Ob religiöse Gemeinschaften in modernen Gesellschaften als Belastung und vormodernes Relikt empfunden werden, wird nicht erst in der Zeit der Corona-Pandemie diskutiert. Carolin Hillenbrand geht dieser Frage der gesellschaftlichen Rolle von Religion nach und gewährt uns Einblicke in ihre Forschung.
Religion als „Kitt“ in unserer Gesellschaft?
Die Worte „Zusammenhalt“ und „Solidarität“ sind fast schon omnipräsent: in den Medien, auf Plakaten, unter Hashtags, im normalen Alltagsgespräch – oder auch in den Botschaften wichtiger Entscheidungsträger:innen: „Was ist eigentlich der Kitt, der Kitt, der unsere Gesellschaft im Kern zusammenhält?“, fragte unser Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Antrittsrede 2017. Und Bundeskanzlerin Merkel betonte im Oktober 2020 unter den Vorzeichen der Corona-Pandemie: „Jetzt zählt Achtsamkeit und Zusammenhalt“.
Gibt Religion Hoffnung und Halt?
Gleichzeitig werden Spannungen, Proteste und die Verbreitung von Verschwörungsnarrativen sichtbar. Dabei taucht auch die Religion jetzt in Pandemie-Zeiten immer wieder auf der Bildfläche auf. In der Öffentlichkeit wird über mögliche Gottesdienstfeiern diskutiert, über spirituelle Bedürfnisse der Menschen und inwieweit ihr Glaube ihnen in unsicheren Krisenzeiten Hoffnung und Halt geben kann. „Kontingenzbewältigung“ – lautet hier der Fachbegriff in der Religionssoziologie. Kontingent ist das, was „möglich, aber nicht notwendig ist“. Es geht um tief menschliche, existentielle Fragen nach dem Warum und Wozu des Lebens. Insbesondere negative Kontingenzerfahrungen von Leid, Ungerechtigkeit, Krankheit und Tod werden jetzt in der globalen Pandemie stärker präsent. Kann die Religion das halten, was sie verspricht – den Menschen helfen, mit diesen Erfahrungen umzugehen? Ist sie dabei ein verbindendes Element zwischen den Gesellschaftsmitgliedern oder eher ein spaltendes?
Beim gesellschaftlichen Zusammenhalt geht es um Beziehungsqualitäten
Vor dem Hintergrund dieser aktuellen, gesellschaftspolitischen Ereignisse soll darauf geschaut werden, welche Rolle die Religion für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland während der Corona-Pandemie spielt. Um dies zu beantworten, ist zunächst zu klären, was sich hinter den beiden Konstrukten „Gesellschaftlicher Zusammenhalt“ und „Religion“ verbirgt und wie sie sich empirisch erfassen lassen. „Gesellschaftlicher Zusammenhalt“ wird weitgehend als ein Merkmal von Gesellschaften verstanden, welches sich in den Beziehungen ihrer Mitglieder manifestiert: einerseits Beziehungen zwischen Bürger:innen untereinander (horizontale Ebene) und andererseits Beziehungen zwischen Bürger:innen und Staat (vertikale Ebene). Doch an welchen konkreten Inhalten lässt sich jetzt der Zusammenhalt festmachen? Hier können vier Kerndimensionen ausgemacht werden:
1) Der Zusammenhalt in einem Land wird am Ausmaß des Vertrauens erkennbar: zum einen inwieweit sich die Menschen untereinander vertrauen – und zum anderen inwiefern sie den staatlichen Institutionen Vertrauen schenken wie der Bundesregierung, der Verwaltung, usw.
2) Für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist ein Zugehörigkeitsgefühl entscheidend, d. h. wie stark sich die Menschen untereinander verbunden fühlen – und inwieweit sie sich mit der Gesellschaft als Ganzes identifizieren.
