Papst Franziskus beklagt, nicht nur bei seinem Besuch auf Lampedusa, eine „Globalisierung der Gleichgültigkeit“, wir haben uns an das Leiden der Anderen gewöhnt, es ist nicht unsere Sache. Ein/e Christ/in darf sich aber nicht aus der Verantwortung stehlen, glaubt Martin Wrasmann und plädiert für einen Haltungswechsel.
In der Arbeit mit geflüchteten Menschen erlebe ich in den letzten Monaten immer wieder starken Druck, die Konzepte und Schritte, die wir gehen, zu legitimieren. Dies vollzieht sich in besonderer Weise in der Gewährung von Kirchenasyl, das wir nun schon über 30 Jahre praktizieren, aber auch bei den Versuchen, Geflüchtete in den Arbeitsmarkt zu integrieren, weil die Arbeitsintegration immer unter dem Diktat der Nützlichkeit und nicht der Würde des Menschen steht. Wie sehr wünsche ich mir deshalb, dass wir zu Veränderungen in den Haltungen kommen, und eine Willkommenskultur ohne Zweckbestimmung, auf Augenhöhe gestalten. Schon in der Sprache selbst können sich Haltungsänderungen andeuten: 116 400 Menschen sind 2018 als Flüchtende in Deutschland angekommen, sie sind nicht nur das Problem, sie können auch angesichts der demographischen Entwicklung die Lösung sein. Es geht also nicht um eine Flüchtlingskrise, sondern um die Chance, Menschen mit oft fürchterlichen Schicksalen zu beheimaten. In der Frage der Moralität gibt es keine Obergrenze.
Wenn Theologie Wirklichkeit prägt.
Aus der Theologie heraus frage ich mich deshalb, wie kann Deutschland an diversen Orten sicherer Hafen sein. Einwanderer/innen – Flüchtlinge – Menschen mit Migrationshintergrund – das brennendste Thema, das seit vielen Jahren die Diskussion in unserem Land prägt. Mehr Fragen als Antworten aus Politik und vielen gesellschaftlichen Gruppen, die wir in diesen Zeiten erleben. Ratlosigkeit und Verunsicherung machen sich breit. Ich möchte den Versuch unternehmen, Ansätze für einen gemeinsamen Weg in die nähere Zukunft aufzuzeigen, um aus der Ratlosigkeit herauszukommen. Die Welt braucht keine Verdoppelung ihrer Ratlosigkeit durch Religion, sie braucht die Sprengkraft gelebten christlichen Glaubens.
Statt Ratlosigkeit die Sprengkraft des gelebten Glaubens.
Biblisch entdecke ich diese Sprengkraft bereits im Alten Testament: „Mein Vater war ein heimatloser Aramäer, er zog nach Ägypten, lebte dort als Fremder …“ (Dtn 26,5) So beginnt das Gebet, mit dem der Israelit vor den Altar tritt. Dass er inzwischen im Fruchtland am Jordan wohnt und Heimat von Gottes Gnaden gefunden hat, lässt ihn nicht vergessen, woher er kommt und aus welcher Geschichte erlebt. Er trägt das Nomadensein in sich. Stets neu wird er sich vor Gott bewusst, dass er unterwegs ist. Heimat im Sinne einer dauernden Bleibe ist seine tiefste Sehnsucht.
Das Alte Testament ist voll Auswanderungs- und Exilerzählungen. Das beginnt mit Abraham: „Zieh weg aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus …“(Gen 12,1) Israel wandert ins Exil nach Babylon. Kaum ein Volk ist durch das Unterwegssein so geprägt wie das alttestamentliche Gottesvolk. Und auf all diesen Wegen zwischen Aufbruch und Heimkommen, zwischen Fremde und Bleibe wird immer klarer, wer der wahrhaft rettende Gott ist: Jahwe selbst ist mit seinem Volk unterwegs.
Jahwe selbst ist mit seinem Volk unterwegs.
In diese Geschichte tritt Jesus ein. Sein Leben beginnt mit der Herbergssuche. Unterwegs kommt er zur Welt: „Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf …“(Joh 1,11) Schon bald muss er vor dem politischen Druck des Herodes nach Ägypten in Sicherheit gebracht werden. Er geht ins Exil. Jesus ist Zeit seines Lebens unterwegs gewesen von Ort zu Ort, oftmals auch auf der Flucht, verfolgt bis in den Tod.
