Robert Mucha denkt über Glaube auf dem Weg vom Prä-Pubertären zum Post-Infantilen nach, fordert zum Erwachsenwerden auf und damit zum Aushalten von Ungewissheit.
In jener Stunde kamen die Jünger zu Jesus und fragten: Wer ist denn im Himmelreich der Größte? Da rief er ein Kind herbei, stellte es in ihre Mitte und sagte: Amen, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht in das Himmelreich hineinkommen. Wer sich so klein macht wie dieses Kind, der ist im Himmelreich der Größte. Und wer ein solches Kind in meinem Namen aufnimmt, der nimmt mich auf. (Mt 18,1-5)
Als mir dieser Text neulich bei der Bibellektüre begegnete, hielt ich inne. „Na bravo, Jesus!“, dachte ich, „Ziel erreicht: Sind ja alle infantil geworden.“ Ich legte die Bibel zur Seite und fragte mich, warum Jesus das Kind den Jünger:innen als Parademodell fürs Himmelreich vorstellt. Warum haben ausgerechnet die Kinder einen direkteren Zugang? Ist es die Unschuld (Jesus hatte die augustinische Erbsündentheologie ja noch nicht im Hinterkopf…) oder die Verletzlichkeit (Kinder waren der gefährdetste Personenkreis in einer antiken Gesellschaft)? Wie auch immer: eines konnte er nicht wollen, weil es seine gesamte Lehre konterkarieren würde: das Infantile auf ein Podest heben. Nein, nichts lag Jesus ferner als eine „Heiligsprechung“ des Infantilen.
Erwachsen glauben – wie geht das?
Häufig unterscheiden wir zwischen „Kinderglaube“ und „reifem Glauben“, ohne genauer zu definieren, was das eine oder andere ist. Kinderglaube ist dabei gewöhnlich der naive, wortwörtliche Glaube – etwa an eine Schöpfung durch einen „lieben Gott“ in sieben Tagen. Um bei diesem Beispiel zu bleiben: Wir erwarten heute schlicht, dass man diesen Glauben übersteigt und als weiteres Referenzsystem die Wissenschaft zu Wort kommen lässt. Nun lehrt uns aber nicht zuletzt die Coronapandemie, dass man eine Antwort auf die Frage, wie man das Verhältnis von Glaube und Wissenschaft verstehen sollte, nicht einfach so „hat“, sondern erlernen muss. Wir gehen wie selbstverständlich davon aus, dass man einfach irgendwann erwachsen „wird“, aber übersehen, dass das Erwachsenwerden nicht nur ein fortdauernder Prozess (körperlich wie geistig), sondern auch eine Entscheidung ist: Ich muss mich selbst als erwachsen ansehen und definieren wollen. Ein Beispiel für einen Peter-Pan-artigen „Erwachsenen“, der wohl niemals diese bewusste Entscheidung treffen wollte oder konnte, ist Michael Jackson, dessen Neverland-Phantasien viele Menschen irritiert zurückgelassen haben. Was zeichnet also „erwachsenen Glauben“ aus und warum ist er gut und hilfreich? Dazu möchte ich drei Thesen formulieren.
1. Erwachsener Glaube hält Ungewissheit und Uneindeutigkeit aus.
Die in Berlin lebende amerikanische Philosophin Susan Neiman beschreibt in ihrem Buch „Warum erwachsen werden?“ treffend das erste Kriterium: „Erwachsen werden heißt, die Ungewissheiten anzuerkennen, die unser Leben durchziehen, und – schlimmer noch – ohne Gewissheit zu leben, aber einzusehen, dass wir unvermeidlich immer nach ihr suchen werden.“1 Ungewissheit anzuerkennen bei gleichzeitigem Wissen darum, dass wir vollständige Gewissheit nie erlangen werden, ist schmerzhaft, führt aber zu einer realitätsbewussten und reifen Haltung. Wie Kinder können natürlich auch Erwachsene träumen, doch können diese Realität und Traum/Fiktion gut trennen, während Kinder bisweilen ganz in „ihrer eigenen Welt“ aufgehen.
Was es heißt, an Ungewissheit zu leiden, haben wir kollektiv in der Pandemie erfahren. So gab es erwachsenere Reaktionen wie etwa hoffend-nüchterne Gelassenheit angesichts einer nicht veränderbaren Lage, aber auch infantile Volten, die sich in teils hysterischer Aufregung bahnbrachen. Die Pandemie zeigte uns: Viele Menschen in unserem Land sind in dieser Hinsicht kaum „erwachsen“ zu nennen, da rationale Argumente (Schutz durch Masken und Impfungen) gegen individuell formulierte Dogmen (Negationen und Verharmlosung des Virus) nicht ankamen. So stellte eine kollektiv-gesellschaftlich geforderte Zähigkeit für viele bereits eine Unzumutbarkeit hinsichtlich ihrer individuellen Lebensführung dar – und brachte infantile Trotzreaktionen zu Vorschein: „Blöde Maske, menno, trag ich nicht!“
Ungewissheit, und damit gepaart vor allem auch Uneindeutigkeit, muss ein reifer Glaube ebenfalls aushalten – allem voran in Bezug auf einen Gott, der mal „schroff wie ein Fremder“ und mal „zart wie ein Freund“ wirkt, wie es ein Kirchenlied hervorhebt.2 Wie der Islamwissenschaftler Thomas Bauer in seinem vielzitierten Buch „Die Vereindeutigung der Welt“3 ausführt, sind die Religionen ein besonderer Ort, um „Ambiguitätstoleranz“ zu erlernen – also z.B. ein Sprachspiel verfolgen zu können, das mit mythischen Kategorien operiert (Schöpfungserzählung), ohne die rationalen Erkenntnisse (Urknall, Evolution) unberücksichtigt zu lassen. Das gilt es kognitiv wie emotional einzuordnen – und dann auszuhalten.
