großen Alternativen in Zukunft eher darum gehen, Gottesdienst in Vielfalt sichtbar zu machen und zu zeigen, dass auch ein Gottesdienst am Ende einer Familienrüstzeit, eine Andacht beim Pilgercafé, der Segen auf der Straße oder die Fürbitte im Schulgottesdienst das stellvertretende Element einer Kirche hüten, die sich von Gott ins Wort fallen lässt und die Menschen und die Nöte der Zeit vor Gott ins Gebet bringt. Plädoyers für und Darstellung der Vielfalt bringen da mehr als die polemische Kritik eines Zerrbilds gottesdienstlicher Realität.
in der kirchlichen Außendarstellung Gottesdienst in Vielfalt sichtbar machen
Bleibt Jacobs Argument der Ressourcen (das Justus Geilhufe unterschlägt): Weil man Gottesdienste auch nach Regionalisierungsprozessen an allen Orten in der gleichen Frequenz aufrecht erhalten müsse, bliebe zu wenig pastorale Arbeitskraft für andere Arbeitsformen und Gottesdienstformen. Dieses Problem ist nun allerdings nicht neu. In ostdeutschen Regionen haben Pfarrer:innen diese Herausforderung schon seit über zwanzig Jahren zu meistern und beantworten sie ganz kontextspezifisch in sehr unterschiedlicher Weise: von regionalen Akzentsetzungen und wandernden Formaten, die Kräfte bündeln, über selbstverantwortete Gebetsformate von Gemeindemitgliedern bis hin zu leidenschaftlichen Kleinstgottesdiensten in den Dörfern am laufenden Band. Schon 2010 hat die Liturgische Konferenz über Gottesdienst mit kleinen Zahlen gearbeitet und Gestaltungsvorschläge vorgelegt, die Kräfte sparen und liturgische Gestaltung auch im monatlichen Abstand plausibel werden lassen.
Nicht jede neue Form entgeht der Ressourcenkritik.
Natürlich braucht es die Entscheidung gegen Bisheriges, um Neues zu ermöglichen. Die Tauffeste sind dafür durchaus ein gutes Beispiel. Aber nicht jede neue Form entgeht der Ressourcenkritik und nicht jeder mit großem Aufwand vorbereitete Wohnzimmergottesdienst entspricht in Teilnahmezahlen und Zielgruppe den Erwartungen. Entscheidend wäre aber auch da nicht die reine Zahl, sondern die geistliche Qualität, die Passung von Form und Feiernden!
Ich bleibe dabei: Als Kirche ist der Gottesdienst unser zentrales Geschehen. Damit ist noch längst nicht gesagt, wer, wo, in welcher Frequenz und in welcher Weise diesen feiert. Wer etwas verändern will, müsste aber vielleicht theologisch etwas plausibler für eine Schwerpunktsetzung im konkreten Kontext argumentieren statt Kirche mit unterkomplexen Generalforderungen in der überregionalen Presse zu repräsentieren.
—
Dr. Kerstin Menzel vertritt aktuell die Professur für Praktische Theologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Aktuelle Forschungsprojekte: Habilitationsprojekt zur Öffentlichkeit des Gottesdienstes, Teilprojekt 2 der DFG-Forschungsgruppe „Sakralraumtransformation“ sowie eine Studie zu Gottesdienst & Familien in der Ev.-luth. Landeskirche Sachsens.
Bild: BPBrickLayer / pixabay
[1] Vgl. hierzu zuletzt in Kompendiengestalt Alexander Deeg / David Plüss, Liturgik (Lehrbuch Praktische Theologie 5), Gütersloh 2021.