Weshalb das Festhalten an einer starren Identität die Kirche beschädigt – fragt Bernhard Kohl OP.
Vertreter der Kirche haben Menschen aufs Tiefste verletzt und einen hohen Aufwand betrieben, den Schein der eigenen Unverletzlichkeit und Unbeflecktheit zu wahren. Die felsige Kirche hat Menschen und ihre Seelen unter sich zermahlen und Autorität in Unaufrichtigkeit und Karrieredünkel verkehrt. Um es deutlich zu sagen: ich verwende hier bewusst den kollektivierenden Begriff Kirche. Natürlich sind es vor allem Kleriker, die nun Verantwortung für die Missbräuche übernehmen müssen. Aber spätestens seit der Veröffentlichung der MHG-Studie weiß jede*r katholische Christ*in um den Zustand der Institution Kirche und muss sich zumindest die Frage gefallen lassen, wo Verantwortlichkeit oder eben auch Mitläufertum einsetzen.
Bestimmte Denkformen deformieren die Kirche.
Zunehmend wird klar, dass die massive Deformation der Kirche auch mit einem theologischen Festhalten an überkommenen metaphysischen und philosophischen Prinzipien zusammenhängt. Damit soll nicht gesagt sein, dass Philosophie Schuld an der Verletzung und am Missbrauch von Menschen trägt oder dass bestimmte philosophisch-theologische Schulen auf den Index gehörten, wohl aber, dass durch bestimmte Denkformen – vor allem in Verbindung mit Autorität und Macht – geschlossen-klerikale Strukturen befördert werden, die Verletzungen von Menschen begünstigen, Machtmissbrauch fördern und die Täter und deren Taten zu decken und vertuschen helfen. Solche Strukturen erweisen sich auf menschliche Beziehungen als höchst wirksam. Deswegen werden sie dann problematisch, wenn sie auf starken Konzepten von der einen wahren Natur, einer binären Fixierung von Geschlechtlichkeit oder auf überzeitlich angelegten Definitionen menschlicher Identitäten aufbauen. Genau das tun kirchliche Strukturen.
Priester als ontologisch veränderte Menschen?
Ein Beispiel hierfür ist die Annahme vom Priester als durch die Weihe ontologisch verändertem Menschen, einem Menschen, der sich in seinem Sein grundsätzlich von Anderen unterscheidet. Oder ein ähnlich gelagertes Beispiel aus dem Bereich der Kirche als rechtlich verfasster Institution: Warum kann der Heilige Geist im System Kirche nur anwesend sein, wenn diese strukturell einem feudalen politischen System nachempfunden ist? Warum werden rechtsstaatliche Prinzipien wie Gewaltenteilung und demokratische Mehrheitsbildungen immer noch als vermeintliche Anbiederung an den Zeitgeist aufgefasst, die automatisch von diesem Heiligen Geist und der Wahrheit entfernen? Ein letztes Beispiel: Wieso hält kirchliche Doktrin an einer starken und eindeutigen Definition des Frau- und Mannseins fest, obwohl die Ergebnisse der Humanwissenschaften hier schon länger auf einen größeren Facettenreichtum hinweisen.
Auf der Suche nach dem „Wir-wissen-es-noch-nicht“ in der Theologie.
Könnte es für die Theologie nicht sinnvoll sein ihrer Lehre zumindest ein vorsichtiges Wir wissen es (noch) nicht anstelle polarer Festlegungen voranzustellen?
Es ist klar, welche philosophischen, historischen und theologiegeschichtlichen Entwicklungen zu diesen starken und geschlossenen Definitionen führten. Als einen Grund für die Ablehnung einer rechtsstaatlichen Verfassung kann die Angst des Kirchenstaates vor den im 19. Jh. neu entstehenden Nationalstaaten gesehen werden. Diese empfand man als Bedrohung der eigenen Souveränität. Außerdem brachten die nationalstaatlichen Bewegungen Ideen wie Gewissens- und Religionsfreiheit mit sich, die die Päpste als Gipfel der Immoralität auffassten.
Eine Kirche der Selbstimmunisierung.
Somit wurden ideale Strukturen geschaffen, um eine Entvulnerabilisierung, eine vollkommene Selbstimmunisierung des Systems Kirche und seiner Amtsträger zu bewirken.
Die US-amerikanische Philosophin Judith Butler beschäftigt sich mit solchen Entvulnerabilisierungsprozessen, den Versuchen von Institutionen nach außen abgeschlossene, immune Systeme zu schaffen und zu erhalten und dem daraus resultierenden Unverwundbarkeitsdenken. Butler geht in ihren Überlegungen davon aus, dass es zunächst einmal unmöglich ist in einer Beziehung, einem Diskurs oder einer Struktur jederzeit der/diejenige zu sein, als der/die man sich ausgibt. Ein Subjekt ist in einer Beziehung oder einem Diskurs nicht jederzeit authentisch und identisch mit sich und vor allem: es kann und muss es auch nicht sein.
Der Ausschluss von Entwicklungsprozessen ist der Beginn ethischer Gewalt.
