Im Krieg Russlands gegen die Ukraine manipuliert die Russische Orthodoxe Kirche gezielt die Vermittlungsversuche des Vatikan. Dies muss der Vatikan verhindern, indem seine Botschaften unmissverständlich werden. Eine Analyse von Thomas Bremer, Regina Elsner, Massimo Faggioli und Kristina Stoeckl.
In den zwei Monaten seit Beginn der russischen Invasion in die Ukraine hat die Russische Orthodoxe Kirche keine Gelegenheit ausgelassen zu betonen, dass der Vatikan in der Ukraine-Frage auf ihrer Seite stehe. Während die vatikanische Diplomatie und Papst Franziskus versuchen, Worte und Gesten zu finden, um auf den Krieg Einfluss zu nehmen – den sie offenbar als Ergebnis geopolitischer Interessenskonflikte zwischen Russland und den USA verstehen –, ist das Moskauer Patriarchat eifrig bemüht, den Vatikan als Verbündeten darzustellen. Alle Anzeichen, die auf das Gegenteil verweisen, werden beharrlich ignoriert. Der Blick auf folgende Ereignisse und Verlautbarungen macht das deutlich:
Das Moskauer Patriarchat ist eifrig bemüht, den Vatikan als Verbündeten darzustellen.
Als Papst Franziskus am 25. Februar, dem Tag nach Kriegsbeginn, den russischen Botschafter am Heiligen Stuhl aufsuchte, wurde dies im Westen einhellig als diplomatische Friedensinitiative wahrgenommen. Die russische Seite lieferte eine andere Interpretation und betonte, der Papst habe sich ausschließlich informieren wollen, was im Donbas und im Rest der Ukraine geschieht. Die wiederholten Aufrufe von Papst Franziskus zum Frieden in der Ukraine wurden von der Russischen Orthodoxen Kirche bisher als Unterstützung der zentralen russischen Kriegsbegründung interpretiert, dass der Frieden im Donbas durch ukrainische Extremisten bedroht sei und durch die russische militärische Spezialoperation wiederhergestellt werden müsse.
eine gemeinsame Sicht auf die wichtigen Probleme in der Welt?
Die Russische Orthodoxe Kirche machte sich auch den Besuch des päpstlichen Nuntius in Russland, Msgr. Giovanni D’Aniello, bei Patriarch Kirill am 3. März sowie die Videokonferenz zwischen Papst Franziskus und Patriarch Kirill am 16. März öffentlichkeitswirksam zunutze. Bilder beider Treffen wurden in russischen Staats- und Kirchenmedien mit der Nachricht verbreitet, der Moskauer Patriarch und der Vatikan hätten eine gemeinsame Sicht auf die wichtigen Probleme in der Welt: den notwendigen Schutz von traditionellen Werten, der Familie und von Religionsfreiheit. Außerdem nehme der Vatikan ebenso wie die ROC eine politisch neutrale Position ein.
Der Vatikan nehme ebenso wie die ROC eine politisch neutrale Position ein.
In den letzten Wochen wurde die Möglichkeit eines Treffens zwischen Papst Franziskus und dem russischen Patriarchen Kirill am 14. Juni in Jerusalem diskutiert. Am 22. April erklärte der Papst in einem Interview, der Heilige Stuhl müsse das Treffen absagen. Am selben Tag sagte Metropolit Ilarion vom Moskauer Patriarchat, das Treffen sei aufgrund der Ereignisse der letzten zwei Monate „verschoben“ worden, und konkrete Vorbereitungen hätten noch nicht begonnen.
In einer kürzlich erschienenen Veröffentlichung der Russischen Akademie der Wissenschaften wird die internationale Lage im Hinblick auf den Krieg in der Ukraine bewertet. Interessanterweise wird darin auch die katholische Kirche als politischer Faktor analysiert.
Der Autor beschreibt das Verhältnis zwischen dem Moskauer Patriarchat und dem Vatikan in der aktuellen Situation folgendermaßen: „Der Vatikan erlaubt, wie auch die ROK, den Führern von Nationalkirchen verschiedene politische Positionen zu vertreten, hält sich selbst aber aus dem Geschehen heraus.“ (hier, S. 174). Die Bitten von Mitgliedern der Ukrainischen Orthodoxen Kirche (die in Gemeinschaft mit dem Moskauer Patriarchat steht) an Patriarch Kirill, er solle sich bei Präsident Putin für sie einsetzen, werden so auf „verschiedene politische Positionen der Führer von Nationalkirchen“ reduziert und Kirills Taubheit gegenüber solchen Bitten wird als „Heraushalten aus dem Geschehen“ bezeichnet.
