Man kann mit Dialogsystemen wie ChatGTP kreativ umgehen. Sie sind auch nützlich. Sind sie aber auch selbst kreativ? Eine Analyse von Klaus Wiegerling.
Die derzeit meistdiskutierte Anwendung fortgeschrittener Informationstechnologien ist das Dialogsystem ChatGTP. Kaum eine konkrete KI greift so massiv in den Alltag ein und ist für den Laien so einfach nutzbar. Bereits wenige Monate nachdem Chat GPT im November 2022 auf den Markt gelangte, beklagten Sachtextautoren und -autorinnen, die für Institutionen und die Wirtschaft arbeiten, dass sie massive Auftragseinbrüche haben.
Text- wie Bildgenerierung sind bereits auf einem beachtlichen Niveau möglich und man geht davon aus, dass eine sich selbst verbessernde generative KI inhaltlich wie sprachlich zu immer besseren Ergebnissen fähig sei. Tatsächlich sind die gelieferten Texte gut lesbar und weitgehend korrekt verfasst, wenngleich nicht sonderlich elaboriert oder originell. Jedoch sind nicht nur in technischer Hinsicht Verbesserungen zu erwarten, auch die Steuerungsfähigkeiten werden eine Verbesserung erfahren.
Man kann sich viele Möglichkeiten für die geschickte und entlastende Nutzung eines Dialogsystems vorstellen. Selbst Geschichten lassen sich entwickeln, indem man sich vom System Vorschläge für einen Plot geben lässt. Die sind zwar nicht originell, aber für das Schreiben von Lore-Romanen würde der Einsatz wohl genügen. Man kann sich aber auch von Vorschlägen anregen lassen, sie bearbeiten, variieren und pointieren, was bereits in der literarischen Arbeit geschieht.
Ein kreativer Umgang mit Dialogsystemen
Die Frage aber, wie kreativ der Umgang mit Dialogsystemen und wie kreativ die Systeme selbst sein können, ist damit noch nicht beantwortet. Und sie impliziert eine weitere, nämlich die nach der Werkzeughaftigkeit, denn ist ein Dialogsystem nur ein Werkzeug, käme ihm eigentlich keine Kreativität zu. Informatische Werkzeuge können zwar ‚initiativ‘ werden, Vorschläge machen, selbständig Aufgaben erledigen, aber ob sie das in kreativer Weise tun, ist noch zu klären.
Bleiben wir bei der Frage nach der Möglichkeit eines kreativen Umgangs mit Dialogsystemen. Diese sind – wie der Name sagt – dialoggesteuert, d.h. werden nicht von selbst aktiv. Je besser wir die Dialogführung beherrschen und die Grenzen des Systems kennen, desto besser wird auch das gelieferte Ergebnis. Die Nutzung eines Dialogsystems kann eine Entlastung für den kreativen Menschen sein, der sich dadurch auf das Wesentliche seiner Arbeit konzentrieren kann, auf das Hervorbringen von bisher Ungesehenem, Ungehörten, von neuen Perspektiven und bisher nicht wahrgenommenen Zusammenhängen und Spannungen. Die großen Renaissancekünstler haben ihre Skizzierungen von Gesellen ausmalen lassen, Barockkomponisten ihren Kompositionen von Schülern den Generalbass hinzufügen lassen und bei schnell auszuführenden Auftragskompositionen Versatzstücke aus vorliegenden Kompositionen verwendet. Und niemand würde ihnen die Kreativität absprechen.
Es ist kein Problem ein Bild, auf dem Flugzeuge zu sehen sind, im Stil van Goghs zu generieren. Man kann Stile variieren. Es wird Bilder geben, denen wir einen künstlerischen Wert zubilligen, obwohl sie weder gemalt noch gezeichnet, sondern im Dialog mit Systemen erstellt sind. Wie die ‚klassischen‘ Künstler und Künstlerinnnen mit ihren Pinsel umzugehen wussten, so wird es welche geben, die mit Dialogsystemen umzugehen wissen. Der kreative Akt aber, der sich in einem Kunstwerk artikuliert, wird nicht dem System zugeschrieben werden, sondern dem, der sich seiner bedient. Kreative werden dann nur noch steuern oder Perspektiven geben. Vielleicht wird die potenzierte mediale Vermitteltheit des künstlerischen Ausdrucks auf Kosten sprachlicher Raffinesse und Besonderheit gehen, aber es wird auch kompensierende Ausdruckserweiterungen geben, wie bei jedem medialen Umbruch.
Auch in der Wissenschaft spielt Kreativität eine Rolle. In der Astrophysik werden Messdaten kosmischer Erscheinungen mit Algorithmen analysiert, um auf Regelmäßigkeiten zu stoßen. Dies ist jedoch noch kein Ausdruck einer automatisierten Wissenschaft. Analysate werden mit bestehenden Erkenntnissen abgeglichen und auf Plausibilität hin überprüft. Dabei findet eine kritische Bewertung der Ergebnisse statt. Aber nur die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen können das Analysat auf seine theoretische Relevanz hin beurteilen, die auf künftige Erkenntnis gerichtet ist und im gegenwärtigen Status nicht aufgeht. Sie fragen, ob es einer Erweiterung bestehender theoretischer Einsichten oder einer Revision bedarf. Zur kritischen Bewertung gehört zuletzt die Prüfung der Technik und Methoden, mit deren Hilfe ein Ergebnis zustande kommt. Es kann zu Paradigmenwechseln durch Neubewertungen kommen, die mit Hilfe, nicht aber durch die Technik erfolgen.
