Die Katholische Kirche steht vor der Aufgabe, den sogenannten Missbrauchsskandal aufzuarbeiten. Sie ist nicht die erste Institution, die sich der Aufarbeitung belastender Vergangenheiten stellen muss. August H. Leugers-Scherzberg fragt, was sich aus anderen Aufarbeitungsprozessen lernen lässt.
Eine Forschergruppe der Universität Rostock, die den sexuellen Missbrauch an der Odenwaldschule und den Umgang der Schulleitung damit nach dem Bekanntwerden der Vorwürfe untersucht hat, kam – so berichtete kürzlich das hessische Sozialministerium – zu dem Ergebnis: „Die Odenwaldschule konnte keine Zukunft haben, weil sie sich nicht der Aufarbeitung der Verbrechen stellte“.[1] 2015 wurde die bis 2010 hoch angesehene Vorzeigeschule der Reformpädagogik geschlossen und an einen Investor verkauft, der dort einen Wohn- und Ferienpark errichten will.
Wenn die Vergangenheit keine Ruhe mehr gibt
Das Vergangene ruhen zu lassen, hatte bis 2010 in der Odenwaldschule scheinbar gut funktioniert. 1999 hatten Opfer und ehemalige Lehrer in der Frankfurter Rundschau über das System des sexuellen Missbrauchs an der Odenwaldschule ausführlich berichtet.[2] Doch schien das damals niemanden – außer ein paar gesellschaftlichen Außenseitern – zu interessieren oder gar aufzuregen.
Odenwaldschulde und Canisius-Kolleg
Erst nachdem Klaus Mertes im Januar 2010 den sexuellen Missbrauch am Berliner Canisius-Kolleg öffentlich gemacht und damit den sogenannten Missbrauchsskandal in der Katholischen Kirche ins Rollen gebracht hatte, wurde auch über die Odenwaldschule eingehend berichtet. Aber auch in der Folgezeit kam es nicht zu einer konsequenten Aufarbeitung.
Einerseits hat die Aufarbeitung der Verbrechen der Vergangenheit mit Blick auf die Opfer eine individuelle Seite. Sie hat aber auch eine eminent politische und gesellschaftliche Bedeutung. So trug die Aufarbeitung des NS-Unrechts in Deutschland nach 1945 wesentlich zur Fundierung und Stabilisierung der Demokratie in Deutschland bei – zunächst durch das Nürnberger Militärtribunal der Alliierten, das die Grundlage für eine juristische Ahndung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuf.
Öffentliche Gerichtsbarkeit bildet einen verbindlichen Rahmen zur moralischen Beurteilung schwerer Schuld.
Gleichzeitig wurde dadurch ein allgemeingültiger Orientierungsrahmen zur Beurteilung der moralischen Qualität des NS-Regimes konstituiert, der der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem NS-Regime in der Bundesrepublik die Richtung wies. Schließlich folgte die wissenschaftliche Aufarbeitung, die sich in zunehmendem Maße bemühte, alle Aspekte der NS-Herrschaft auszuleuchten und bei der kein Ende abzusehen ist. Aufarbeitung der Vergangenheit und die Forderung, nun doch endlich einen Schlussstrich zu ziehen, sind nicht miteinander zu vereinbaren.
Entscheidend: die Unabhängigkeit der Aufarbeitung
Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts 1989/90 wurde die Aufarbeitung der (Menschenrechts-)Verbrechen von Unrechtsregimen zum zentralen Element einer globalen Demokratisierungspolitik. Menschenrechtsbewegungen forderten sowohl strafrechtliche Verfolgung als auch umfassende Aufklärung, wie es zur Errichtung des Unrechtsregimes kommen und mit wessen Hilfe es seine Gewaltherrschaft ausüben konnte. Nur durch Gerechtigkeit, Erinnerungsarbeit und Wahrhaftigkeit lasse sich Versöhnung erlangen. Diese Ziele seien nur durch eine unabhängige juristische und sozialwissenschaftliche Aufarbeitung zu erreichen. Dies wurde von den Vereinten Nationen aufgegriffen und unterstützt.