Papst Franziskus’ Aussagen bezüglich eines Endes des Blutvergießens werden als „eine relativ moderate Position im Vergleich zu den antirussischen Reden vieler europäischer Politiker“ interpretiert.
In der Veröffentlichung der Russischen Akademie der Wissenschaft werden Papst Franziskus’ Aussagen bezüglich Friedens und eines Endes des Blutvergießens als „eine relativ moderate Position im Vergleich zu den antirussischen Reden vieler europäischer Politiker“ interpretiert und die Rolle der katholischen Kirche wird hauptsächlich als verständnisvoll gegenüber der russischen Seite dargestellt.
Papst Franziskus selbst hat wenig getan, diese Sichtweise zu widerlegen, als er am 3. Mai in einem Interview mit der italienischen Tageszeitung Corriere della Sera die Frage aufwarf, ob „das Rütteln der NATO an Russlands Tor“ Putin zur Invasion der Ukraine genötigt habe und er angab, „der Konflikt in der Ukraine wurde von anderen ausgelöst“.
Die Russische Orthodoxe Kirche manipuliert bewusst und strategisch die Stellungnahmen und Aktionen aus dem Vatikan.
Kurz, all diese Beispiele zeigen, dass die Russische Orthodoxe Kirche bewusst und strategisch die Stellungnahmen und Aktionen, die aus dem Vatikan kommen, manipuliert, um den Eindruck zu erwecken, dass Papst Franziskus hinsichtlich des Krieges in der Ukraine auf der Seite von Patriarch Kirill sei. Selbst als der Papst in seinem Interview mit dem Corriere della Sera den Patriarchen als „Putins Messdiener“ bezeichnet hat, beschränkten sich die russischen Medien auf die Aussage, dass Franziskus Kirill „Bruder“ genannt habe. Außerdem stellt sich die Russische Orthodoxe Kirche selbst – Seite an Seite mit dem Vatikan – als zukünftige Friedenskraft dar: „Die Beziehungen zwischen der Russischen Orthodoxen Kirche und dem Vatikan können als gute Grundlage für die kommende Aufstellung einer Agenda zur Friedensschaffung um die ukrainische Krise dienen.“ (hier, S.177)
Die ausgleichende Politik des Vatikan führt zu ihrer Manipulation.
Wenn der Vatikan die Vereinnahmung seiner Positionen durch das Moskauer Patriarchat beenden will, sollten die Zuständigen zuerst anerkennen, dass eine solche Manipulation stattfindet und dass die ausgleichende Politik des Vatikans zu einer Instrumentalisierung durch die Russische Orthodoxe Kirche führt. Dabei genügt es keinesfalls, nur Erklärungen zu veröffentlichen, die den russischen Aggressionskrieg in der Ukraine klarer verurteilen, weil die russische Seite sie einfach ignorieren wird, ebenso wie sie auch die Stimmen ihrer eigenen Ukrainischen Orthodoxen Kirche ignoriert. Der einzige Weg, die Manipulation der Position des Vatikans durch die russischen Staats- und Kirchenmedien zu beenden, besteht darin, keine Handlungen und Aussagen mehr zu machen, die der russischen Propaganda dienen können, sondern nur noch sehr klare und unmissverständliche Erklärungen abzugeben.
Krieg in der Ukraine als Ergebnis eines geopolitischen Interessenkonflikts zwischen Russland und den Vereinigten Staaten?