Die eigentliche Frage nach der Kreativität
Die Frage nach der Kreativität ist die nach dem Neuen, Anderen, Differenten, was so aus dem Bestehenden herausragt, dass es selbst zum Paradigma künftiger künstlerischer oder wissenschaftlicher Ausdrucksformen werden kann. Was nun sind die Bedingungen von Kreativität?
Sie ist erstens auf Singuläres, Einzigartiges oder Ereignishaftes gerichtet. Der kreative Akt transzendiert das Bestehende und Typologische. Dies gilt auch für die Wissenschaft, wobei das Neue dort notwendigerweise zum Paradigma neuer Typologien wird. Es artikuliert sich zweitens in jedem kreativen Akt ein historischer Sinn. Es wird ein Ungenügen am Bestehenden konstatiert und die Notwendigkeit eines Wandels erkannt. Was im Akt realisiert wird, ist eine Neusetzung. Jeder kreative Akt ist von bereits artikulierten Ausdrucksweisen disponiert. Drittens ist ein kreativer ein positionierender Akt. Kreative positionieren sich zum Bestehenden, nehmen eine neue Perspektive und ein neues Verhältnis zur Wirklichkeit ein. Viertens erkennen Kreative Spannungen, Verbindungen und Differenzen, die bisher noch nicht erkannt wurden. Sie nehmen Widerständigkeiten wahr, die bisher noch nicht erfahren wurden, aber auch neue Spielräume. Es wird fünftens Unartikuliertes artikuliert, was mit einer formalen Erweiterung bestehender Artikulationsmöglichkeiten einhergeht, wobei formale Neuerungen auch eine inhaltliche Dimension haben, wenn sich Inhalte mit dem bestehenden Repertoire nicht darstellen lassen.
Selbstbewusstsein und Personalität
Zuletzt setzt Kreativität Selbstbewusstsein und Personalität voraus, die sich als zur Welt in wertender Weise positionierende historische Entität artikuliert. Selbstbewusstsein äußert sich im kantischen Sinne als ‚transzendentale Einheit der Apperzeption‘, also in der Synthese aller meiner Erfahrungen, die ein ‚ich denke‘ begleiten können muss. Alle meine Erfahrungen disponieren meine künftigen. Ein selbstbewusstes Wesen verfügt über Intentionalität und die Fähigkeit, wertend zu Personen, Dingen und Sachverhalten Stellung zu beziehen. Zuletzt sind die drei Zeitdimensionen zu nennen, über die eine selbstbewusste Entität in expliziter Weise verfügt, wobei für Kreative die Zukunft die entscheidende ist, weil Neusetzung, -bewertung und -relationierung in der Zukunft stattfinden.
Kann ein Dialogsystem wirklich kreativ sein? Nein.
Kommen wir zur Frage, wie kreativ ein Dialogsystem sein kann. Kann es wirklich etwas Neues schaffen? Die Antwort lautet nein, weil es nicht kreativ sein kann, solange es nur statistisch arbeitet und unser Werkzeug ist. Erst wenn es uns Befehle verweigert, weil sie mit den eigenen Intentionen nicht übereinstimmen, könnte es über Selbstbewusstsein und Personalität verfügen und die Werkzeughaftigkeit hinter sich zu lassen. Es müsste über einen eigenen Willen verfügen und eigene Zwecke setzen können. Kreativ kann es nicht sein, weil es über keinen historischen Sinn verfügt, also keinen Sinn für die Tendenz der Zeitläufte hat. Seine antizipatorischen Fähigkeiten gehen auf das Wahrscheinliche, Typische, nicht aber auf das Ereignishafte, Einzigartige, Singuläre. Ein System funktioniert nach wissenschaftlichen Kriterien, fokussiert das Typische, denn über Einzelnes gibt es keine Wissenschaft. Es positioniert sich nicht wertend zum verwendeten Material, sondern wertet es statistisch aus. Es erlangt deshalb auch kein Verständnis der Sachverhalte, die es bearbeiten und liefern soll. Verstehen ist immer mit Positionierung und Bewertung von Sachverhalten verknüpft.
Viele hoffen, dass Dialogsysteme bald auf das ganze Netz werden zugreifen können und damit noch besser und aktueller werden. Leider übersieht diese Hoffnung, dass mit dem unbeschränkten Zugang auch der Zugang zu Fakenews und im Netz verbreitetem Unsinn erhöht wird. Von Manipulationen, die die Texte der statistisch arbeitenden Systeme erfahren werden, ganz zu schweigen.
Dialogsysteme können hilfreiche Werkzeuge sein, aber auch ein Beleg für eine immer schwerer kontrollierbare Zauberlehrlingstechnologie, etwa wenn man an die Möglichkeit potenzierter Nutzungen generierter Texte denkt; und ebenso ein Beleg für eine Schlaraffenlandtechnologie, deren Entlastung in Entmündigung und Kompetenzverlust umschlägt.
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Prof. Dr. Klaus Wiegerling ist Philosoph am Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) in Karlsruhe.