Eine konsequente unabhängige Aufarbeitung der Vergangenheit – so die Erkenntnis aus den Aufarbeitungsprozessen des 20. Jahrhunderts – stelle die Voraussetzung für eine dauerhafte Demokratisierung und Etablierung von Rechtsstaatlichkeit dar.
Eine konsequente unabhängige Aufarbeitung der Vergangenheit – so die Erkenntnis aus den Aufarbeitungsprozessen des 20. Jahrhunderts – stelle die Voraussetzung für eine dauerhafte Demokratisierung und Etablierung von Rechtsstaatlichkeit dar. Denn der dadurch erzielte gesellschaftliche Konsens in der Verurteilung von Gewaltpolitik schütze vor einem Rückfall in autoritäre Herrschaft.[3] Die „Auseinandersetzung über den richtigen Umgang mit der gewaltsamen Vergangenheit“ wurde nach 1989/90 das Feld, auf dem „grundlegende normative Vorstellungen“ nationaler und internationaler Politik ausgehandelt wurden.[4]
Halbherzige Aufarbeitung kann zum Kollaps der Institution führen.
Wenn heute „Vergangenheitsbewältigung“ von Populisten und Autokraten weltweit vehement verbal und symbolisch-politisch angegriffen wird, dann deshalb, weil sie den Prozess der Demokratisierung, die Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit und die Gewährleistung liberaler Freiheitsrechte zurückdrehen wollen. Vergangenheitsaufarbeitung läuft der gegenwärtigen populistischen Renationalisierung und Aushöhlung liberaler Rechtsstaatlichkeit diametral entgegen.
Institutionen neigen dazu, aus Angst vor negativen Konsequenzen die konsequente Aufarbeitung belastender Vergangenheiten zu vermeiden. Das konnte man geradezu in klassischer Weise am Schicksal der Odenwaldschule studieren. Die nur halbherzig betriebene Aufarbeitung führte schließlich zum Zusammenbruch dieser Institution.
Die Angst vor den Konsequenzen
Handelte es sich bei der Odenwaldschule um eine Einzelinstitution, so ist die Problematik bei Großinstitutionen nicht grundlegend verschieden. Angst vor dem Verlust des Renommees der Institution finden wir auch hier, aber auch Angst vor den Konsequenzen für die verantwortlichen Leiter, deren Unterlassungen, wenn nicht justiziabel, so doch moralisch zu verurteilen sind. Handelt es sich bei einer Einzelinstitution eher um eine einzelne Leitungsperson, so haben wir es in Großorganisationen mit einem ganzen Netzwerk von belasteten Leitungspersonen zu tun.
„Institutionelle Geheimnisse“ wirken auf lange Dauer nach.
Die Angst vor den Konsequenzen für Institution und Leitungspersonal bestimmt heute auch das Agieren der Katholischen Kirche. Die erstinstanzlichen Verurteilungen der Kardinäle Barbarin und Pell dürften diese Angst noch verstärkt haben. Sie bestimmt aber auch das Verdrängen und die mangelnde Aufklärungsbereitschaft gegenüber sexueller Gewalt in der Evangelischen Kirche, den Sportverbänden und nicht zuletzt auch den Universitäten.
„Institutionelle Geheimnisse und nicht aufgearbeitete Fälle sexualisierter Gewalt,“ so haben Ursula Enders und Thomas Schlingmann in ihrer Studie über „Nachhaltige Aufarbeitung aktueller Fälle sexuellen Missbrauchs“ festgehalten, „beeinträchtigen u. U. die Arbeit über Jahrzehnte. Insofern ist eine nachhaltige Aufarbeitung sexualisierter Gewalt – auch wenn dies ein schmerzhafter Prozess ist – immer auch im Sinne der Institution selbst.“[5] Wem die katholische Kirche wirklich am Herzen liegt, muss sich für eine konsequente Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs einsetzen.
Wie muss eine Aufarbeitung in der Kirche aussehen, die diesen Namen verdient?