3) Der Zusammenhalt lebt von einer gewissen Verantwortungsbereitschaft der Gesellschaftsmitglieder. Diese drückt sich sowohl durch Solidarität und Hilfsbereitschaft im Alltag aus – als auch durch die Beachtung der gesetzlichen Regeln des Zusammenlebens.
4) Die vierte Zusammenhalt-Dimension ist das Engagement: das soziale Engagement (z.B. in Vereinen oder NGOs) – sowie das politische Engagement (z.B. in Parteien oder durch die Beteiligung an Wahlen).
Je höher diese vier Dimensionen in einem Land ausgeprägt sind, desto stärker – davon geht die Kohäsionsforschung aus – ist dort der Zusammenhalt.
Religion – believing, belonging, behaving
Wie lässt sich nun die „Religion“ empirisch messbar machen?
In unserer Studie liegt der Fokus auf der Mikroebene, d. h. der Religiosität als Merkmal von Individuen, definiert als deren Haltung gegenüber dem Übernatürlichen bzw. Transzendenten. Wie kann sich das konkret ausdrücken? Hierfür lassen sich drei zentrale Dimensionen benennen – die drei berühmten „B’s“:
1) „Belonging“ betrifft die Religionszugehörigkeit, z. B. zum Judentum, Islam, Christentum, usw.
2) „Believing“ umfasst die Intensität der Religiosität sowie konkrete Glaubensinhalte und Gottesbilder.
3) „Behaving“ bezieht sich sowohl auf die private religiöse Praxis (z. B. Gebetshäufigkeit) als auch auf die soziale religiöse Praxis (z. B. Gottesdienstbesuch).
Eine empirische Studie
zu Religion und Zusammenhalt
Die beschriebenen Religion- und Zusammenhalt-Dimensionen haben wir am Exzellenzcluster „Religion und Politik“ an der WWU Münster – in Kooperation mit dem „Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt“ (FGZ) in Leipzig – im Rahmen einer nicht-repräsentativen Online-Studie untersucht.[1] Zwischen Juli 2020 und Januar 2021 haben insgesamt 2.346 Personen teilgenommen.
Was sind nun die zentralen Ergebnisse der Studie?
Da Religion Kitt und Keil sein kann, möchte ich etwas Licht in diese Ambivalenz bringen und näher betrachten, welche konkreten Glaubensinhalte und Glaubenspraktiken eher als „Kitt“ oder aber als „Keil“ fungieren.
Auf der einen Seite bergen folgende Religiositätsformen Spaltungspotential:
– Personen mit einem exklusivistisch-abgrenzenden Glaubensverständnis, d. h. die ihre eigene Religion als die einzig akzeptable erachten, vertrauen ihren Mitmenschen sowie den öffentlichen Institutionen in der Corona-Zeit weniger, zeigen eine geringere Solidarität, halten sich weniger an die gesetzlichen Regeln und engagieren sich weniger politisch.
– Die Glaubensüberzeugung, dass die eigene Religion im Falle eines Widerspruchs mit der Wissenschaft im Recht sei, geht mit einem geringeren Institutionen-Vertrauen, schwächerem sozialen und nationalstaatlichen Zugehörigkeitsgefühl sowie geringerer Regelbeachtung einher.
– Gläubige mit einer intensiven privaten Gebetspraxis vertrauen den politischen Institutionen weniger, fühlen sich weniger mit ihren Mitmenschen verbunden und legen eine unterdurchschnittliche Solidarität, Regelbeachtung und soziale Einsatzbereitschaft an den Tag.
Religion matters
Auf der anderen Seite zeigen folgende Religiositätsformen „Kitt“-Potential:
– Menschen, die häufiger an Gottesdiensten teilnehmen, vertrauen ihren Mitmenschen stärker, verhalten sich im Alltag solidarischer und engagieren sich stärker sozial.