Eindeutigkeit, etwas „sicher wissen“, auf den Punkt definieren und darauf beharren, wirkt in der Theologie wie in allen Geisteswissenschaften und in der Gesellschaft sehr naiv und infantil. Ein tastendes Formulieren und eine gewisse Form des Eindeutigen (etwa mit Blick auf ein Glaubensbekenntnis) ist sicher wichtig, aber ein genaues „Bescheid Wissen“ en détail verräterisch. Erwachsen ist dagegen das Anerkennen der Realität, wie sie ist: ungewiss und uneindeutig, komplex und kompliziert. Es ist eher das leise säuselnde und nicht laut tönende Dogma im Paukenkonzert der Realität.
2. Erwachsener Glaube ist realistisch und idealistisch zugleich.
An dieser Haltung könnte man verzweifeln, wenn nicht zum Erwachsensein noch etwas anderes dazukäme. Noch einmal Susan Neiman: „Erwachsen sein heißt, nach besten Kräften in seinem Teil der Welt darauf hinzuwirken, den Idealen näherzukommen, ohne dabei aus den Augen zu verlieren, wie sie tatsächlich ist.“4 Aus dem Sehen der Realität resultiert ein Handlungsspielraum. Die Stoiker würden sinngemäß raten: Was in deiner Hand liegt, verändere! Alles andere: ertrage! Diese Unterscheidung zu vollziehen, um dann aktiv zu werden, kennzeichnet reifes und kluges Handeln.
In Glaubensfragen funktioniert es ähnlich, denn auch hier hebt sich die Realität oft meilenweit vom Ideal ab. Es wäre utopisch zu denken, jemand würde einer Glaubensgemeinschaft oder einer politischen Partei zu 100% folgen können. Selbst Päpste oder Kanzlerkandidat:innen sind nicht zu 100% deckungsgleich mit den Positionen ihrer Institution. Die eigene Realität, das eigene Ideal und das Ideal der Gemeinschaft stehen immer in Spannung zueinander. Diese Spannung auszuhalten und sich nicht in Extrempositionen wie Egoismus, Narzissmus oder übersteigerter Anpassung zu verlieren, ist eine tägliche Aufgabe. Jede/r muss schauen, wie er oder sie in dieser Triple-Spannung leben kann, sich einrichtet und sie erobert. Dies ist Arbeit – mühsame Arbeit – und ich befürchte, dass diese arbeitsreiche Seite an der Religion in einer in weiten Teilen infantil-selbstbezüglichen Gesellschaft für viele zu anstrengend erscheint. Religion macht das Leben zwar nicht besser, aber tiefgründiger – gerade auch durch diese Spannungen, die einem etwas abverlangen.
3. Erwachsener Glaube fußt auf Vertrauen und braucht dennoch Mut.
Zuletzt ist, wie schon angedeutet, die Entscheidung zum Erwachsensein essenziell. Für diesen Schritt heraus aus der Unmündigkeit in die Mündigkeit, die Verantwortungsübernahme für sich und ggf. andere, ist Mut erforderlich – denn Mut braucht es immer dort, wo Schmerz droht. Durch Schmerz entsteht Veränderung. Wenn etwa ein Kind beim Laufenlernen hinfällt, lernt es daraus und jegliche Versuche, das Kind vor Stürzen zu bewahren, hindern dessen weitere Entwicklung.5 Überbehüten ist kontraproduktiv und das Verlangen danach, sich immer „behütet zu fühlen“ ist zwar verständlich, aber wer nur in der Komfortzone verharrt, dem entgehen mitunter spannende Entwicklungsprozesse. Dass viele Menschen die Bundeskanzlerin als „Mutti“ bezeichneten, offenbart ein verstörend infantiles Selbstbild des Souveräns, der sich so bei dringend notwendigen gesellschaftlichen Veränderungsprozessen selbst im Wege steht. Erstaunlicherweise sind es erwachsen agierende Kinder, die bei den Fridays-for-Future-Protesten hier einen Weckruf versuchen.