Es wird in der katholischen Kirche eine Aufarbeitung des „Missbrauchsskandals“ geben. Die Kinderschutzkonferenz in Rom und die Frühjahrskonferenz der Deutschen Bischöfe in Lingen haben dies beteuert. Doch wie muss eine Aufarbeitung aussehen, die diesen Namen verdient? Sie muss in erster Linie durch Organe erfolgen, die von der Kirche unabhängig sind und die sowohl eine umfassende juristische als auch (sozial-)wissenschaftliche Aufarbeitung des Unrechts leisten. Das entspricht den allgemeinen Standards einer Vergangenheitsaufarbeitung in Postkonfliktgesellschaften und ist der einzig zukunftsträchtige Weg.
Doch es ist zweifelhaft, ob dieser Weg beschritten wird. Denn er beinhaltet zum einen, dass gegenwärtige Leitungspersonen als Täter und Vertuscher disziplinarisch und moralisch zur Rechenschaft gezogen werden, zum anderen, dass das System absolutistischer Herrschaft in der Katholischen Kirche in einem Prozess der Implementierung von Rechtsstaatlichkeit überwunden wird.
Immer noch im Trend: Aufarbeitung in Eigenregie
Viele Zeichen, die von den Verantwortlichen nach der Kinderschutzkonferenz in Rom und der Lingener Frühjahrskonferenz der Deutschen Bischöfe gegeben wurden, deuten darauf hin, dass die Kirche – wie schon in der Vergangenheit – zu einer Bewältigung in Eigenregie tendiert. Bei der von Kardinal Marx in Aussicht gestellten kirchlichen Verwaltungsgerichtsbarkeit ist nicht klar, ob sie eine wirklich unabhängige Gerichtsbarkeit werden soll. Der von den Bischöfen ins Auge gefasste „synodale Weg“ soll zur Diskussion über den Zölibat, die kirchliche Sexualmoral und über klerikalen Machtmissbrauch führen. Das ist sicherlich löblich.
Viele Zeichen, deuten darauf hin, dass die Kirche – wie schon in der Vergangenheit – zu einer Bewältigung in Eigenregie tendiert.
Doch der entscheidende Punkt wird sein, ob die vom unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung für Missbrauchsfälle geforderte und in Lingen von Bischof Ackermann in Aussicht gestellte unabhängige Aufarbeitungskommission zustande kommt. Bis Ende Mai soll es hier zu richtungsweisenden Entscheidungen kommen. Wenn kein wirklich von der Kirche unabhängiges Organ zur Aufarbeitung sexueller Gewalt in der Kirche geschaffen wird, sondern – wie mit der Bonner Kommission für Zeitgeschichte bei der Aufarbeitung der kirchlichen Verstrickungen in den Nationalsozialismus – ein apologetisches Institut, wird der derzeitige Aktionismus in eine kirchliche Vergangenheitspolitik münden, die lediglich dazu dient, das System autoritärer Herrschaft aufrechtzuerhalten.
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Dr. August H. Leugers-Scherzberg ist Privatdozent für Neuere Geschichte an der Universität Duisburg-Essen und Mitherausgeber der Zeitschrift theologie.geschichte.
Bild: Claudia Hautumm / pixelio.de
[1] Pressestelle des Hessischen Ministeriums für Soziales und Integration (Hg.) (2019): Studien zur Aufarbeitung der Vorfälle an der Odenwaldschule vorgestellt. Online verfügbar unter https://soziales.hessen.de/presse/pressemitteilung/studien-zur-aufarbeitung-der-vorfaelle-der-odenwaldschule-vorgestellt-0, zuletzt aktualisiert am 22.02.2019, zuletzt geprüft am 16.03.2019
[2] Jörg Schindler, Der Lack ist ab, in Frankfurter Rundschau vom 17. November 1999, online verfügbar unter: https://www.fr.de/politik/lack-11620273.html
[3] Stefan Peters, Die Zukunft der Vergangenheit in Lateinamerika, in: ders. u.a. (Hg.), Geschichte wird gemacht. Vergangenheitspolitik und Erinnerungskulturen in Lateinamerika, Baden-Baden 2015, S. 194
[4] Eva Ottendörfer, Die internationale Politik der Vergangenheitsaufarbeitung. Global-lokale Interaktion in Timor-Leste, Baden-Baden 2016, S. 16
[5] In: Jörg Fegert, u.a. (Hg.), Schutz vor sexueller Gewalt und Übergriffen in Institutionen, Berlin/Heidelberg 2018, S. 309