Rainer Bucher bespricht eine Neuerscheinung, die nachzeichnet, wie eine demokratische Gesellschaft auf die schiefe Bahn geriet: eine lohnende Lektüre nicht nur in historischer Absicht.
Über den Nationalsozialismus ist viel, sehr viel geschrieben worden. Und das mit Recht: Der „Zivilisationsbruch“ (Dan Diner), den die Jahre 1933—1945 für Deutschland und Europa bedeuten, hinterlässt immer noch Fassungslosigkeit ob der Tiefe, der tödlichen Konsequenz und der hohen gesellschaftlichen Zustimmung, mit der er betrieben wurde. Wissenschaft ist da auch der Versuch, den Horror wenigstens rückblickend zu verstehen. Natürlich gelingt das nicht wirklich.
„Zivilisationsbruch“ (Dan Diner)
Die Erforschung des Nationalsozialismus startete unter dem Eindruck der Katastrophe, die er hinterließ, also aus der Perspektive des Jahres 1945. Nach und nach wagte man, die nationalsozialistische Herrschaft mit Blick auf das Jahr 1933 zu betrachten: Was machte ihn so faszinierend für viele Deutsche? Warum folgten ihm Massen wie Eliten? Worin lagen seine Versprechen?
Michael Grüttners Werk, eine leicht überarbeitete Auskopplung des 2014 erschienen Bands 19 des Gebhardt, des renommierten „Handbuchs zur deutschen Geschichte“, geht einen mittleren Weg: Grüttner fragt unter dem abgewandelten Frisch-Titel, wie es dem Nationalsozialismus gelang, die deutsche Gesellschaft in ihrer ganzen Breite nach und nach nicht nur unter ihre Kontrolle, sondern zu wirklicher Gefolgschaft zu bringen.
Grüttner analysiert an der ganzen Breite der deutschen Gesellschaft – Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Wissenschaft, Medien, Sport, Kultur …, – wie Hitler und seine Führungscrew es Schritt für Schritt, klug und raffiniert, rechtlich zumeist abgesichert und in einer situativ je neu gewählten Mischung aus juristischen, politischen, basisbezogenen und medialen Operationen zwischen 1933 und 1939 schaffte, zum unumschränkten und hoch zustimmungsfähigen Herrscher Deutschlands zu werden.
… Schritt für Schritt, klug und raffiniert, rechtlich abgesichert und in einer Mischung aus juristischen, politischen, basisbezogenen und medialen Operationen.
Als dies geschah, so zeigt Grüttner überzeugend, im Zusammenspiel von ideologischen „Brandstiftern“, welche die anti-humanen, rassistischen Ziele des Nationalsozialismus aktiv vertraten, mit jenen „Biedermännern“ – und „Biederfrauen“ – , die ihre eigenen Sehnsüchte nach „Rückkehr zur Normalität“ und „Ruhe und Ordnung“ in die Brandstifter projizierten und zu spät merkten, dass sie damit andere, dann sich selbst, zuletzt alles verraten und verloren hatten. Hitler kam, das sollte man nie vergessen, nur durch ein Bündnis mit – von ihm bald dann ausgeschalteten – national-konservativen Kräften an die Macht.
Dass der Nationalsozialismus sich durchsetzen konnte, weil es seinen Gegnern an ideologischer, politischer wie konspirativer Bündnisfähigkeit mangelte, insofern sie die Gegnerschaften der Weimarer Zeit auch unter dem Nationalsozialismus nicht oder viel zu spät überwanden, war schon länger bekannt: Selten jedoch fand man es so eindrucksvoll beschrieben. Vor allem aber wird bei Grüttner deutlich, wie letztlich fragil und gefährdet demokratische Gesellschaften sind, wenn es autoritären politischen Eliten gelingt, relevante Teile der Bevölkerung zu überzeugen, dass bestimmte „humanitäre Liberalismen“, sprich: Menschenrechte, ausgesetzt werden müssten, wenn man anstehende Gefahren abwehren, Wohlstandsverlust vermeiden oder die „nationale Identität“ bewahren oder wiederherstellen möchte.
Den Gegnern mangelte es an ideologischer, politischer wie konspirativer Bündnisfähigkeit.
Wie in einem „Handbuch“ üblich, ist kaum etwas darin zu lesen, was in einschlägiger Fachliteratur nicht schon einmal geschrieben worden wäre. Aus zwei Gründen aber ist dieses Werk so ausgesprochen empfehlenswert: seiner Zuverlässigkeit und Breite als Überblicksdarstellung, vor allem aber wegen der Einblicke in die Mechanismen einer zuerst schleichenden, bald unaufhaltsamen Dehumanisierung einer vorher dem Humanismus verpflichteten Gesellschaft und der sie tragenden Kultur. In Zeiten, da das Konzept einer „nicht-liberalen, autoritären Demokratie“ wieder attraktiv wird in Europa, ist dies eine überaus lohnende Lektüre.
… machtpolitische Raffinesse Hitlers.
Grüttners Buch dokumentiert die machtpolitische Raffinesse Hitlers in der Übernahme der deutschen Gesellschaft. Es markiert freilich auch, wann und wo es entschiedenen Gegnern möglich gewesen wäre, den Nationalsozialismus zu stoppen: der innenpolitischen Opposition im Frühjahr 1933, wenn sie vereint gewesen wäre, den Westmächten zwischen 1935 und 1937, wenn sie das Fenster ihrer militärischen Überlegenheit ausgenutzt hätten, der Wehrmachtsführung bei Beginn der unmittelbaren Kriegsvorbereitungen 1938, wenn ihre Einsicht, dass ein Weltkrieg nicht zu gewinnen sein würde, sie dazu gebracht hätte, die durchaus vorhandenen Putschpläne in die Tat umzusetzen, wie es allein schon ihre militärische Verantwortung gewesen wäre. Nichts davon geschah. Es hätte geschehen können: Mehr Trost bleibt nicht.
(Text: Rainer Bucher; Bild: Buchcover)