Papst Franziskus scheint den Krieg in der Ukraine als Ergebnis eines geopolitischen Interessenkonflikts zwischen Russland und den Vereinigten Staaten zu interpretieren. Diese Sicht des Konflikts hat wichtige Defizite. Die Idee, dass Russland in der Ukraine ein legitimes nationales Sicherheitsinteresse verteidigt und dass die NATO angeblich dieses Interesse durch ihre Erweiterung verletzt hat, ist falsch. Sicherheit für wen? Jenes Russland, welches behauptet, Sicherheitsgarantien gegen die NATO-Erweiterung zu benötigen, kann in Wirklichkeit seit zwei Jahrzehnten keine Sicherheit, persönliche Unversehrtheit, Würde und Frieden für seine eigene Bevölkerung und für die Nachbarländer garantieren. Oppositionspolitiker, kritische Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft und normale Bürger werden eingeschränkt, unterdrückt und auch getötet.
die eigene Bevölkerung weiter unterdrücken und die Nachbarländer destabilisieren
Auch innerhalb der Russischen Orthodoxen Kirche wurden Proteste erstickt. Im Sommer 2019 haben einige Dutzend Priester der Russischen Orthodoxen Kirche einen Protestbrief gegen die brutale Verfolgung von friedlichen Demonstranten im Vorfeld der Moskauer Kommunalwahlen unterschrieben. Patriarch Kirill hat diesen Brief als Politisierung der Kirche verurteilt. Die Beispiele von Unterdrückung legitimer ziviler Proteste lehren uns, dass die Welt und insbesondere der Vatikan angesichts eklatanter Verletzungen der Rechte und der persönlichen Sicherheit russischer Bürger durch ihren Staat keine Ansprüche auf Sicherheitsinteressen als rechtmäßig akzeptieren dürfen. Der Kreml will keine Sicherheit vor der NATO-Erweiterung, um Frieden zu schaffen, sondern um die eigene Bevölkerung weiter unterdrücken und die Nachbarländer destabilisieren zu können.
sich gemeinsam mit allen orthodoxen Kirchen im Land darum bemühen, humanitäre Korridore zu ermöglichen oder Hilfsmittel in belagerte Städte zu bringen
In den letzten Wochen wurden die diplomatischen Bemühungen des Vatikans gegenüber Moskau nicht von einer entsprechenden Annäherung an die anderen orthodoxen Kirchen in der Region begleitet: die Orthodoxe Kirche der Ukraine mit ihrem Metropoliten Epifanij und die Ukrainische Orthodoxe Kirche (in Gemeinschaft mit dem Moskauer Patriarchat) mit ihrem Metropoliten Onufrij, der offen das Schweigen seines Patriarchen kritisiert hat. Der Heilige Stuhl sollte die Gelegenheit ergreifen und sich gemeinsam mit allen orthodoxen Kirchen im Land darum bemühen, humanitäre Korridore zu ermöglichen oder Hilfsmittel in belagerte Städte zu bringen. Er sollte informell und inoffiziell diejenigen Kräfte in der Ukrainischen Orthodoxen Kirche unterstützen, die sich von Moskau distanzieren. Der Heilige Stuhl muss den Ernst der pastoralen Situation in der Ukraine erkennen, wo orthodoxe Gläubige von einer brutalen Militäraggression durch ein Land betroffen sind, dessen Kirchenoberhaupt behauptet, diese Gewalt sei Teil ihrer Erlösung (nämlich von liberalen und demokratischen Werten), wie Patriarch Kirill es getan hat.
Der Heilige Stuhl riskiert, das ökumenische Projekt insgesamt zu beschädigen.
Darüber hinaus macht sich der Vatikan durch seinen ökumenischen Fokus auf die Hierarchie von einem Moskauer Patriarchat abhängig, das sogar in den Augen von Papst Franziskus selbst („Der Patriarch darf nicht Putins Messdiener werden.“) zutiefst kompromittiert ist. So riskiert es der Heilige Stuhl, das ökumenische Projekt insgesamt zu beschädigen und setzt seine eigene diplomatische Tradition und Autorität aufs Spiel. Wo sind Frieden, der Wert des Lebens und Wahrhaftigkeit in den jüngsten Aktionen von Patriarch Kirill? Er hat den Krieg in denselben Begriffen wie die russische Regierung gerechtfertigt, hat die russischen Soldaten zu einem Kampf gegen „böse Kräfte“ aufgerufen, hat der Nationalgarde eine Ikone für ihre Mission in der Ukraine gestiftet und diesen Krieg als einen dargestellt, in dem Russland das Opfer und nicht der Aggressor ist. Ein Vatikan, der den Dialog mit dieser Hierarchie fortsetzt und dabei alle anderslautenden Äußerungen der Russischen Orthodoxen Kirche diesseits und jenseits der Grenzen der Russischen Föderation ignoriert, sowie die autokephale Orthodoxe Kirche der Ukraine ausklammert, riskiert enormen Schaden am ökumenischen Projekt.
