Seit mehr als dreissig Jahren brodelt es mehr oder weniger offensichtlich im Bistum Chur. Im Moment brodelt es eher mehr. Es ist Zeit, die Leidensgeschichte der Churer Diözesanen zu erzählen – es ist eine Geschichte des Ausgeliefertseins einer römisch-katholischen Ortskirche an Bischöfe, mit ungewissem Ausgang. Ein Beitrag von Eugen Koller, Eva-Maria Faber und Hella Sodies.
Wiederholt sich Geschichte, oder verlängert sie sich? 30 Jahre und ein Tag nach jenem 17. Juni 1990, an dem ungefähr 7000 Katholikinnen und Katholiken in Chur gegen den Amtsantritt von Bischof Wolfgang Haas protestierten, steht am 18. Juni 2020 vor dem bischöflichen Schloss in Chur wieder eine Schar von fast 100 Engagierten, im Gepäck Unterschriften von knapp 4000 Menschen, die eine Petition gegen die fristlose Absetzung des Urschweizer Delegierten des Apostolischen Administrators, Martin Kopp, durch den Apostolischen Administrator Peter Bürcher unterschrieben hatten. Dieser hatte sich vor ca. einem Jahr als Brückenbauer angekündigt – mit dem Vorsatz zuzuhören und keine weiterreichenden Entscheide zu treffen. (Dabei bräuchte das Bistum eine Erlösung von den 30jährigen Altlasten, von denen unten noch die Rede sein wird). Am 18. März 2020 aber setzte Bürcher den seit 17 Jahren als Generalvikar in der Urschweiz wirkenden Martin Kopp kurz vor dessen gesundheitsbedingtem Rücktritt ab.
Martin Kopp kurz vor dessen gesundheitsbedingtem Rücktritt abgesetzt
Diese Massnahme kurz nach dem Corona-Lockdown löste eine grosse Welle der Empörung aus. Die Zürcher Theologin und Spitalseelsorgerin Veronika Jehle lancierte eine Petition, die einen anderen Umgang bei Konflikten, das offene Wort in der Kirche und die Wiedereinsetzung von Martin Kopp forderte. 3865 Personen aus der ganzen Deutschschweiz unterschrieben diese Petition; davon fügten 1510 Personen ihrer Unterschrift zum Teil umfangreiche Kommentare hinzu, um ihr Unverständnis über die Absetzung eines verdienten, überzeugenden Kirchenmannes und die mangelnde Konfliktkultur zum Ausdruck zu bringen. Weitere (ca. 150) Personen wandten sich in persönlichen Briefen an den Administrator. Darüber hinaus gelangten zahlreiche Leserbriefe und Verlautbarungen von Dekanaten an die Öffentlichkeit.
Bruch der Loyalität?
Ein inhaltlicher Grund für die Entlassung von Martin Kopp war eine Wortmeldung Kopps zu der in Chur seit über einem Jahr ausstehenden Entscheidung über die Bischofsnachfolge. Kopp hatte sich entgegen der Weisung des Administrators gegenüber Medien zu diesem Thema geäussert. Peter Bürcher begründete die Entlassung mit dieser Äusserung, in der er eine Illoyalität wahrnahm. Ende März legte der Apostolische Administrator nach und gab eine «Antwort an alle auf ihre zustimmenden und ablehnenden Reaktionen betreffend den Widerruf der Delegation von Vollmachten und Befugnissen von Dr. Martin Kopp». Die anstehende ordnungsgemässe Bischofswahl sei durch den Bruch der Loyalität gefährdet gewesen. Weiter schrieb er: «Es ist leider nicht von der Hand zu weisen, dass die Instrumentalisierung der Medien, des Staates und der öffentlichen Meinung (Petitionen) zur Durchsetzung der eigenen Position im Bistum Chur seit den Zeiten von Bischof Wolfgang Haas eine unselige Tradition darstellt. Die Ernennung eines Apostolischen Administrators, der das Bistum im Namen des Papstes leitet, war das Zeichen, dass jetzt Zeit ist, damit aufzuhören. Es ist jederzeit möglich, direkt an den Bischof zu gelangen. … Mediale Kampagnen und politische Druckmittel sind und bleiben jedoch in der Kirche etwas Ungehöriges, das spaltet und verletzt.»