Hereinforderungen!
Die Gemeinde Jesu, die in dieser Tradition steht, ist in besonderer Weise hereingefordert, auf Grund eben dieses Erbes. Unsere Hereinforderungen für die Fremden und Flüchtlinge erschöpfen sich deshalb nicht in moralischen Appellen, die von außen an uns herankommen und uns zur Wohltätigkeit mahnen. Es geht vielmehr um die christliche Identität. Wir dürfen die Fremden nicht abweisen, weil sie die Züge Christi in sich tragen: „Ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen.“ (Mt 25,35)
Es geht also um die Sprengkraft christlichen Glaubens. Der politische Diskurs ringt derzeit um die Machbarkeit des Möglichen: Obergrenzen, Integrationskurse, Befriedung der Herkunftsländer, etc. Sicherlich sind diese Diskurse dem sozialen wie öffentlichen Druck geschuldet, wie auch dringend notwendig. Dahinter liegt jedoch die entscheidende Frage: welches Bild von der Zukunft unserer Gesellschaft in den nächsten zehn Jahren verfolgen wir? Wie wollen wir zukünftig leben? Eine wesentliche Antwort auf diese Fragen finden wir in unserem gesellschaftlichen Grundkonsens: die Würde des Menschen ist unantastbar.
Cafe Aller
Um der Ratlosigkeit zu begegnen und der Würde gerecht zu werden, braucht es die kleinen Schritte, also den Primat der Praxis. In unserer Pfarrei haben wir mit dem Cafe Aller (das Cafe liegt tatsächlich direkt an der Aller) eine Begegnungs- und Beratungsstätte für Geflüchtete und Eingeborene geschaffen, in der Beziehung auf eben der theologisch geforderten Augenhöhe geschieht, verbunden mit einem Weltladen, um auch so die grundlegende Problematik von Flucht und Fluchtursachen anzugehen. In Sprachkursen, Gesprächen über Alltäglichkeiten, Spielstunden und politischen Diskursen wird damit dem Anspruch der Würde Ausdruck verliehen.
Da wir also von Gottes Art sind!
Die Unantastbarkeit dieser Würde liest sich auf der Klaviatur der christlichen Botschaft so: „Da wir also von Gottes Art sind!“ formuliert der Apostel diese Würde auf dem Areopag vor den Philosophen und Gelehrten der moralischen Hochburg Athen. Man erinnert sich sofort an den Kirchenvater Irenäus von Lyon, der 100 Jahre, nachdem Paulus auf dem Areopag war, gewissermaßen eine Zusammenfassung dieser Rede gibt: „Die Ehre Gottes ist der lebendige Mensch.“ Nicht im Tempel, sondern im lebendigen Menschen, vor allem in den Antlitzen der Armen, können wir Gott die Ehre geben. Die Ehre Gottes und die Würde des Menschen hängen untrennbar zusammen. Wenn Christen von Gott reden, erzählen sie von der Würde des Menschen; Eltern geben das Evangelium an ihre Kinder weiter, damit sie das Leben in Würde leben können. Genau deshalb ist der christliche Glaube nicht nur eine private Angelegenheit. Er ist die tiefste Reserve, die Wurzel der Moralität unserer Gesellschaft: „Da wir also von Gottes Art sind!“
Öffentlich glauben!
Vom Areopag aus geht ein breiter Strom des öffentlichen Glaubens durch die Geschichte des Christentums. Kein Kontinent ist von diesem Strom des Areopag so tief geprägt wie Europa. Die Bibel ist das Grunddokument der europäischen Gesellschaft, wie der Koran das Grunddokument der arabischen Länder. Ein Strom vom Areopag her: Dominikus, Katharina von Siena, Ignatius, Thomas Münzer, Bischof Ketteler, Martin Niemöller, bis hin zu Papst Franziskus, der öffentlich dem Kapitalismus widersteht: „Da wir also von Gottes Art sind!“
Abrahams Kinder
Ein wichtiger Schritt für den Zusammenhalt in unserer örtlichen Gesellschaft war die Gründung der muslimisch-christlichen KiTa „Abrahams Kinder“, in der muslimische und christliche Gemeinden einen Zwei-Religionen-Ort (zwei Religionen, weil es vor Ort keine jüdische Gemeinde gibt) geschaffen haben. Diese Einrichtung mit zwei christlichen und zwei muslimischen Erzieherinnen ist ein herausragendes Beispiel für eine Beweiskultur geworden, in der über Einübungen religiöser Vollzüge und Rituale sowie das Kennenlernen der jeweils anderen Religion Eltern und Kinder eine beziehungstiefe Art des Umgangs miteinander gefunden haben. Über die KiTa hinaus hat es eine hohe Annäherung der beiden Religionsgemeinschaften gegeben, was sich niederschlägt in interreligiösen Gottesdiensten, Vorträgen und einem großen Religionsgipfel.