Ein permanentes Mit-sich-selbst-identisch-Sein bedeutet ein Ausschließen jedes historischen Prozesses, jeder geschichtlichen Veränderung und Entwicklung aus einem Selbst. Zum einen stellt ein solcher Ausschluss für jede in der Welt und damit geschichtlich existierende Person, Gesellschaft und Institution eine Unmöglichkeit dar. Zum anderen, und dies ist das eigentliche Argument Judith Butlers, mündet jeder Versuch eine solche unveränderbare Existenz aufzubauen und aufrechtzuerhalten in einer ethischen Gewalt.(1) Diese ethische Gewalt besteht in dem Versuch die eigene Selbstidentität jederzeit unverletzt und gleich zu vollziehen und aufrechtzuerhalten und dies auch von anderen einzufordern. Damit einher geht dann zwangsläufig die Auflösung des Wissens um eigene Grenzen, die Aufhebung der Erfahrung eigener Verletzbarkeit und letztendlich auch die Anerkennung von Begrenzung als Teil des eigenen Selbstverständnisses. Begrenzung und eigene Verletzbarkeit sind grundlegendes Zeichen von Humanität und geschichtlicher Existenz.
Begrenzungen hinnehmen als Grundlage von Identität.
Die Hinnahme dieser Begrenzungen, die das Humane definieren, steht damit am Ausgangspunkt aller Identität. Der Versuch die eigene Verletzbarkeit durch starre Wiederholung und Bewahrung von Identität zu beseitigen kann nur gewaltsam enden. Diese Gewalt führt dann dazu nur noch binär denken zu können: es kann nur eindeutig männlich oder weiblich geben; Kleriker können nicht von Laien beurteilt werden, weil sich beide grundsätzlich unterscheiden; wer nicht heteronormativ liebt, sündigt.
Entscheidend ist die Denunziation des Unmenschlichen.
Umgekehrt liegt der Schlüssel zu einer wirklich humanen Identität dann in der Art und Weise, wie auf (eigene) Verletzbarkeit und Verletzung reagiert wird. Gerade das Zerbrochene und Unmenschliche bietet, um es noch einmal mit Butler zu formulieren, einen kritischen Ausgangspunkt für die Analyse jener gesellschaftlichen und institutionellen Bedingungen, unter denen das Menschliche formiert und deformiert, konstruiert und dekonstruiert wird. Als Menschen wissen wir nicht, was das absolut Gute, was die absolute Norm, ja auch nur, was der Mensch oder das Menschliche und die Humanität sei, aber was das Unmenschliche ist, das wissen wir sehr genau. Deswegen ist so etwas wie Identität nur über die via negativa zu suchen und in der Denunziation des Unmenschlichen zu finden, nicht in einer abstrakten Festlegung.
Deswegen möchte ich vorschlagen, Identität und Leben quasi-ontologisch als prekär, verletzbar oder gefährdet zu begreifen, wobei diese Verletzbarkeit keine unveränderliche Substanz darstellt, sondern sich immer neu unter konkreten historischen Gegebenheiten und Situationen formiert.(2)
Kirche als Gemeinschaft der Verletzbaren.
Was kann die Anerkennung ihrer eigenen Verletzbarkeit, Verletztheit und Deformation nun für die Struktur, für das System Kirche bedeuten? Eine gemeinsame Vorstellung von Kirche könnte in ihrer Verletzbarkeit gründen. Diese Verletzbarkeit entsteht mit dem Leben der Kirche als Gemeinschaft von Menschen selbst.
Reinheitsdenken als Verblendung.
Damit ist sie Bedingung und Voraussetzung des Kirche-Seins und geht der Ausbildung jeder dogmatischen oder kirchenrechtlichen Fixierung voraus.
Deformiert wird die Institution Kirche in diesem Verständnis durch nicht übernommene Verantwortung für die von ihren Vertreter*innen begangenen Verletzungen; durch das Bevormunden der Opfer; durch metaphysische Denkweisen, die sie und ihre Vertreter in einem geschlossenen System verbarrikadieren. Kurz: das gewaltvolle Aufrechterhalten eines Identitäts- und Reinheitsdenkens kann sich für die Institution Kirche nur als Verblendung erweisen.
Nicht beschädigen, sondern näher an ihren jesuanischen Ursprung heranführen würde Kirche die offene Anerkennung ihrer ureigenen Vulnerabilität und Verletztheit. Dadurch würde sie zu einer weihnachtlichen oder inkarnatorischen Kirche, zu einer Kirche, die ihre historischen Veränderungen und Beschädigungen offen annehmen kann, ohne den Drang zu verspüren eine unbefleckte Identität über alle Zeiten hinweg bewahren zu müssen.
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Autor: Bernhard Kohl OP, Dr. theol. (geb. 1977), Assistant Professor am St. Michael’s College, University of Toronto, Kanada.
Foto: Dylan Colette / unsplash.com
(1) Vgl. hierzu Judith Butler, Kritik der ethischen Gewalt. Erweiterte Ausgabe, Frankfurt a.M. 2007.
(2) Vgl. hierzu Bernhard Kohl, Die Anerkennung des Verletzbaren Eine Rekonstruktion der negativen Hermeneutik der Gottebenbildlichkeit aus den Anerkennungstheorien Judith Butlers und Axel Honneths und der Theologie Edward Schillebeeckx’, Würzburg 2016.