Kinder trauen sich mit den Jahren immer mehr zu. Später werden sich viele von ihnen „trauen“ – die Eheschließung/Trauung ist für viele ein endgültiges Zeichen des Erwachsenseins, da man damit die Verantwortungsübernahme nicht nur für sich, sondern auch für andere ausspricht. Doch ist dieses „sich trauen“ kein einmaliges Moment, wie wir aus unseren Beziehungen lernen, sondern nur ein Meilenstein unter vielen tagtäglichen Mut-Proben, die Erwachsene überstehen müssen. Im Glauben ist ebenfalls vertrauender Mut gefordert: Der Riss, in dem man zwischen Ideal und Wirklichkeit sein Leben gestaltet6, kann auch Glaubensthemen berühren. Wie in einer Liebesbeziehung ist auch die Beziehung zu dem manchmal nahen, manchmal unfassbar fernen Gott eine Mut-Probe: Es ist mal ein Geborgensein, dann aber auch wieder eine Konfrontation und ein Aushalten, dem man nur mit einer guten Portion Treue, Zähigkeit, Ausdauer und im Letzten Liebe begegnen kann. Daran wächst der Mensch ebenso wie in den zwischenmenschlichen Zwistigkeiten. Dies sind die bereits erwähnten Wachstumsmomente für einen erwachsenen Glauben – und das ist nicht billig zu haben, sondern bedarf eines permanenten Zeit- und Ressourceninvests.
Ein Blick zurück nach vorn!
Warum also sollte man diese Ressourcen investieren? Die Antwort muss hier so individuell bleiben wie der persönliche Glaube. Das Erwachsenwerden ist ein Prozess, der anhält und sich auch nach Vollendung des 18. Lebensjahrs bis zu unserem Tod weiter hinzieht. Es ist ein Prozess der Reifung und ein Prozess, den man bewusst angehen muss. Heute ist die Versuchung leicht, die permanente Infantilität zu wählen, sich einzukuscheln und andere machen zu lassen, Verantwortung abzugeben an eine „Mutti“ oder (peinlicherweise) die verantwortungsvoller agierende Kindergeneration. Gesellschaftliche wie geistliche Reife meint einen Prozess, der von uns täglich Aktionen, Entscheide und angepasste Zielsetzungen erwartet. Das ist aber kein schlimmes Schicksal, wie man meinen könnte, sondern unsere conditio humana – unsere Bestimmung als Mensch qua Mensch-Sein. Ewige Ruhe und wirkliches „Einkuscheln“ ist etwas für die Ewigkeit und wir erfahren solche Momente der Ruhe und des Glücks in unserem Leben immer nur punktuell, können sie nicht festhalten. Es wäre wirklich kindisch zu glauben, irdisches Glück wäre ewig festhaltbar.
So schauen wir noch einmal auf den Bibeltext: Das „mit leeren Händen vor Gott stehen“7, das Bedürftige der Kinder und sicher auch das „Kleinwerden“ im Angesicht des Großen und Ganzen, die Demut, der Gehorsam gegenüber dem und das Angewiesensein auf den sorgenden Vater: Das ist letztlich das Ziel und der Vergleichspunkt im Jesuswort. „Wie ein Kind“ zu werden, bedeutet im Matthäusevangelium keine ewige Infantilität, sondern Vertrauen zu haben, seine Potenziale zu erkennen und zu entfalten. So können wir vertrauend und gelassen wie ein Kind unseren Weg gehen, reifer glauben und immer erwachsener werden. Oder wie es Paulus letztlich zusammenfasst: „Als ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind, dachte wie ein Kind und urteilte wie ein Kind. Als ich ein Mann wurde, legte ich ab, was Kind an mir war.“ (1 Kor 13,11)
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Text: Dr. Robert Mucha ist Theologe und Fachgebietsleiter für Philosophie und Religionen an der Münchner Volkshochschule.
Bild: Lukas Cranach der Ältere, Christus segnet die Kinder, 1538: https://commons.wikimedia.org/
- Susan Neimann, Warum erwachsen werden? Eine philosophische Ermutigung, Berlin 20174, 12. ↩
- GL 789: „Lieder der Hoffnung, Lieder der Klage“ (T: Hermann Josef Coenen; M: Heinz Martin Lonquich); Eigenteil Erzbistum München/Freising. ↩
- Thomas, Bauer, Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Stuttgart 2018. ↩
- Susan Neimann, Warum erwachsen werden? Eine philosophische Ermutigung, Berlin 20174, 19. ↩
- Vgl. Susan Neimann, Warum erwachsen werden? Eine philosophische Ermutigung, Berlin 20174, 15. ↩
- Schön bringt es wieder Neiman auf den Punkt: „Mut ist erforderlich, um mit dem Riss zu leben, der unser Leben durchziehen wird, mag es auch noch so gut sein. Ideale der Vernunft sagen uns, wie die Welt sein sollte; die Erfahrung sagt uns, dass sie selten so ist. Erwachsenwerden verlangt, sich der Kluft zwischen beidem zu stellen, ohne eines davon aufzugeben.“ Susan Neimann, Warum erwachsen werden? Eine philosophische Ermutigung, Berlin 20174, 18. ↩
- So etwa bei Peter, Dschulnigg, Art. Kind VI. Biblisch-theologisch; in: LThK 5 (2019), 1435. ↩