Hinter der Ökumene steht die Vorstellung, dass alle christlichen Kirchen ähnliche Ansichten über Frieden, den Wert des menschlichen Lebens und Wahrhaftigkeit haben. Schon seit einigen Jahren hat das Moskauer Patriarchat diese Werte einseitig sehr eng und ausschließlich im Rahmen traditioneller christlicher Werte ausgelegt. Seit der Mitte der 2010er-Jahre träumten das Moskauer Patriarchat und die christlichen Neokonservativen in den USA von einer „Heiligen Allianz“ von christlichen Kräften mit dem Vatikan, ein Traum, der von Papst Franziskus beendet wurde.
„Heilige Allianz“ oder eher „Ökumene des Hasses“?
Sein Pontifikat hat den Bruch mit dem neokonservativen Block in den USA ganz klar vollzogen. Im Jahr 2017 nannten der Jesuit Antonio Spadaro und Marcelo Figueroa, ein presbyterianischer Pastor, Herausgeber der argentinischen Ausgabe der Vatikanzeitung L’Osservatore Romano, solche Allianzen, die nur auf der Zurückweisung von Homosexualität, gleichgeschlechtlichen Ehen, Feminismus und Säkularisierung beruhen, eine „Ökumene des Hasses“. Papst Franziskus hat einige zentrale Institutionen im Vatikan so umstrukturiert, dass der Einfluss von konservativen Kulturkriegern stark eingeschränkt wurde.
Diese Art von Ökumene sollte vom Vatikan auch im Hinblick auf den Osten zurückgewiesen werden. Wenn Papst Franziskus sich zum Moskauer Patriarchat im Sinne einer Ökumene der Werte öffnet, riskiert er damit, diejenigen reaktionären Kräfte durch die Hintertür hereinzulassen, die er seit 2013 innerhalb seiner eigenen Kirche abzuwehren versucht hat.
Es fehlen wichtige Voraussetzungen für den Dialog.
Papst Franziskus setzt immer noch Hoffnungen auf den ökumenischen Dialog mit der gegenwärtigen Führung der Russischen Orthodoxen Kirche. Momentan fehlen jedoch wichtige Voraussetzungen für diesen Dialog: ein wirksamer Einsatz für den Frieden, den Wert menschlichen Lebens und für Wahrhaftigkeit. Die gezielte und strategische Manipulation von allen Botschaften, die aus dem Vatikan kommen, durch das Moskauer Patriarchat und russische Medien sollte alarmieren. Es ist nur schwer vorstellbar, dass echter ökumenischer Dialog und Gemeinschaft mit der Orthodoxie ohne ein Zeichen von Umkehr seitens der Führer der Russischen Orthodoxen Kirche wiederhergestellt werden kann. Wir verstehen und achten den langjährigen Einsatz von Papst Franziskus für Frieden und gegen Aufrüstung. Doch hinsichtlich der Situation in der Ukraine genügt die Berufung auf dieses Engagement allein nicht, weil es offensichtlich denen in die Hände spielt, die den Krieg unterstützen. Papst Franziskus muss klar machen, wo die katholische Kirche in Bezug auf die Ukraine steht.
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Der Text erschien am 5.5.2022 bereits auf italienisch: Il Regno, https://re-blog.it/2022/05/05/come-il-patriarcato-di-mosca-ha-arruolato-il-vaticano-nella-guerra/
Thomas Bremer lehrt Ökumenische Theologie, Ostkirchenkunde und Friedensforschung an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster.
Regina Elsner forscht als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) in Berlin zur sozialethischen Positionierung der Orthodoxie im postsowjetischen Osteuropa.
Massimo Faggioli lehrt Kirchengeschichte und Ekklesiologie an der Villanova University (Philadelphia, USA).
Kristina Stoeckl lehrt Soziologie an der Universität Innsbruck. Sie ist Autorin von Büchern und Aufsätzen über die Russische Orthodoxe Kirche in der postsowjetischen Zeit und leitet das Projekt „Postsecular Conflicts“ über die Rolle der Kirchen im Bereich der internationalen Politik und der Menschenrechte.
Bild: Regina Elsner