Sie gilt als „future skill“, als zentrale Fähigkeit für Gegenwart und Zukunft. Helga Kohler-Spiegel beschäftigt sie häufig: die Ambiguitätstoleranz.
Ambiguität wird abgeleitet vom Lateinischen ambiguitas – übersetzt mit „Zweideutigkeit, Doppeldeutigkeit“, oder vom Verb ambigere – „entzwei, uneins sein, zweifeln“, bzw. vom Adjektiv ambiguus – „zweifelhaft, entzwei“. Ambiguitätstoleranz meint also die Fähigkeit, Uneindeutiges, Mehrdeutiges, Mehrdeutigkeiten und Widersprüchliches zu ertragen und auszuhalten. Sie meint die Fähigkeit, in unbekannten, auch unsicheren, widersprüchlichen Situationen nicht auszuweichen oder ablehnend zu reagieren, sondern auszuhalten, weiter zuzuhören…
Ambiguitätstoleranz verlangt Beschäftigung mit sich selbst.
Es ist anspruchsvoll und bedarf der Beschäftigung mit sich selbst, mit der eigenen Persönlichkeit, dem eigenen Selbstwert und Selbststand, um uneindeutigen, unsicheren, widersprüchlichen Situationen oder ebensolchen Sichtweisen mit „Aushalten“ und „Standhalten“, mit „innerer Toleranz“ und „Gelassenheit“ begegnen zu können. Es ist anspruchsvoll, z.B. bei einem Partner, einer Partnerin, bei Eltern oder bei Führungspersonen und Kolleg:innen im beruflichen Alltag verschiedene Eigenschaften gleichzeitig wahrnehmen und aushalten zu können, bei Ungewohntem und Fremdem gleichzeitig Positives und Negatives, Anregendes und Belastendes und Widersprüchliches sehen zu können. Szenen tauchen bei mir auf, die die Bedeutung dieser Fähigkeit deutlich machen. Ich denke in Paarbeziehungen an die Herausforderung, sich aufeinander einzulassen und einander zu vertrauen, Nähe und Intimität zu leben und zugleich auf Momente von Fremdheit nicht mit Ärger oder Enttäuschung oder Rückzug, sondern mit liebevollem Interesse zu reagieren.
Ich denke an #OutInChurch, an die Menschen, die mit ihrer Initiative, ihrem Manifest und zusammen mit allen Unterstützer:innen deutlich machen, dass die Diskriminierung von LGBTIQ+ Personen innerhalb der katholischen Kirche nicht weiter fortgeschrieben, sondern korrigiert werden muss. Diversität braucht die Fähigkeit, die Vielfalt, die Verschiedenheit und die Mehrdeutigkeit menschlichen Lebens und Liebens auszuhalten. Ich denke an gesellschaftliche Prozesse, wie sie z.B. im Umgang mit der Covid-Pandemie sichtbar wurden, wenn Menschen – nach dem Zusammenhalt der ersten Monate – im Laufe der Zeit Mühe haben, Unsicherheit und Mehrdeutigkeit auszuhalten.
Nicht-Ertragen-Können von Mehrdeutigkeit.
„Entdeckt“ wurde die Ambiguitätstoleranz von Else Frenkel-Brunswik. Sie wurde 1908 als Kind jüdischer Eltern in Lemberg (Österreich-Ungarn) geboren, bereits 1914 musste die Familie wegen eines Pogroms nach Wien flüchten, sie studierte Mathematik, Physik und Psychologie und ließ sich zur Psychoanalytikerin ausbilden. 1938 flüchtete sie vor den Nationalsozialisten in die USA und arbeitete dort (zusammen mit Theodor Adorno und anderen Forscher:innen) zur „Autoritären Persönlichkeit“. 1949 veröffentlichte sie ihre Arbeit zur „Ambiguitätstoleranz“, indem sie das Nicht-Ertragen-Können von Mehrdeutigkeit als „Ambiguitätsintoleranz“ beschreibt: Eine starre, unflexible Haltung geht einher mit der Unfähigkeit zum Perspektivwechsel, andere Sichtweisen können nicht bzw. nur schwer eingenommen werden, komplexe Sachverhalte irritieren und werden abgelehnt. Psychoanalytisch kann diese Intoleranz als Abwehrmechanismus verstanden werden, negative Einstellungen gegenüber Anderem und Fremden gehen oft damit einher. Gemessen wird die Ambiguitätstoleranz vor allem mit dem „Inventar zur Messung der Ambiguitätstoleranz IMA-40“.