Freundinnen und Freunde schiebt man nicht einfach ab.
Hier ist also die Meßlatte beschrieben: mit jeder Handlungstheorie und -praxis verknüpft ist die unaufgebbare Kategorie der Haltung. Ich mache immer wieder die Erfahrung: da, wo sich Menschen begegnen, wo sie mit Geflüchteten in Kontakt und Beziehung treten, ändern sich Einstellungen, Freundinnen und Freunde schiebt man nicht einfach ab. Übrigens eine Erfahrung, die nicht neu ist. Immer schon war die gelebte Solidarität die Kraftquelle für Veränderung. Denken Sie nur an die Jahre, in denen sich sowohl nach dem Zweiten Weltkrieg, also auch mit der Zuwanderung der Spätaussiedler/innen und der Flüchtlinge des Balkankrieges die soziale und kulturelle Kraft der Menschen unseres Landes gezeigt hat.
Da wurden die Kirchen zu sicheren Häfen, kulturell, sozial und religiös sowieso. Wir haben als Kirche damals wie heute u.a. Zusammenhalt über den Sport geschaffen und Fußballmannschaften gegründet. Das hat nicht nur Männer, sondern Familien zusammengeführt. Ein internationales Ensemble (Muslim/innen und Christ/innen) aus Geflüchteten, Migrant/innen des Balkankriegs und Hiesigen spielt regelmäßig in interreligiösen Gottesdiensten (manchmal auch in katholischen …) und interpretiert christliche Lieder auf dem Hintergrund ihrer eigenen Herkunft. Hier wird spürbar, wie Mystik und Politik miteinander verwoben sind.
Lobpreis und Widerstand!
Ich glaube fest daran, dass wir in Fragen der humanen und damit christlichen Ressourcen noch eine Menge Luft nach oben haben. Ja besonders nach oben, weil der Gott Jesu Christi nicht davon ablässt, gegen jede Form der Entwürdigung des Menschen aufzustehen. „Die Ehre Gottes ist der lebendige Mensch“ – daraus leiten sich zwei grundlegende Haltungsmaximen ab: Lobpreis und Widerstand. Sie ahnen, was ich meine und was uns hereinfordert. So können unsere Kirchen und andere Orte zu sicheren Häfen werden, in denen Menschen anlegen und neues Land betreten können. Wie sehr wäre es wünschenswert, wenn sich unsere Kirchen, auch in ihren Leitungen deutlicher in den öffentlichen Diskurs einbringen, in Wort und auch in politischer Entscheidung. Was für ein Signal, wenn endlich Schiffe unter der Flagge des Vatikans und der Evangelischen Kirche in Deutschland im Mittelmeer zur Seenotrettung aufbrechen würden. (Das Vorhaben steht bereits seit 2018 im Raum.)
Schiffe, Marktplätze, Häfen als eucharistische Orte.
Ob Marktplatz der Neuzeit oder Areopag: Die politische Öffentlichkeit ist ein heilsgeschichtlicher Ort, Ein heilsgeschichtlicher Ort? Es wird jenes Band von solidarischer Gemeinschaft und der Erfahrung der Gegenwart Gottes öffentlich erinnert. Oder theologisch reflektiert: wo wir uns, persönlich, kirchlich, sozial den Geflüchteten zuwenden, entsteht ein eucharistischer Ort – also ein Ort, der die Gegenwart des Herrn darstellt.
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Autor: Martin Wrasmann, 64 Jahre, Pastoralreferent in der katholischen Pfarrei St. Altfrid, Gifhorn, bis Ende letzten Jahres stellv. Leiter der Hauptabteilung Pastoral im Bistum Hildesheim. Schwerpunkte der seelsorglichen Tätigkeiten: Migrationsarbeit, interreligiöser Dialog, Ökumene, ländliche Pastoral.
Bild: Martin Wrasmann