Wolfgang Haas – eine lange Leidensgeschichte im Bistum Chur
Mit dem hier genannten Namen von Wolfgang Haas rührt der Administrator an eine lange Leidensgeschichte im Bistum Chur, die hier nur in Stichworten erinnert werden kann. Die Einsetzung von Weihbischof Wolfgang Haas als Koadjutor mit Nachfolgerecht 1988 und seine Ernennung als Diözesanbischof 1990 hatte das Bistum Chur in eine tiefgreifende Krise manövriert, die auch durch die Einsetzung zweier Weihbischöfe 1993 nicht überwunden wurde. Erst die Versetzung von Wolfgang Haas in das eigens errichtete Erzbistum Liechtenstein 1997 ermöglichte unter dem neuen Diözesanbischof Amédée Grab vorübergehend Ruhe, doch ohne nachhaltige Bearbeitung der entstandenen Konfliktpotenziale.
Amtszeit von Vitus Huonder erneut durch Polarisierungen geprägt
Dies zeigte sich unter seinem Nachfolger Vitus Huonder, dessen Amtszeit erneut durch Polarisierungen geprägt war. Er favorisierte Leute des konservativen Flügels, nicht zuletzt im Priesternachwuchs. Durch Verlautbarungen zum Thema Homosexualität und irritierende pastorale Entscheidungen geriet er über das Bistum hinaus ins Kreuzfeuer der Kritik. Für viele war es ein Schock, als 2017 seine Amtszeit über seinen 75. Geburtstag hinaus zwei Jahre verlängert wurde. Wes Geistes Kind er war, zeigte sich, als er sich nach seiner Emeritierung bei der Piusbruderschaft einquartierte, «um ausschliesslich die traditionelle Messe zu feiern und für die Tradition zu wirken, worin er das einzige Mittel zur Erneuerung der Kirche erkennt» (gemeinsames [!] Communiqué des emeritierten Bischofs Huonder und des Generaloberen der Priesterbruderschaft St. Pius X vom 20. Mai 2019). Die Diözesanen mussten den Eindruck gewinnen, dass sie über zehn Jahre hinweg dem Versuch des Bischofs ausgesetzt waren, sein Bistum nach Idealen dieser Bruderschaft zu formen.
Apostolischer Administrator Peter Bürcher will als „Diener“ den Angehörigen des Bistums zuhören
Der am 20. Mai 2019 ernannte Apostolische Administrator Peter Bürcher sollte nach Wunsch des Papstes einige Monate wirken. In einer Begrüssungsbotschaft stellte er sich vor, als «Diener», der den Angehörigen des Bistums zuhören will. Weiterhin drückte er seine Vorfreude auf «Begegnungen und den Austausch mit den Katholiken des Bistums» aus. Erfahren wurde dann jedoch eher Stillstand und ausbleibende versöhnende Kommunikation.
Mitten in der Erfahrung der Ohnmacht, keinen echten Einfluss auf die Zukunft des Bistums zu haben, wächst der Widerstand.
Was nun im Frühjahr 2020 an Bewegung von der Basis geschah, ist erstaunlich, hatten sich doch viele Katholikinnen und Katholiken, eingeschlossen Seelsorgende, nach zahlreichen negativen und enttäuschenden Erfahrungen eher in eine innere Emigration zurückgezogen. Die entstandene Bewegung lässt sich nur dadurch erklären, dass die bald zu erwartenden Entscheidungen über die Bischofsnachfolge Kräfte mobilisieren – mitten in der Erfahrung der Ohnmacht, keinen echten Einfluss auf die Zukunft des Bistums zu haben, wächst der Widerstand. Es wäre nicht auszudenken, was geschähe, wenn für die Nachfolge im Bischofsamt nicht eine überzeugende und integrierende Persönlichkeit gefunden werden könnte. Dies macht für die meisten Diözesanen auch unverständlich, warum über Kriterien der Bischofsnachfolge und über ein sinnvolles Verfahren nicht offen gesprochen werden sollte. Insofern überzeugte der für die Absetzung von Martin Kopp genannte Grund so wenig, dass die erwähnte Petition durchschlagenden Erfolg hatte.