– Bei Personen mit einem liebenden, gütigen Gottesbild sind starke, positive Zusammenhänge mit sozialem Vertrauen, zwischenmenschlicher Verbundenheit, solidarischem Verhalten sowie sozialem und politischem Engagement erkennbar. Gläubige mit einem richtenden bzw. strafenden Gottesbild zeigen ebenfalls ein überdurchschnittliches politisches Engagement und zudem ein höheres Institutionen-Vertrauen sowie eine größere institutionelle Verantwortungsbereitschaft.
– Die Zugehörigkeit zu einer Religion entfaltet in der Regel positive Wirkungen: Im Vergleich zur Referenzgruppe der Konfessionslosen weisen beispielsweise die befragten Katholik:innen, Protestant:innen aus den Landeskirchen sowie Muslim:innen ein höheres Institutionen-Vertrauen und nationalstaatliches Zugehörigkeitsgefühl sowie eine größere institutionelle Verantwortungsbereitschaft auf.
„So what“? Was können uns diese Ergebnisse insgesamt sagen?
Es wird deutlich, dass die Religion tatsächlich einen Unterschied in der deutschen Gesellschaft macht – kurz gesagt: „religion matters“. Damit Religion einen positiven Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenhalt leisten kann, ist jedoch entscheidend, was und wie die Menschen glauben. Gerade in Krisenzeiten kann eine persönliche Gottesbeziehung den Gläubigen Halt und Hoffnung geben und sie zu Vertrauen, Solidarität und Engagement motivieren. Dabei kann vor allem eine soziale religiöse Praxis „brückenbildend“ sein – denn: Über die Einbindung in religiöse Gemeinschaften und dort stattfindende Interaktionen werden Werte und Normen vermittelt, aber auch eigene Weltvorstellungen immer wieder hinterfragt und diskutiert. Im Gegensatz dazu bergen eine rein privat gelebte Frömmigkeit und insbesondere exklusive Glaubensvorstellungen gesellschaftliches Spaltungspotential.
Best Practice – Beispiele
religiöser Beiträge zum gesellschaftlichen Zusammenhalt
Abschließend möchte ich „Best Practice“ Beispiele nennen, wie Religion konkret zum gesellschaftlichen Zusammenhalt beitragen kann. Das „Haus der Religionen“ in Bern (Schweiz) z. B. schafft sowohl Raum für die Entfaltung der einzelnen religiösen Traditionen als auch gemeinsame Orte der Begegnung „unter einem Dach“. Die internationale Fokolar-Bewegung setzt sich weltweit für „Einheit in der Vielfalt“ ein, inspiriert von einer einfachen, verbindenden Alltagsspiritualität und intensiv gelebter Beziehungen. Darüber hinaus bringt die internationale Jugendbewegung „Coexister“ (vor kurzem auch in Deutschland als eingetragener Verein registriert) Menschen unterschiedlicher Glaubensvorstellungen und Weltanschauungen zusammen. Sie ermöglicht gegenseitiges Kennenlernen und Verständnis füreinander. So trägt sie z. B. über Solidaritätsaktionen und Dialogveranstaltungen zu Intergruppen-Freundschaften, sozialem Frieden und gesellschaftlicher Kohäsion bei.
___
Autorin: Carolin Hillenbrand, Studium der Politikwissenschaft und Theologie in Mainz, Südafrika und Heidelberg (Master of Arts), wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Exzellenzcluster „Religion und Politik“ an der WWU Münster, dort Leiterin der aktuellen Corona-Studie (zu Religion, gesellschaftlichem Zusammenhalt und Verschwörungstheorien).
Zur Teilnahme an der Studie: https://umfrage.ivv1.uni-muenster.de/corona-umfrage2020/
Foto: Gabriel Crismariu / unsplach.com
[1] Die Fallauswahl nicht auf einem Zufallsprinzip basiert, sondern ein Online-Teilnahmelink wurde breit gestreut. Höher gebildete Personen mittleren Alters, Westdeutsche sowie religiöse Menschen sind etwas überrepräsentiert im Vergleich zu den realen Bevölkerungsverhältnissen in Deutschland.