Ambiguitätstoleranz kann erlernt werden.
Lange Zeit wurde Ambiguitätstoleranz als statisches Persönlichkeitsmerkmal verstanden, heute kommt verstärkt in den Blick, dass sie gelernt werden kann und somit auch gefördert werden muss. Wer mit Menschen arbeitet, wer mit Menschen beruflich wie privat zu tun hat, tut gut daran, Mehrdeutigkeiten auszuhalten und auch in widersprüchlichen Situationen freundlich zu bleiben. Die Beispiele sind zahlreich: wenn das Geschlecht unklar ist und wir nicht wissen, ob wir jetzt Herr oder Frau N. sagen sollen. Wenn die Informationen so vielfältig und widersprüchlich sind, dass wir sie nicht mehr eindeutig zuordnen können, dass wir – anstatt die komplexe Mehrdeutigkeit auszuhalten – mit Ablehnung, Reduktion der Komplexität und/oder Rückzug reagieren.
Die Reduktion soll der Komplexitätsminderung dienen, z.B. durch Fixierung auf einzelne Informationspersonen und/oder Informationsquellen mit einfachen Botschaften. Die Ablehnung kann den Inhalten oder den damit verbundenen Personen gelten, diese Ablehnung kann sich als Rückzug oder mit aggressivem Verhalten zeigen. Sie führt dazu, niemanden mehr zu vertrauen, generelles Misstrauen vor allem gegenüber Autoritäten ist das Ergebnis. Durch die Ablehnung von Autoritäten im gemeinsamen Zusammenleben werden die einzelne Person und ihre eigene Meinung, ihre Sichtweisen, ihre Einschätzungen und Gefühle zur Norm, zur „Autorität“.
Ambiguitätstolerante Menschen halten es aus, dass Gefühle, Eigenschaften von Menschen, Verhaltensweisen, Informationen u.v.m. widersprüchlich sein können, sie halten das „Sowohl – als auch“ aus. Und immer wieder geht es darum, Abweichungen vom „gefühlt Normalen“ zu akzeptieren und handlungsfähig zu bleiben, also nicht in Ablehnung oder Abwertung oder ins Misstrauen zu gehen, sondern – groß gesagt: Unsicherheit und Unberechenbarkeit des Lebens zu ertragen.
Auf dem Balancebrett.
Mehrdeutigkeiten zu ertragen gilt als „future skill“. Wir werden mehr denn je aushalten müssen, dass Wahrnehmungen, Gefühle, kognitive Einschätzungen u.a. nicht eindeutig, sondern „sowohl – als auch“ sind, logisch und zugleich eigenartig, mitvollziehbar und zugleich ungewohnt, beängstigend und zugleich sinnvoll… Wir werden mehr denn je diese Unsicherheit aushalten lernen, widerstreitende Gefühle, verschiedene Sichtweisen und Spannungen, offene Situationen – und dennoch wohlwollend bleiben. Mir hilft das Bild: Es ist wie auf einem Balancebrett.
Es ist anspruchsvoll und spannend, von vermeintlicher Eindeutigkeit Abschied zu nehmen, immer wieder auszubalancieren, was das Leben wackelig und mehrdeutig und vielfältig und bunt macht. Wir stehen nicht ständig auf dem Balancebrett, aber es ist hilfreich, beweglich und aufmerksam und konzentriert und geduldig die offenen und mehrdeutigen Situationen im Leben wahrnehmen und ausbalancieren zu können. Balance- oder Wackelbretter stärken das Gleichgewicht, die Koordination und die Reaktionsfähigkeit, sie stärken die Tiefenmuskulatur des Körpers und ermöglichen so, mit mehr Kraft, mehr Körperspannung im Leben zu stehen und beugen Verspannungen und Schmerzen vor. So ähnlich ist das mit der „Ambiguitätstoleranz“. Ich habe mir sicherheitshalber ein Balancebrett angeschafft…
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Text: Dr. Helga Kohler-Spiegel, Professorin für Human- und Bildungswissenschaften an der Pädagogischen Hochschule Vorarlberg und Redakteurin von feinschwarz.net.
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