Mitten in der Coronazeit erfolgten Vernetzungen
Neben der Petition entstand durch die engagierte Gruppe «Vielstimmig Kirche sein», ein loser Zusammenschluss von Seelsorgenden und weiteren um die Zukunft des Bistums besorgten Menschen, ein ergänzendes Projekt: Videobotschaften von ca. zwei Minuten wurden auf einer Website (https://sites.google.com/view/vielstimmigkirchesein) aufgeschaltet. 42 Personen gaben ihre Meinung zu den Ereignissen ab und formulierten Visionen für eine andere Kirche. Mitten in der Coronazeit erfolgten Vernetzungen über eine Whats-App-Gruppe und über Videokonferenzen. Weitere Akteure, wie die Präsidentin des Schweizerischen Katholischen Frauenbundes, Mitglieder des Lehrkörpers der Theologischen Hochschule Chur, der Frauenkirche Zentralschweiz u.a., kamen dazu.
Bisher letzter Akt des Dramas: ein Pilgerweg von Zürich nach Chur
Verschiedene Versuche, mit dem Administrator Peter Bürcher das Gespräch zu suchen, blieben erfolglos. Dies gilt auch für den bisher letzten Akt des Dramas: ein Pilgerweg von Zürich nach Chur zwecks Übergabe der Petition an den Apostolischen Administrator, der über das Vorhaben am 1. Juni informiert wurde. Daran sollte sich eine Dankesfeier für Martin Kopp anschliessen.
Veronika Jehle startete am 13. Juni 2020 in Zürich mit weiteren Pilgerinnen und Pilgern in Richtung Chur und lief mit insgesamt 29 Personen, darunter auch Martin Kopp, in fünf Tagesetappen nach Chur, wo am 18. Juni vor der Kathedrale mit rund 90 Personen ein öffentliches, halbstündiges Gebet für einen guten Bischof stattfand. Über den Mediensprecher war die Pilgergruppe am Vorabend der Petitionsübergabe orientiert worden, dass Peter Bürcher die Petition anderntags nicht entgegennehmen, sondern seine Kanzlerin schicken würde. Er weile in Schwyz und habe eine Bischofsratssitzung per Videokonferenz. Er liess verlauten: «Der Bischof betrachtet auch die Übergabe Ihrer Petition als politisches Druckmittel, um durch Instrumentalisierung der Medien und der öffentlichen Meinung die eigene Position durchzusetzen. Er lädt alle ein, gemeinsam andere und neue Wege zu finden, die zu einem wahren Dialog führen können.»
Eine verlegen wirkende Kanzlerin und ihr Sekretär nahmen die Petition kommentarlos entgegen. Vor der Kirche St. Luzi des Priesterseminars wurde Martin Kopp unter langanhaltendem Applaus der ihm gebührende Dank ausgesprochen. Dieser wünschte sich einmal mehr einen Bischof, der das Bistum lehrt, aufeinander zu hören.
Die Churer Katholik*innen warten weiterhin: auf einen Menschen, der in der Lage ist, das Bistum menschlich und geistlich zu leiten. Einstweilen leben sie Kirche, vielstimmig, widerständig, lebendig.
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Eugen Koller ist Theologe im Bistum Chur, Mantelredaktor Pfarreiblatt Uri Schwyz, Psychiatrieseelsorger Sanatorium Kilchberg.
Eva-Maria Faber ist Professorin für Dogmatik und Fundamentaltheologe an der Theologischen Hochschule Chur.
Hella Sodies ist Theologin, Seelsorgerin und Pfarreileiterin in solidum Greifensee.
Im Auftrag und mit Unterstützung der Gruppe «Vielstimmig Kirche sein».
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